Die Gesellschaft in Deutschland wird immer älter und dank medizinischem Fortschritt steigt auch der Anteil der betagten und hochbetagten Menschen im Land. Politik, Wissenschaft und die Gesellschaft müssen Antworten auf diese Entwicklung finden. Bereits jetzt sollten sich die medizinischen, pflegerischen und rehabilitativen Fachberufsgruppen auf eine „Gesellschaft des langen Lebens“ einstellen.
von Jürgen Brenn
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Zwischen 1990 und 2018 stieg die Zahl der Menschen in Deutschland, die älter als 67 Jahre waren, um 54 Prozent von 10,4 auf 15,9 Millionen, wie das Statistische Bundesamt mitteilt. Bis ins Jahr 2039 kommen weitere fünf bis sechs Millionen hinzu. Die Zahl der über 80-Jährigen wird im kommenden Jahr auf 6,2 Millionen steigen und bis ins Jahr 2050 auf bis zu 10,5 Millionen anwachsen, schätzen die Statistiker. Allgemein werde die Lebenserwartung wie in der Vergangenheit dank der Fortschritte in der medizinischen Versorgung, Hygiene, Ernährung sowie aufgrund der verbesserten Arbeitsbedingungen und des größeren Wohlstands weiter steigen. Jungen, die heute geboren werden, können sich im Durchschnitt auf 78,6, Mädchen sogar auf 83,4 Lebensjahre freuen. In den kommenden 40 Jahren, so schätzen die Statistiker, kommen weitere vier bis acht Lebensjahre obendrauf.
Die Kennzahlen des demografischen Wandels zeigen vor allem, dass „wir uns auf eine Gesellschaft des langen Lebens“ vorbereiten müssen, sagte Bernd Zimmer, Vizepräsident der Ärztekammer Nordrhein, auf einem Online-Kongress der Fortbildungsreihe „Der ältere Mensch“ am 23. Juni. Unter dem Titel „Selbstbestimmung und Selbstständigkeit“ hatte die Ärztekammer zu der Fortbildung eingeladen, die knapp 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im virtuellen Raum besuchten. Zimmer sagte, jeder Mensch müsse sich damit auseinandersetzen, wie mit dem Altern und den damit einhergehenden Phänomenen umgegangen werden soll. Neben der Selbstreflektion forderte er die Professionen im Gesundheitswesen auf, sich auf die zunehmende Zahl hochbetagter Patienten vorzubereiten. Vieles habe sich im Laufe der Jahre bereits gewandelt, allerdings müssten alle Fachberufsgruppen, die mit alten Menschen zu tun haben, wie etwa Ärzte, Pflegekräfte, Psycho- oder Physiotherapeuten, „Nahtstellen schaffen statt Schnittstellen zu managen“.
Das Wissen um das Altern und das Leben im Alter sollte überall vertreten sein, so Zimmer.
Chronische Erkrankungen und Multimorbidität
Professor Dr. phil. Dipl.-Psych. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, wies darauf hin, dass sich das Altern nicht in Sprüngen vollzieht, sondern einen kontinuierlichen Prozess darstellt. Der körperliche und geistige Zustand alter und hochbetagter Menschen habe sich im Laufe der Zeit verändert. Würden aufeinanderfolgende Alterskohorten betrachtet, werde deutlich, dass „das Altern Veränderungen unterliegt“, so Kruse.
„Wir können einen morphologischen Wandel in den Alterskohorten beobachten“. Die alten Menschen von heute verfügten über einen besseren Gesundheitszustand sowie über eine deutlich höhere funktionelle und kognitive Kompetenz als die alten Menschen vor 40 oder 60 Jahren, sagte Kruse. Das Altern von früher dürfe allerdings weder disqualifiziert noch diskriminiert werden, so der Wissenschaftler: „Früher war das Alter ein anderes.“ Vor diesem Hintergrund müsse sich die Gesellschaft beispielsweise fragen, ob die älteren Menschen auch nach Eintritt in den Ruhestand eine größere aktive Rolle im gesellschaftlichen Leben und beim ehrenamtlichen Engagement spielen und ihre Lebenserfahrung in die Gesellschaft einbringen sollten. Gleichzeitig müsse sich die Gesellschaft vermehrt darauf einstellen, dass aufgrund der steigenden Lebenserwartung die Zahl der Menschen mit chronischen Erkrankungen und Multimorbidität eine bedeutendere Rolle spielen wird. Die neurokognitiven Erkrankungen wie beispielsweise Demenz nähmen zu, prognostizierte Kruse.
„Wir haben auf der einen Seite ein beachtliches kognitives Potential und auf der anderen Seite eine medizinische und rehabilitative Herausforderung durch die multimorbiden und chronisch erkrankten hochbetagten Menschen. Darauf muss sich die Medizin der Zukunft einstellen“, so Kruse.
Gutes statt gelingendes Altern
Mit Blick auf den steigenden Anteil älterer und hochbetagter Menschen in den Krankenhäusern forderte die Landespatientenbeauftragte in Nordrhein-Westfalen, Claudia Middendorf, dass sich die Krankenhäuser „sensibel“ machen müssten für den Umgang mit diesen Patientinnen und Patienten. Die Krankenhäuser müssten sich fragen, was multimorbide und eventuell auch kognitiv eingeschränkte alte Patienten während ihres Aufenthalts und danach benötigen. Auf dieser Basis müssten der Umgang mit Angehörigen, das Entlassmanagement und auch die Nachsorge kritisch hinterfragt werden. Ziel sei das „geriatrische Krankenhaus“, so Middendorf. „Wir benötigen eine Patientenbegleitung, sprich Assistenzkräfte für hochbetagte Menschen, damit diese sich im Krankenhaus zurechtfinden“, erklärte die Patientenbeauftragte. Im Mittelpunkt müssten stets der ältere Mensch, dessen Bedürfnisse und Selbstständigkeit stehen. Das Gesundheitssystem müsse Alten und Hochbetagten dort Hilfe anbieten, wo diese nötig sei, damit die Menschen selbstständig bleiben könnten oder ihre Selbstständigkeit wiedererlangten, forderte die Diplom-Pädagogin.
Professor Dr. Dominik Groß, Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen stellte die Frage in den Raum, welches Bild vom Altern in der Gesellschaft vorherrscht. Im Grunde bestimmten zwei Stereotype die öffentliche Bühne. Entweder werde Altern als Lebensphase gesehen, die von Degeneration, Gebrechlichkeit, Krankheit und der Abhängigkeit von Hilfe und Fürsorge anderer gekennzeichnet sei, oder das Alter werde positiv verklärt. Es werde als Geschenk gesehen und mit Ungebundenheit sowie dem Wegfall beruflicher, sozialer und innerfamiliärer Verpflichtungen assoziiert. Groß erläuterte, dass in der Wissenschaft grob gesprochen drei Modelle für „gelingendes“ Altern existierten, die sich „mehr oder weniger stark am Ziel der Gesundheit als Teil der seniorenbezogenen Alterspolitik orientieren“. Die Modelle stellten die Gesundheit in den Mittelpunkt und gingen davon aus, dass dieses Ziel durch gesundheitsbewusstes Verhalten – sowohl physisch als auch psychisch – erreicht werden könne. Dabei würden allerdings Bildungsunterschiede sowie unterschiedliche soziale und vor allem finanzielle Ausgangslagen innerhalb der Gruppe der alten Menschen nicht ausreichend berücksichtigt, kritisierte Groß. „Von den Menschen mit den wenigsten Ressourcen zur Adaption wird der größte Wandel erwartet“, sagte Groß. Die Modelle seien schlicht keine Hilfe für diejenigen, die nicht „gelingend altern“ und stünden im Widerspruch zur Vielfalt von Lebensentwürfen und -geschichten in einer pluralen Gesellschaft, in der die Unterschiede in Lebenserwartung und -standards tendenziell wachsen, sagte der Medizinethiker. Groß stellte den Modellen des „gelingenden Alterns“ acht Komponenten entgegen, die zu einem „guten Altern“ beitragen. Dazu zählte er nach dem Modell der Wissenschaftler Hans-Jörg Ehni und Selma Kadi aus dem Jahr 2020 beispielsweise eine offene und tolerante Gesellschaft, eine intakte Umwelt sowie Selbstbestimmung, wozu das Achten persönlicher Wünsche gehöre. Neben den äußeren, zum Teil nur schwer beeinflussbaren Komponenten könne allerdings jeder etwas für ein „gutes Altern“ tun. Denn auch die innere Einstellung des älteren Menschen sei ein wichtiger Aspekt, so Groß. Man müsse sich Offenheit und Neugier auf die Welt bewahren, Gelassenheit entwickeln, mit sich und dem sozialen Umfeld versöhnt sein und sich vor allem seinen Humor bewahren.
Die Dokumentation ausgewählter Vorträge sowie der Videomitschnitt der Veranstaltung sind im Internet zu finden unter www.aekno.de/dokumentenarchiv/aekno.
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