1. Grundlagen der Kommunikation
1. Grundlagen der Kommunikation
Kommunikation ist allgegenwärtig. Da wir laufend miteinander kommunizieren, nehmen wir an, dass wir darüber ausreichend Bescheid wissen. Allerdings ist die Diskrepanz zwischen alltäglicher Erfahrung und Wissen gerade bei der Kommunikation besonders groß.
Es gibt drei verschiedene Formen von Kommunikation:
- Face-to-Face-Kommunikation als sprachliche und nichtsprachliche Kommunikation zwischen Anwesenden, die vielfältige Interpretation und unmittelbare Rückmeldung ermöglicht.
- Schriftlich und medial vermittelte Kommunikation zwischen Nichtanwesenden, die Zeit- und Raumgrenzen überwindet (Briefe, Telefon, E-Mails, Facebook usw.). Dabei kann es eine Antwortmöglichkeit geben, das breite nonverbale Spektrum einer Information fällt aber mehrheitlich weg.
- Massenmediale und öffentliche Kommunikation über Radio und Fernsehen, die in der Regel keine Antwort ermöglicht und an ein anonymes Publikum gerichtet ist.
Das Arzt-Patienten-Gespräch, wie wir es heute verstehen, ist Ergebnis einer sich seit dem 17. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert erstreckenden Entwicklung der Arzt-Patienten-Beziehung. Es ist eine typische Face-to-Face-Kommunikation; dazu zählen auch Alltagsgespräche, sachbezogene Kurzgespräche, ein Gedankenaustausch oder ein Konfliktgespräch zwischen zwei Personen, Arbeitsgespräche, Diskussionen oder Auseinandersetzungen in einer Gruppe sowie Frage-Antwort-Sequenzen. Gerade in den vergangenen Jahren haben wir eine enorme Ausweitung im Einsatz vor allem internetbasierter Kommunikationsangebote für Patientinnen und Patienten erlebt. Ihr Vorteil ist, dass viele Menschen oder Betroffene mit im Prinzip gut recherchiertem Material in Kontakt kommen könnten. Potenziell von Nachteil ist es, wenn diese Form der ‚Ansprache‘ das persönliche Gespräch ersetzt.
Die Face-to-Face-Kommunikation unterliegt folgenden Bedingungen und Einflussfaktoren:
- Personale Bedingungen wie Temperament, Interesse, Motivation, Kompetenz in Kommunikationssituationen, physische Kommunikationsfähigkeit, Ängste und Einstellungen, Befindlichkeit und so weiter.
- Situationsmerkmale wie die Qualität der Beziehung, die gemeinsame Basis zwischen den Gesprächspartnerinnen und -partnern, der Kommunikationsanlass an sich beziehungsweise das Ziel des Gesprächs, aber auch räumliche Verhältnisse, Anwesenheit Dritter.
- Kontextbedingungen wie die Anregung und Unterstützung durch das Umfeld oder Werte und Normen der Gesellschaft.
Kommunikation entwickelt sich zur Interaktion, sobald das Gehörte, Gesehene oder Geschrie-bene interpretiert wird und Feedback möglich ist, wie etwa bei einem Gespräch zwischen Arzt / Ärztin und Patient / Patientin.
„Ich muss erst die Antwort hören, um zu wissen,
was ich gesagt habe“,
hat Norbert Wiener (1894 bis 1964), Mathematiker und Begründer der Kybernetik, einst notiert. Interaktion beziehungsweise zwischenmenschliche Kommunikation kann niemals als einseitige, mechanische und stabile Informationsübertragung betrachtet werden, denn mit der Aufnahme von Informationen aus der Umwelt selektieren wir diese nach unseren eigenen Bedingungen und Werten und verarbeiten sie aktiv weiter, bevor und während wir darauf reagieren. Zwischenmenschliche Kommunikation ist also aktives Handeln – ob verbal oder nonverbal.
Literatur
- Atzel A. et al. (Hrsg.): Praxiswelten. Deutsches Medizinhistorisches Museum, Ingolstadt 2013.
- Nünning A., Zierold M.: Kommunikationskompetenzen. 4. Auflage. Klett, Stuttgart 2011.
- Six U., Gleich U., Gimmler R. (Hrsg.): Kommunikationspsychologie. Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim 2007.
1.1. Theorien und Modelle
Es gibt verschiedene gängige Theorien zur Kommunikation, die aufzeigen können, wie sich zwischenmenschliche Kommunikationssituationen abspielen und wie sich die Individuen wechselseitig beteiligen.
Die Theorien lassen sich grob unterscheiden in solche, die Kommunikation als einen Prozess ansehen, bei dem zwischen A und B Material hin und her vermittelt wird, und solche, die Kommunikation als einen Prozess ansehen, der die einzelnen Protagonistinnen und Protagonisten in ein gemeinsames Geschehen einbindet, zu dem alle Beteiligten beitragen.
Die erste Kategorie gleicht einem Tennismatch: Die Interagierenden stehen sich wie Tennis-spielende auf beiden Seiten des Netzes gegenüber und spielen Bälle, bestehend aus verbalen Äußerungen und nonverbalen Botschaften, hin und her. In der zweiten Kategorie geht es mehr um die Atmosphäre, die diese Interaktion verbreitet, ohne konkrete Zuschreibung zu einer Person – sie entspräche dem, was ‚in der Luft liegt‘, wenn man sich als Besucherin oder Besucher von Wimbledon dem Central Court nähert, ohne dass man genau weiß, wer gegen wen spielt.
Typischer Vertreter der ersten Kategorie ist der deutsche Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun. Von ihm stammt das Zitat:
„Wir reden immer zugleich mit vier Zungen
und hören mit vier Ohren.“
Jede Nachricht hat demnach vier mögliche Bedeutungs- und Verstehensebenen:
- Selbstkundgabe (Was ich von mir selbst kundgebe),
- Beziehungshinweis (Was ich von dir halte und wie wir zueinanderstehen),
- Appell (Wozu ich dich veranlassen möchte) und
- Sachinhalt.
Typische Probleme in der Kommunikation entstehen dadurch, dass der Empfänger die Freiheit hat, die Botschaft auf einem Ohr seiner Wahl zu verstehen, was nicht immer der Intention des Senders entspricht. Missverständnisse ließen sich vermeiden, wenn nicht nur das Gesagte, sondern auch die eigene Intention dahinter deutlich würde.
Auf den österreichischen Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick geht die Behauptung zurück, dass in jeder Form der Kommunikation ein Sachaspekt und ein Beziehungsaspekt miteinander verschränkt sind. Jede Kommunikation enthält nicht nur eine Information, sondern auch einen Hinweis, wie der Sender seine Botschaft verstanden haben will und wie er seine Beziehung zum Empfänger sieht, also eine Interpretation.
Diese Aussage ist eines seiner fünf Axiome zur Kommunikation:
- Man kann nicht nicht kommunizieren.
- Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt.
- Kommunikation ist immer Ursache und Wirkung.
- Menschliche Kommunikation bedient sich analoger und digitaler Modalitäten.
- Kommunikation ist symmetrisch oder komplementär.
Gerade für die Kommunikation im Gesundheitswesen ist sein letztes Axiom wesentlich, in dem er darauf hinweist, dass Kommunikation nicht immer symmetrisch ist (wie bei ausgeglichenen Machtverhältnissen), sondern dass sie auch komplementär verläuft, wenn große Unterschiede zwischen den Beteiligten bestehen. Kontextfaktoren entscheiden darüber, in welcher Rolle die beiden Interagierenden sich begegnen; Patientinnen und Patienten sind zum Beispiel bei der körperlichen Untersuchung als Erduldende in der weniger mächtigen Rolle, sie verhalten sich komplementär zu den Bedürfnissen von Ärztinnen und Ärzten und können zwei Stunden später als Controllerinnen und Controller im Krankenhaus den Ärztinnen und Ärzten als ähnlich Mächtige gegenübertreten.
Literatur
- Schulz von Thun F.: Miteinander reden 1 – Störungen und Klärungen. Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg 1981.
- Watzlawick P., Beavin J., Jackson D.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Huber-Verlag, Bern 2000.
1.2. Ziele der Kommunikation
Die beiden Wissenschaftler Bird und Cohen-Cole haben im Jahr 1990 ein Modell vorgeschlagen, um die Ziele der Kommunikation zwischen Arzt / Ärztin und Patient / Patientin zu beschreiben.
Das Modell umfasst drei Ziele:
- Daten gewinnen;
- Patientinnen und Patienten informieren;
- auf die Gefühle von Patientinnen und Patienten eingehen.
Andere Modelle fokussieren eher auf übergeordnete Ebenen. Entsprechend werden die Ziele umformuliert (z. B. das Modell von Lazare, Putnam & Lipkin, 1995):
- eine Beziehung entwickeln, beibehalten und abschließen;
- die Art des Problems identifizieren und im Verlauf überwachen;
- Vermitteln von Informationen an Patientinnen und Patienten sowie Behandlungspläne
implementieren.
Beim Vergleich dieser beiden frühen Modelle wird deutlich, dass sich Ziele auf ganz unterschiedlichen Niveaus definieren lassen. Das Ziel „Daten gewinnen“ lässt sich durch Beobachtungen von Ärztinnen und Ärzten verifizieren, die in der Lage sind, mehr oder weniger vollständige Anamnesen zu erheben. Ähnliches gilt für das dritte Ziel im Modell von Bird und Cohen-Cole, das sich wiederum durch die Beobachtung konkreten ärztlichen Verhaltens verifizieren lässt, wann immer Patientinnen und Patienten unmittelbar oder nur indirekt über ihre Gefühle sprechen. Im Modell von Lazare et al. wird die Bedeutung der Beziehung zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin hervorgehoben, die sich Beobachtenden nicht zwingend erschließt, sondern sich letztlich nur aus der Perspektive beider Interaktionspersonen beschreiben lässt.
Jenseits dieser Modelle lässt sich patientenzentrierte Kommunikation (patient-centred communication; PCC) zu einer einfachen Maxime verdichten: Kommuniziere so, dass sich ein Gegenüber (Patientinnen und Patienten oder Angehörige) eingeladen fühlt, seine Sichtweise darzustellen. Diese Definition impliziert nicht, dass eine Fachperson immer patienten-zentriert kommunizieren sollte; sie lässt Raum für Begegnungen, in denen das Gegenüber seine Position nicht offenlegen will, sondern zum Beispiel nur um eine Dienstleistung bittet („Könnten Sie mal den Blutdruck messen?“). Dann macht es durchaus Sinn, dass die Fachperson – sofern dies medizinisch vertretbar ist – schlicht und ergreifend die gewünschte Dienstleistung erbringt, ohne sich um die psychischen oder sozialen Belange einer Patientin oder eines Patienten aktiv zu kümmern.
Wenn die Maxime der patientenzentrierten Gesprächsführung für alle Begegnungen gilt, wird sie Fachpersonen und Patienten/Patientinnen überfordern. Die Forderung, sich im Sinne des Bio-Psycho-Sozialen Modells für psychische und soziale Belange von Patientinnen und Patienten zu interessieren, muss auf die Bereitschaft der Betroffenen treffen, sich zu diesen Aspekten zu äußern. Wenn patientenzentrierte Gesprächsführung in Interventionsstudien als Goldstandard definiert wird, ohne dass Patientinnen und Patienten dies ausdrücklich wünschen, sind die Ergebnisse vorhersehbar mager. Anders sieht es aus, wenn spezifische Gruppen von Patientinnen und Patienten, zum Beispiel solche mit einer fortgeschrittenen Herzinsuffizienz, in Entscheidungen eingebunden wurden. Dann sind Elemente der patientenzentrierten Gesprächsführung mit positiven Outcomes vergesellschaftet.
Literatur
- Bird J., Cohen-Cole S. A.: The three-function model of the medical interview. An educational device. Adv Psychosom Med. 1990; 20: 65–88.
- de Haes H., Bensing J.: Endpoints in medical communication research, proposing a framework of functions and outcomes. Patient Educ Couns. 2009; 74: 287–94.
- Kinmonth A. L. et al.: Randomised controlled trial of patient centred care of diabetes in general practice: impact on current wellbeing and future disease risk. BMJ. 1998; 317: 1202–8.
- Lazare A. et al.: Three Functions of the Medical Interview. In: Lipkin M., Lazare A., Putnam S. M. (Hrsg.): The Medical Interview: Clinical Care,
- Teaching and Research. Springer-Verlag, New York 1995, S. 3–19.
- Miller W., Rose G.: Toward a Theory of Motivational Interviewing. Am Psychol. 2009; 64: 527–37.
1.3. Wahrnehmung und Gestaltung der kommunikativen Situation
Der amerikanische Psychologe Gordon Allport hat bereits im Jahre 1935 postuliert, dass menschliches Verhalten nicht so sehr von objektiven Stimulusbedingungen beeinflusst wird, sondern von der Art und Weise, wie die Person eine Situation subjektiv wahrnimmt und sie interpretiert.
Diese Interpretation einer Situation – wie jene einer zwischenmenschlichen Kommunikation zwischen Arzt / Ärztin und Patient / Patientin – beruht auf den Stimulusgegebenheiten und den Vorerfahrungen, den Zielen und Absichten, die wir in die Situation hineintragen. Die Wahrnehmung einer Situation ist das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses: Als Beobachtende einer Situation schließen wir aus scheinbar getrennten und begrenzten externen Informationen auf Zusammenhänge, die aufgrund unserer vorhandenen Informationen nicht notwendigerweise begründbar sind.
Konstruktion von Wirklichkeit
Menschen bilden Hypothesen über die Bedingungen von vergangenen und aktuellen Situationen und treffen Vorhersagen über zukünftige Ereignisse. Menschen konstruieren sich also vor dem Hintergrund bereits gemachter Erfahrungen ihre eigene, für ihr Handeln praktikable emotionale und kognitiv ausgestaltete Wirklichkeit. Diese individuellen Wirklichkeitskonstruktionen – bestehend aus Motiven, Handlungsgründen, Einstellungen, Vorstellungen über gesellschaftliche Werte und Normen – bilden den individuellen Hintergrund für die Kommunikation. Beim unmittelbaren Zusammentreffen mit anderen Menschen probieren Einzelne ihre Wirklichkeitskonstruktionen aus, prüfen, ob sie passen, und konstruieren sie möglicherweise neu. Zudem treffen Menschen aus jeweils verschiedenen kulturellen Kontexten mit unterschiedlichen Auffassungen (Bedeutungen) über den Ablauf von Handlungen aufeinander.
Einstellungen als Entscheidungselemente
Einstellungen haben eine zentrale Funktion bei der Organisation kognitiver Prozesse. Sie beziehen sich auf Personen, auf Objekte, Situationen sowie auf Sachverhalte. Sie enthalten positive oder negative Bewertungen und sie sind relativ überdauernd und verhaltenswirksam. Menschen treffen ständig auf andere Menschen, Objekte und Situationen, die sie wahrnehmen und in den bereits vorhandenen Wissensbestand einordnen.
Unlustvermeidung
In diesem Zusammenhang ist der Begriff der kognitiven Dissonanz wichtig. Damit wird ein innerer Spannungszustand beziehungsweise ein Unlustgefühl bezeichnet, das entsteht, wenn Gesprächsteilnehmende mit widersprüchlichen Informationen im Kommunikationsprozess konfrontiert werden. Gemäß Festingers Theorie besteht im Individuum eine starke Tendenz, nicht miteinander übereinstimmende kognitive Elemente zu vermeiden, also die erlebte kognitive Dissonanz zu reduzieren. Dabei ergibt sich die Stärke des Drucks beziehungsweise der Motivation zur Dissonanzreduktion aus der Stärke der erlebten Dissonanz. So kann es sein, dass Patientinnen und Patienten Gespräche mit Ärztinnen und Ärzten möglichst meiden, weil bestimmte Spannungszustände vermieden werden sollen: Sind zum Beispiel Patientinnen und Patienten überzeugt, die idealen Diagnosen für ihre Leiden (selbst) gefunden zu haben, werden sie dem Druck des Umfeldes, sich von Ärztinnen und Ärzten untersuchen zu lassen, möglicherweise großen Widerstand leisten.
Die Menschen sind offenbar bestrebt, sich ein Bild von der Wirklichkeit zu konstruieren, das möglichst widerspruchsfrei oder konsistent ist; beziehungsweise wir suchen jene Umwelten auf, die uns in unseren Annahmen bestätigen.
Kommt es zu kognitiver Dissonanz, sind verschiedene Verhaltensweisen möglich, um damit umzugehen. Das beschriebene Verhalten ist dabei abhängig von Komponenten wie Sicherheit, Einstellung gegenüber Veränderungen und so weiter:
- Die bisherigen Einstellungen und Konstruktionen werden verändert.
- Die Mitteilung der Gesprächspartnerin bzw. des Gesprächspartners wird ignoriert, verdrängt oder rasch vergessen.
- Zusätzliche Hinweise werden gesucht, um die bisherige Einstellung aufrechtzuerhalten.
- Die Gesprächspartnerin bzw. der Gesprächspartner wird als unwichtige oder nicht kompetente Informationsquelle eingestuft.
- Es wird aktiv nach sozialer Bestätigung der eigenen Meinung gesucht.
Erwartungen gestalten die Realität
Im Gespräch können Konflikte zwischen Erwartungen und Realitäten entstehen: Hat ein Patient / eine Patientin die Erwartung, vom Arzt / von der Ärztin eine bestimmte positive Diagnose zu erhalten, und die tatsächliche Diagnose ist negativ oder vollkommen andersartig, entsteht in dieser Situation ein realer Konflikt im Patienten / in der Patientin.
Erwartungen steuern demnach Ereignisse. Besonders enttäuschte Erwartungen zeigen, was eigentlich erwartet wurde: Machen wir uns als Patientin oder Patient auf zu unserem ersten Besuch bei der Hausärztin oder beim Hausarzt und gehen davon aus, hier besonders zuvorkommend empfangen zu werden, treffen aber auf ein leicht gestresstes Praxisteam und vollkommen ausgelastete Ärztinnen und Ärzte mit wenig Zeit für einfühlende Worte, werden wir uns dieser Erwartungen (sehr oft) erst durch die Nichterfüllung bewusst.
Zudem beeinflussen Erwartungen die Wahrnehmung: So nehmen Patientinnen und Patienten, die bestimmte Diagnosen der Ärztinnen und Ärzte erwarten, besonders klar jene Äußerungen wahr, die zu ihren Erwartungen passen. Oder: Wenn Ärztinnen und Ärzte mit bestimmten Erwartungen – zum Beispiel zur Bestätigung ihrer Anliegen als Fachpersonen – wissenschaftliche Publikationen lesen, werden ihnen ganz besonders jene Textstellen ins Auge fallen, die diesen Erwartungen entsprechen.
Stimmige Kommunikation
Menschen können kommunikative Situationen erleben, in denen sie zwar sachlich verstanden werden, sich aber trotzdem hochgradig unwohl oder missverstanden fühlen und die sie nicht als erfolgreiche oder gelungene Kommunikation bezeichnen würden. Diese Unstimmigkeit kann eintreten, wenn man zwar in einer Situation „funktionieren“, sich aber gefühlsmäßig verstellen muss.
Schulz von Thun (1998) verfasste in Kombination mit seinem berühmtesten Modell Kommunikationsquadrat das Konzept der Stimmigkeit, das eine gelingende und erfolgreiche Kommunikation nicht als bloßes Funktionieren auf der Sachebene misst, sondern verschiedene Ebenen von Kommunikation miteinbezieht. Das Konzept besagt, dass eine Kommunikation dann stimmig ist, wenn sie personell und situativ angemessen ist beziehungsweise wenn Gesprächsteilnehmende das Gefühl haben, der Situation entsprechend zu handeln und trotzdem „sie selbst“ bleiben zu können. Diese beiden Dimensionen stellt Schulz von Thun in einer Matrix dar, welche die vier Varianten von erfolgreicher oder weniger erfolgreicher Kommunikation markiert:
Schulz von Thun unterscheidet drei Fälle von nichtstimmiger Kommunikation (1998):
- Angepasst: Die Kommunikation ist zwar der Situation angemessen, aber der Sprecher / die Sprecherin hat den Eindruck, sich verstellen zu müssen.
Ein Beispiel könnte der erste Termin in der Sprechstunde eines noch unbekannten Arztes bzw. einer noch unbekannten Ärztin sein. Zurückhaltung und Vorsicht, vielleicht sogar Unterwürfigkeit mögen in der Situation zwar hilfreich sein und als ausgesuchte Höflichkeit interpretiert werden, verhindern dabei aber das persönlich angemessene Verhalten. - Daneben (kommunikative Fettnäpfchen): Personen erleben sich zwar authentisch, handeln aber der Situation unangemessen.
Beispiele dafür sind unpassende Witze oder unangebrachte Vertraulichkeiten, die nicht der Rollenbeziehung zwischen den Gesprächsteilnehmenden entsprechen. - Verquer: Es wird weder der Person noch der Situation entsprechend kommuniziert. Diese eher seltene Variante von nichtstimmiger Kommunikation kann eintreffen, wenn wir zum Beispiel uns als Person nicht einbringen oder nicht authentisch darstellen können und uns zudem im „falschen Film“ wähnen.
Von stimmiger Kommunikation ist also dann die Rede, wenn persönliche Authentizität und situativ angemessenes Handeln zusammenfallen.
Literatur
- Bierhoff H. W.: Einführung in die Sozialpsychologie. Beltz-Verlag, Weinheim 2002.
- Frindte W.: Einführung in die Kommunikationspsychologie. Beltz-Verlag, Weinheim 2001.
- Bierbrauer G.: Sozialpsychologie. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2005.
- Festinger L.: A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford University Press, Stanford 1957.
- Nünning A., Zierold M.: Kommunikationskompetenzen. Klett-Verlag, Stuttgart 2011.
- Schulz von Thun F.: Miteinander reden 3 – Das „innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt, Reinbek 1998.
- Zimbardo P.: Psychology – Core Concepts. Allyn & Bacon Publishing, Boston 2005.
1.4. Non- und paraverbale Kommunikation
Ein Patient oder eine Patientin trifft sehr verspätet in der Praxis ein und entschuldigt sich dafür mit einer Erklärung, die der Arzt / die Ärztin als fadenscheinig wahrnimmt und sich darüber still ärgert. Im verbalen Ausdruck bagatellisiert die ärztliche Fachperson das Verhalten und versichert dem Patienten / der Patientin, dass die Verspätung absolut kein Problem darstelle, macht aber gleichzeitig durch Mimik und Körperhaltung deutlich, dass sie das Verhalten nicht billigt. Die anschließende Behandlungszeit ist geprägt durch angespannte Kommunikation, beide fühlen sich nicht wohl. Hier zeigt sich, in welchem Ausmaß das Nicht-Gesagte in der Lage ist, die Atmosphäre einer Begegnung nachhaltig zu prägen.
Diese nonverbalen Elemente umfassen Gestik, Mimik, Blick, Körperhaltung und so weiter, aber auch paraverbale Phänomene wie die Stimmlage, das Tempo oder die Lautstärke. Ohne dass die Beteiligten sie im Einzelnen immer benennen können, vermitteln diese Elemente emotionale Zustände und die Einstellung zum Gegenüber, die in diesem Fall dem verbal geäußerten Inhalt zuwiderlaufen.
Ausdruck und Funktion von nonverbalen Zeichen
Gesten als nonverbale Zeichen sind Bewegungen der Arme, Hände und Finger. Die Mimik zeigen wir in schnellen und oft unauffälligen Gesichtsbewegungen, die unsere Gemütsverfassung und auch die Einstellung zum Gegenüber widerspiegeln. Wir können sie allerdings nicht selbst als Betrachtende wahrnehmen und ihre Wirkung nur aufgrund der Reaktion des Gegenübers abschätzen. Der Blick zeigt unseren Bezug zum Partner / zur Partnerin und drückt Zuneigung, Misstrauen oder auch Verständnis aus. Die Häufigkeit, Dauer und Intensität des Blickkontakts sind dabei relevante Charakteristiken des Blickes: Wir zeigen damit unter anderem, dass die andere Person weiterreden kann, wir ihren Ausführungen folgen können oder ein Wechsel der sprechenden Person angesagt ist. Die Körperhaltung hingegen betrifft das gesamte Erscheinungsbild und zeigt beispielsweise an, ob sich das Gegenüber dem anderen zu- oder von ihm abwendet.
Ausdruck und Funktion von paraverbalen Zeichen
Zu den paraverbalen Zeichen gehören Intonation, Stimmlage, Stimmfärbung, Tempo, Rhythmus, Akzent, Intensität, Lautstärke und so weiter. Einige paraverbale Zeichen sind genetisch bedingt – so etwa sprechen Frauen tendenziell mit höherer Stimme als Männer. Andere Zeichen sind sehr individuell einzuordnen: Manche Personen sprechen lauter als andere, möglicherweise bedingt durch ihren Körperbau oder auch durch familiäre Gewohnheiten. Zudem kann Paraverbales in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich akzeptiert und etabliert sein.
Paraverbale Elemente sind nie autonom, sondern immer sogenannte „Huckepack-Phänomene“, die sich den vokalen Äußerungen aufpfropfen und sie modulieren. Diese Zeichen gestalten also jede vokale Äußerung mit.
Die folgenden Kontrollfragen haben sich bewährt:
- Wie bewusst bin ich mir, ob meine non- und paraverbalen Zeichen mit den jeweiligen sprachlichen Äußerungen übereinstimmen?
- In welchen Situationen sind diese beiden Ebenen meiner Äußerung besonders kongruent oder inkongruent?
- Kann die Inkongruenz durch die Mitteilung des eigenen Empfindens aufgehoben werden?
Pausen als Besonderheiten im Gespräch
Der Rhythmus einer Mitteilung ist besonders geprägt durch Tempo und durch Pausen. Was aber ist eine Pause? Wo liegt der Unterschied zur Stille? In der Regel werden Unterbrechungen in einem Dialog, die länger als zwei Sekunden dauern, als ‚Pause‘ wahrgenommen, also als ein nicht zu erwartender Einschnitt in den Fluss der Rede (Gramling 2022). Pausen per se transportieren allerdings nicht eine bestimmte Bedeutung, sind also nicht immer als Einladung zum Nachdenken oder als Anzeichen für Verstehen zu deuten; ihre Bedeutung erschließt sich in erster Linie für die am Dialog beteiligten Personen. Sie sind vor allem Angebote, den Fluss von Rede und Gegenrede anzuhalten.
Herausforderungen durch die kulturelle Prägung von nichtsprachlichen Zeichen
Auch wenn Paul Ekman (2004) nach seinen langjährigen, kulturübergreifenden Studien schlüssig darstellen konnte, dass die von ihm beschriebenen sieben Basisemotionen – Fröhlichkeit, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung –bei allen Menschen in gleicher Weise erkannt und ausgedrückt werden, kann die nichtsprachliche Kommunikation nicht als universell angesehen werden. Nichtverbale Kommunikation ist gemäß Ekman zu „wesentlichen Teilen kulturspezifisch überformt“, womit Schwierigkeiten bei der interkulturellen Begegnung vorprogrammiert sind.
Gestik kann in einer Kultur konventionell sein und etwas ganz Bestimmtes bedeuten, in einer anderen aber nicht. So werden in Bulgarien und in der Türkei sowohl das Kopfschütteln wie auch das Nicken für ein Ja verwendet – je nach Zusammenhang. Zudem spielt es eine Rolle, mit welcher Intensität es angebracht wird und ob das Kopfschütteln oder Nicken schnell oder langsam erfolgt.
In Japan wiederum ist Lachen oft nicht Ausdruck von Freude, sondern von Verlegenheit, was auf Nichteingeweihte irritierend wirken kann. Auch der direkte Blickkontakt mit dem Gegenüber kann sehr divergierenden Regeln unterworfen sein: In der westlichen Kultur „gehört es sich“, im Gespräch den direkten Blickkontakt zu halten, in anderen Kulturen hingegen ist dieser verpönt – so darf etwa eine Frau aus dem Vorderen Orient nur ihrem Mann direkt in die Augen schauen.
1.5. Wechselseitiger Kontakt über das gemeinsame Spüren einer
Atmosphäre im Gespräch
Vertraut ist das Phänomen, dass einem ‚irgendwie zumute‘ wird, wenn man mit einer Person in einen Austausch tritt. Im Beispiel im Abschnitt 1.4 ist beiden Beteiligten unwohl. Meist wird dies als das (Gesprächs-)Klima benannt, das als angespannt, kühl, ruhig oder entspannt beschrieben wird.
Aussagen wie „Ich fühle mich bei dieser Ärztin einfach wohl“ und umgekehrt: „Mitten im Gespräch mit der Patientin habe ich gemerkt, wie ich befangen wurde und unruhig“, sind eher vage formuliert und kaum auf einzelne Ursachen zurückzuführen, dennoch aber für die Beteiligten eindeutig gegeben.
Diese im Alltag vertrauten Wahrnehmungen sind mit Konzepten beschrieben worden, die an bestimmte Voraussetzungen geknüpft sind, zum Beipiel an die Annahme, dass sich vor allem unbewusste Motive in dieser indirekten Form äußern – ein Grundgedanke in der Begrifflichkeit von Übertragung und Gegenübertragung – oder an biologische Korrelate von Empathie, die die Übertragbarkeit von Gefühlen von Person A auf Person B mit der Aktivität von (Spiegel-)Neuronen verknüpfen.
Ein anderes, weniger an Vorannahmen gebundenes Verständnis basiert auf den oben beschriebenen alltäglichen Erfahrungen. Wenn man das, was man in der Gegend des eigenen Körpers spürt – ohne dass man es tasten oder anschauen kann –, als leibliches Spüren bezeichnet, hätte man den eigenen Leib als den Ort definiert, an dem das Wahrnehmen von Atmosphären sich vollziehen kann. Das mühelose, nicht bewusst gesteuerte gemeinsame Handeln beim Paartanz, beim gemeinsamen Rudern oder Chorsingen, die nicht bewusst gesteuerte Abfolge von Zuhören und Sprechen in einer entspannten Unterhaltung verweisen auf die Möglichkeit, dass mehrere Personen sich zu einem gemeinsamen, übergreifenden Leib zusammenschließen können. Unter dieser Voraussetzung ist denkbar, dass das, was Person A am eigenen Leib spürt, zum Beispiel eine gewisse Traurigkeit, nicht aus ihr selbst stammt, sondern von Person B in die wahrnehmbare Atmosphäre eingebracht wird.
Wenn man also das Entstehen einer bestimmten Gesprächsatmosphäre potenziell allen beteiligten Personen zuschreibt, kommt auch das Erleben der Fachperson zur Geltung: Sie gestaltet Atmosphären nicht nur, sondern ist ihnen auch ausgesetzt. Dann ist das Spüren am eigenen Leib ein diagnostisches Mittel, über das eine aufmerksame Fachperson zusätzlich zu den körperorientierten Möglichkeiten verfügt.
Gerade in der Grundversorgung sind zum Beispiel Gefühle einer inneren Unruhe bei der Fachperson in der initialen Beurteilung eines Falles oft handlungsleitend (zum Beispiel: „Dieses Kind ist krank und sollte ins Krankenhaus!“). Auch der Eindruck von „Jetzt ist genug gesagt“, der sich in einem Aufklärungsgespräch zwischen Arzt / Ärztin und Patient / Patientin nach einer bestimmten Zeit einstellt, ist ein solches Phänomen, da diese Aussage nicht auf statistischer Evidenz beruht in dem Sinne, dass der Patient / die Patientin wüsste, wie viel Prozent des Wissens des Arztes / der Ärztin jetzt mitgeteilt wurde, sondern auf einem gespürten „Es ist gut jetzt“.
Die Fachperson kann die Wahrnehmungen am eigenen Leib auch als therapeutisches Instrument benutzen, wenn sie dem Gegenüber mitteilt, wie ihr zumute wird (zum Beispiel: „Wenn Sie diese Geschichte erzählen, weht mich eine große Traurigkeit an.“). Sie stellt das Erleben am eigenen Leib als eine mögliche Interpretation der aktuellen Situation zur Verfügung und hilft dem Gegenüber dabei, in Worten zu explizieren, was noch nicht gesagt, aber vielleicht schon vage gespürt wurde.
Literatur
- Argyle M.: Körpersprache und Kommunikation. Junfermann, Paderborn 2005.
- Ekman P.: Gefühle lesen – Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. Spektrum Akademischer Verlag, München 2004.
- Heringer H. J.: Interkulturelle Kommunikation. Grundlagen und Konzepte. Francke, Tübingen und Basel 2010.
- Gillessen A. et al. (Hrsg.): Interkulturelle Kommunikation in der Medizin. Springer Verlag Deutschland, doi.org/10.1007/978-3-662-59012-6.
- Smith CF, Drew S, Ziebland S, Nicholson BD. Understanding the role of GPs' gut feelings in diagnosing cancer in primary care: a systematic review and meta-analysis of existing evidence. Br J Gen Pract. 2020 Aug 27;70(698):e612-e621. doi: 10.3399/bjgp20X712301. PMID: 32839162; PMCID: PMC7449376.
- Langewitz WA. The lived body (Der Leib) as a diagnostic and therapeutic instrument in general practice. Wien Klin Wochenschr. 2021 Jul 23. doi: 10.1007/s00508-021-01911-1. PMID: 34297201.
- Gramling C. J., Durieux B. N., Clarfeld L. A., Javed A., Matt J. E., Manukyan V., ... & Gramling, R. (2022): Epidemiology of Connectional Silence in specialist serious illness conversations. Patient Education and Counseling, 105(7), 2005–2011.
1.6. Gespräche in Zeiten der Telemedizin
Gerade die Coronapandemie hat gezeigt, dass Kontakte nicht nur in der Face-to-Face-Begegnung in Präsenz stattfinden müssen, sondern auch über das Internet vermittelt stattfinden können. Damit hat eine Entwicklung zusätzlichen Schub erhalten, die in anderen Ländern, zum Beispiel in Großbritannien, schon länger stattgefunden hat: Erstkontakte im Gesundheitswesen werden über das Telefon oder über Live-Video-Schaltungen abgewickelt, unter Umständen in der Interaktion mit einem Computerprogramm, das aus den geschilderten Beschwerden die Wahrscheinlichkeit einer Diagnose berechnet und darüber entscheidet, ob eine hilfesuchende Person mit einem lebenden Gegenüber verbunden wird oder nicht. Selbstverständlich lässt sich argumentieren, dass Fachpersonen (auch) wie Computerprogramme funktionieren, indem sie Beschwerdebilder mit impliziten (der ‚klinische Blick‘) oder feststehenden Algorithmen beurteilen – die meisten Notfallstationen verfahren so, um über die Notwendigkeit von Diagnostik und Therapie zu entscheiden. Allerdings bietet der persönliche Kontakt mehr als das Abrufen von Beschwerden: das Leiden der Person, ihre Angst, ihre Verzweiflung sind ‚spürbar‘, auch ohnedass sie explizit ausgedrückt werden. Dieses Ausblenden der emotionalen Komponente kann diagnostisch durchaus sinnvoll sein, wenn zum Beispiel in einer Triage-Situation nicht der zuerst behandelt wird, der am lautesten stöhnt, sondern der, dessen Vitalparameter einen deutlichen Abwärtstrend zeigen. Allerdings kann das Ausblenden von Emotionen auch dazu führen, dass ein tröstender Impuls, eine beruhigende Geste ausbleiben – man muss ein Symptom nicht besänftigen, manchmal aber den Menschen, der es präsentiert.
Ein Mittelding zwischen Mensch-Maschine- und Mensch-Mensch-Interaktionen sind die Live-Treffen über entsprechende Programme, bei denen sich beide Interagierenden sehen und hören, sich aber nicht im gleichen physischen Raum befinden. Es ist wahrscheinlich noch zu früh, eindeutige Aussagen zu den Auswirkungen dieser Form der ‚Distanz in der Nähe‘ zu treffen, folgende Überlegungen könnten aber hilfreich sein: Der Fokus auf den Bildschirm und/oder auf die Kamera, die das eigene Bild aufnimmt, verhindert spontanes Abschweifen der Gedanken und des Blicks, Korrekturbewegungen in der Haltung stellen sich nicht spontan ein, sondern werden – wenn überhaupt – bewusst abgerufen.
Eine erste Studie zeigt, dass dieses Einengen des Fokus einerseits die Fähigkeit von Teams verbessert, unter vorhandenen Ideen die beste zu finden, dass andererseits persönliche Treffen besser geeignet sind, kreative Ideen zu generieren. Vorstellbar ist auch, dass die unter 1.5. beschriebene Wahrnehmung von Atmosphären im Raum dadurch behindert wird, dass sich die beteiligten Personen eben in physisch unterschiedlichen Räumen befinden – kann sich eine prägende Atmosphäre überhaupt ausbilden? Zumindest indirekt gibt es vielleicht Hinweise darauf, dass eine lähmende Atmosphäre seltener entsteht: Studierende und Simulationspersonen beschreiben die Gespräche über Live-Kontakte im Netz als entspannter als Live-Gespräche in einem Lernzentrum – vielleicht weil die angespannte Atmosphäre in einer Gruppe, in der die anderen zuschauen, wie jemand sich verhält, sich nicht einstellen kann?
Literatur
- Melanie Brucks and Jonathan Levav (2019): Technology-Mediated Innovation, in NA – Advances in Consumer Research Volume 47, eds. Rajesh Bagchi, Lauren Block, and Leonard Lee, Duluth, MN: Association for Consumer Research, Pages: 45–50.
- Langewitz et al.: Doctor-patient-communication during the Corona-Crisis – web-based interactions and structured feedback from standardized patients at the University of Basel and the LMU Munich. GMS J Med Educ. 2021; 38(4):Doc80. DOI: 10.3205/zma001477.
1.7. Dokumentation des Gesprächs
Ein oft vernachlässigter, jedoch wesentlicher Aspekt einer professionellen Begegnung zwischen Arzt / Ärztin und Patient / Patientin ist die Dokumentation. Vor allem in Polikliniken und Ambulanzen, in denen die betreuenden Ärztinnen und Ärzte häufig wechseln, aber auch in Gemeinschaftspraxen ist die kontinuierliche Betreuung durch bestimmte Ärztinnen und Ärzte nicht immer gewährleistet. Daher kommt der schriftlichen Informationsübergabe, die mittlerweile oft in elektronischer Form erfolgt, eine entscheidende Bedeutung zu.
In der Regel ist der Zusammenhang zwischen der Menge an Informationen, die Patientinnen und Patienten geben, und den Einträgen in die Patientendokumentation nicht besonders zuverlässig. Ärztinnen und Ärzte dokumentieren bis zu 90 % dessen, was Patientinnen und Patienten sagen, nicht. Das mag daran liegen, dass Ärztinnen und Ärzte in der Lage sind, Einzelbefunde in diagnostischen Oberbegriffen zusammenzufassen.
Allerdings gilt dies kaum für den Bereich psychosozialer Informationen: Hier besteht das Risiko, dass das, was im Moment für Patientinnen und Patienten im Vordergrund steht, keinen Eingang in die Krankenakte findet. Hier haben Ärztinnen und Ärzte ganz allein eine Entscheidung darüber getroffen, was wichtig für nachfolgende Kolleginnen und Kollegen ist.
In keinem der aufgezeichneten Gespräche wurde partizipatorisch versucht, mit Patientinnen und Patienten gemeinsam zu entscheiden, welche Informationen explizit ins Krankenblatt übernommen, welche in Form einer Zusammenfassung zumindest thematisch benannt und welche weggelassen werden sollten. Diese Chance in Bezug auf die Dokumentation des Gesprächsinhaltes wird bisher nicht genutzt, scheint aber dringend geboten.
Literatur
- Langewitz W. A., Loeb Y., Nubling M., Hunziker S.: From patient talk to physician notes – Comparing the content of medical interviews with medical records in a sample of outpatients in Internal Medicine. Patient Educ Couns. 2009; 76: 336–40.
1.8. Ärztliche Haltung und Technik
Die Praxis einer professionellen Kommunikation wird oft missverstanden als eine Tätigkeit, bei der in erster Linie präzise definierte Regeln umgesetzt werden. Gerade bei der non-verbalen Kommunikation wird im Alltag meistens sehr schnell deutlich, dass jemand, der Empörung oder Trauer nur äußert, ohne selbst in diesem Moment empört oder traurig zu sein, unglaubwürdig ist. Das Gleiche gilt für jemanden, der die Rolle eines Arztes oder einer Ärztin spielt, ohne über eine ärztliche Identität zu verfügen. Sie zu entwickeln, ist Teil des verborgenen, impliziten Curriculums im Medizinstudium und wahrscheinlich auch der ersten Jahre der Weiterbildung zur Fachärztin beziehnungsweise zum Facharzt. Wenn Studierende und junge Kolleginnen und Kollegen eine ärztliche Identität entwickeln, ist sie oft zunächst eher rigide und lässt nur wenig Spielraum für unterschiedliche Ausprägungen. Für das, was da im Entstehen begriffen ist, ist der Begriff der Fassung hilfreich, der in der Neuen Phänomenologie mit dem Bonmot erklärt wird:
„Fassung ist das, was ein Mensch verliert, wenn er die Fassung verliert.“
Die Anwendung dieser Definition im Alltag wird sofort zeigen, dass es unterschiedliche Herausforderungen an die Fassung einer Person gibt: Was jemanden als Vater, Tochter, Partnerin oder Partner herausfordert und an den Rand der Fassung bringen kann, ist für die Fachperson sozusagen Berufsrisiko.
Daraus folgt, dass eine Person mehrere Fassungen hat, unter anderem eine berufliche; damit ist die Kritik an Kommunikationstrainings, sie würden die eigene Authentizität untergraben, obsolet: Die Fassung als junge Frau, Tochter, Freundin etc. steht gar nicht zur Debatte, sondern es geht um das Arbeiten an einer professionellen Fassung, die noch nicht ausgebildet ist. Wünschenswert ist sicher, dass bestimmte Merkmale einer Person (zum Beispiel wie flink, wie begeisterungsfähig, beharrlich, eher pessimistisch jemand ist) in unterschiedlichen Fassungen nicht ganz verloren gehen. So etwas wie der ‚Kern einer Person‘ schimmert durch die verschiedenen Fassungen hindurch.
Die ärztliche Identität ist in diesem Verständnis also eine spezielle Form der Fassung, sie kann unterschiedlich rigide sein und ist nicht dann besonders professionell, wenn sie besonders flexibel ist.
Eine Person mit sehr flexibler Fassung ist womöglich zu sehr beeindruckt vom Leid eines Gegenübers und hat Mühe, einen klaren Kopf zu bewahren und zum Beispiel einen invasiven Eingriff in Ruhe kompetent durchzuführen. Eine Person mit sehr rigider Fassung wirkt häufig kaltherzig, unempathisch („Der / die hat mich behandelt wie ein Stück Holz“). Die große Kunst besteht darin, die eigene professionelle Fassung in ihrer Flexibilität variieren zu können; wie schwierig das sein kann, wird deutlich, wenn eine Fachperson aus dem Operationssaal in die Sprechstunde wechselt und dann von der eher rigiden Fassung auf eine eher flexible Fassung umschalten muss. Die Arbeit an der eigenen Fassung hört nie auf, das liegt auch daran, dass zunehmende Erfahrung, eine hierarchisch andere Position und schlicht das Älterwerden dem Gegenüber andere Projektionsflächen bieten, innerhalb derer sich die Erwartungen an die Fachperson immer wieder neu ausrichten.
Die professionelle Identität als Ärztin oder Arzt ist also zu unterscheiden von einer alle Fassungen durchdringenden Persönlichkeit, die mit der Forderung nach Authentizität in der Begegnung mit Patientinnen und Patienten häufig angemahnt wird. Diese Forderung leugnet das inhärente Machtgefälle zwischen einer Person, die Hilfe sucht, und einer Person, die diese Hilfe aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz hoffentlich anbieten kann: Hier begegnen sich nicht Personen auf gleicher Ebene, die im Umgang miteinander Nähe und Distanz frei regeln können. In einer ‚helfenden Beziehung‘ begegnen sich überspitzt formuliert Macht und Ohnmacht. Das auferlegt der Ärztin oder dem Arzt als ‚mächtiger Person‘ die besondere Verpflichtung, die Verantwortung für eine professionelle Distanz zu übernehmen – und ist nicht die Aufgabe der ‚ohnmächtigen Person‘. Viele Beschwerden von Patientinnen und Patienten betreffen diesen Problembereich: Fachpersonen haben die Verpflichtung zur professionellen Distanz verletzt und eine unangemessene Nähe entstehen lassen.
Literatur
- Langewitz Wolf: Ärztliche Haltung – was ist das und wie kann man es erreichen. Rostocker Phänomenologische Manuskripte Bd. 27, 2017.