Vorlesen
Thema

Einsamkeit macht krank

15.09.2023 Seite 12
RAE Ausgabe 10/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 10/2023

Seite 12

©  photobac/istockphoto.com
Menschen sind soziale Wesen. Fehlt der Kontakt zu anderen Menschen, wirkt sich das auf Dauer negativ auf die physische und psychische Gesundheit aus. Besonders alte Menschen sind gefährdet, unter Einsamkeit zu leiden. Ärztinnen und Ärzte sollten auf Warnsignale achten und Hilfe anbieten.

von Jürgen Brenn

Einsamkeit, soziale Isolation und Alleinsein sind Begriffe, die im Alltag oftmals synonym verwendet werden, allerdings meinen sie doch unterschiedliche Dinge. Bei der Veranstaltung „Niemanden allein lassen – gemeinsam in die Zukunft“, die im Rahmen der Fortbildungsreihe „Der ältere Mensch“ Mitte August im Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft stattfand, erläuterte Professor Dr. phil. Maike Luhmann die Unterschiede. Die Dekanin der Fakultät für Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum und Einsamkeitsforscherin sagte, dass „Alleinsein“ ein freiwilliger Zustand sei und von den Menschen als angenehm empfunden werde. Auch die „soziale Isolation“ sei nicht unbedingt negativ konnotiert, selbst wenn darunter der objektive Mangel an sozialen Beziehungen verstanden werde. „Einsamkeit“ dagegen sei ein als schmerzhaft empfundener subjektiver Mangel an gewünschten sozialen Beziehungen. Dabei komme es weniger auf die Zahl der sozialen Beziehungen an, sondern vielmehr auf deren Qualität.

Zahlreiche Risikofaktoren

„Einsamkeit“ sei eine Empfindung und keine Krankheit, es gebe auch keine Diagnosekriterien, betonte Luhmann. Daher sei unklar, ab wann jemand als einsam gelte. Konsens sei, dass besonders häufig über 80-Jährige von Einsamkeit betroffen sind. Vor der Coronapandemie fühlten sich zwischen sechs und zehn Prozent der älteren Menschen fast immer oder immer einsam. Manchmal einsam fühlten sich sogar 15 bis 30 Prozent, wie Untersuchungen ergaben.
 
Nach Ansicht des Ärztlichen Direktors und Vorstandsvorsitzenden des Universitätsklinikums Düsseldorf, Professor Dr. Frank Schneider, wird das Thema Einsamkeit im Alter an politischer Bedeutung zunehmen, da sich der Anteil der über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung stetig steigert. Diese Menschen seien von Einsamkeit besonders bedroht, da zum Beispiel Lebenspartner, Freunde und Bekannte vielfach bereits verstorben seien, ihre Mobilität abnehme oder auch Armut sie daran hindere, am sozialen Leben teilzunehmen. Psychologin Luhmann nannte weitere Risikofaktoren für Einsamkeit wie eine introvertierte Persönlichkeit oder emotionale Instabilität, aber auch ein Migrationshintergrund, geringes Einkommen, Arbeitslosigkeit, keine feste Partnerschaft oder einschneidende Lebensereignisse wie etwa die Trennung von einem Partner oder der Tod eines nahestehenden Menschen könnten Auslöser für eine Lebensphase sein, in der man sich einsam fühlt. Weniger eindeutig könne aus wissenschaftlicher Sicht gesagt werden, ob das Geschlecht oder das Alter einer Person eine Rolle spiele. Auch habe man bislang keine systematischen Unterschiede zwischen Stadt und Land gefunden. Ob Menschen sich einsam fühlen, hänge mit der Entfernung zum nächsten Oberzentrum, der Entfernung zu Parks, Sport- und Freizeiteinrichtungen oder mit der Fußgängerfreundlichkeit einer Ortschaft zusammen, so die Psychologin.
 
„Psychische Gesundheit braucht sozialen Austausch“, sagte Schneider. Fehlende soziale Kontakte könnten krank machen. Sechs Prozent der unter 80-Jährigen älteren Menschen litten an Depressionen. Bei Menschen, die über 80 Jahre alt sind, liege der Anteil bei 15 Prozent, so Schneider. Einsamkeit könne, besonders wenn das Gefühl längere Zeit anhalte, allgemein zu einem ungesunden Lebensstil oder verringerter Stress-Resistenz führen, ergänzte Psychologin Luhmann. Neben psychischen Leiden könnten auch physische Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Schlaganfälle von Einsamkeit begünstigt werden. 

Teufelskreis der Einsamkeit

„Einsamkeit ist ein Signal wie Hunger“, sagte Luhmann. Viele Menschen reagierten darauf, indem sie aktiv soziale Kontakte suchten. Gelinge dies nicht, könne Einsamkeit chronisch werden und eine Negativspirale in Gang setzen. Viele Betroffene entwickelten ein Gefühl der Bedrohung und lebten mit erhöhter Vigilanz. „Man wird vorsichtiger“, so Luhmann. Auch würden die Begegnungen mit anderen Menschen zunehmend negativ interpretiert, was zur Folge habe, dass sich die Betroffenen immer weiter zurückziehen oder feindselig auf andere Menschen reagierten. Ein Teufelskreis, den die einsamen Menschen nur schwer ohne Hilfe durchbrechen könnten, so Luhmann. Als wichtigste Gegenmaßnahme nannte die Wissenschaftlerin die Veränderung kognitiver Muster bei den Betroffenen mittels psychotherapeutischer Methoden. Allerdings sei Einsamkeit im sozialrechtlichen Sinne keine Indikation für eine Therapie. Einsame Menschen seien nicht im klinischen Sinne krank. Dennoch gebe es entsprechende Programme, die oftmals nicht wissenschaftlich evaluiert seien, schränkte Luhmann ein.

Vor allem Ärztinnen und Ärzte sollten sensibel auf Warnhinweise bei ihren Patientinnen und Patienten reagieren, zumal das Thema von Betroffenen aus Scham oft nicht angesprochen werde, sagte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, Dr. Frank Bergmann. Hilfreich könne dabei die „UCLA Loneliness Skala“ sein, ein Fragebogen zum Erkennen des Schweregrades von Einsamkeit, so Bergmann.
 
Besser sei es gegenzusteuern, bevor man in eine Abwärtsspirale der Einsamkeit gerate. Dabei könnten zum Beispiel Sport und Bewegung eine zentrale Rolle spielen. „Kann man der Einsamkeit davonlaufen?“, fragte der niedergelassene Allgemein- und Sportmediziner Dr. Michael Fritz auf der Düsseldorfer Veranstaltung. Sport wirke sich positiv auf Körper und Geist aus und steigere sowohl das Selbstwertgefühl als auch die Selbstwirksamkeit. „Sportler sind vernetzt gegen Einsamkeit“, sagte Fritz und appellierte an die Ärztinnen und Ärzte, viel häufiger auch ihren älteren Patienten Sport „zu verordnen“.

Neben Bewegung sei auch die richtige Ernährung im Alter ein wichtiger Faktor, um sich wohl zu fühlen, sagte der niedergelassene Allgemein- und Ernährungsmediziner Urs Schaden. Allerdings seien ältere Menschen eine sehr heterogene Gruppe. Manche seien aktiv, andere wenig mobil oder sogar bettlägerig. Daher träfen allgemeingültige Referenzwerte bei älteren Menschen selten auf den Einzelfall zu. Er empfahl, Ernährungszustand und -gewohnheiten von älteren Patientinnen und Patienten zu erheben und auf dieser Grundlage individuelle Empfehlungen abzugeben. Dabei müsse berücksichtigt werden, dass bei älteren Menschen ein BMI von 24 bis 29 als Normalgewicht gelte. Da häufig ein Vitamin D Mangel festgestellt werde, sollte dieses unterstützend gegeben werden, so der Ernährungsmediziner.

Auch das Wohnumfeld ist ein Faktor, um Einsamkeit vorzubeugen. Universitätsdirektor Schneider wies auf ein Ergebnis der Studie „Hohes Alter in Deutschland (D80+)“ hin, wonach 35 Prozent der Menschen in Pflegeheimen sich einsam fühlten, aber lediglich zehn Prozent, die zuhause leben. Allerdings sind nur zwei bis drei Prozent der Wohnungen barrierefrei, sagte Susanne Tyll von der Landesarbeitsgemeinschaft Wohnberatung NRW. Das Risiko für ältere Menschen sei groß, infolge von Stürzen in der häuslichen Umgebung nicht mehr in die eigenen Wohnung zurückkehren zu können. In diesen Fällen müsse auch die stationär-ambulante Versorgungskette besser funktionieren und Angehörigen müsse die nötige Unterstützung angeboten werden, um den alten Menschen zu ermöglichen, weiterhin in den eigenen vier Wänden wohnen zu können, betonte Dr. Harald Brauer vom Landesverband der Alzheimer-Gesellschaften Nordrhein-Westfalen.

Für ein positives Bild vom Alter warb Bernd Zimmer, Vizepräsident der Ärztekammer Nordrhein und Hausarzt mit geriatrischem Schwerpunkt, bei den rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltung. „Ich freue mich, dass ich hier und heute nicht alleine bin“, sagte Zimmer mit Blick auf die zahlreichen Professionen, die das Thema ins Haus der Ärzteschaft gelockt hatte, darunter Ärztinnen und Ärzte, Psychologische Psychotherapeuten, Medizinische Fachangestellte sowie Vertreterinnen und Vertreter der Pflegeberufe.

Informations- und Unterstützungsangebote

Alle Artikel aus der Reihe "Der ältere Mensch"