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„Für dich heiße ich Nora!“

22.08.2019 Seite 16
RAE Ausgabe 9/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2019

Seite 16

  • Alea iacta est? Wildes Durcheinander: Für Millionen Menschen ist die im Alltag gesprochene Sprache zu schwer. Mit dem Konzept der Leichten Sprache können Barrieren abgebaut werden. Auch in der Arzt-Patienten-Kommunikation, wie auf einer Fortbildung der Ärztekammer Nordrhein deutlich wurde. © Fiedels-stock.adobe.com
  • In den Workshops sollten die Teilnehmer im simulierten Arzt-Patienten- Gespräch die Regeln der Leichten Sprache anwenden. Das bedeutet: kurze Sätze formulieren, Fachbegriffe so gut es geht vermeiden oder erklären und Abläufe wiederholen. Nur wenn der Patient versteht, warum eine Behandlung sinnvoll ist, wirkt sich dies auch positiv auf die Therapieadhärenz aus. © Jochen Rolfes
Oft hört die Barrierefreiheit bei Aufzug und Rampe für Rollstuhlfahrer auf. Auf dem Gebiet der Kommunikation lässt sich Barrierefreiheit einfacher gestalten, wie auf einer Veranstaltung in Düsseldorf deutlich wurde. Vorgestellt wurde das Konzept der „Leichten Sprache“.

von Vassiliki Latrovali

„Wissen Sie, was eine Darmspiegelung ist?“, fragt der Arzt. Der Patient nickt langsam: „Ja, das weiß ich.“ Die Beobachter des simulierten ArztPatienten-Gesprächs, das Mitte Mai im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf stattfindet, folgen der Szene aufmerksam. Der Mediziner soll seinen „Patienten“ nun in der Simulationsübung darüber unterrichten, dass nach einer auffälligen Stuhlprobe eine Koloskopie notwendig ist. Die besondere Herausforderung für den großgewachsenen Mann, der auch im richtigen Leben als Arzt in einer Klinik tätig ist: Er soll den Patienten hierüber in sogenannter Leichter Sprache informieren. Also spricht er langsam, macht kurze Sätze, vermeidet Fachbegriffe und erklärt wiederholt, wie eine Darmspiegelung stattfindet. Am Ende der Übung erhält der Mediziner ein Feedback des Schauspiel-Patienten: „Die Beklommenheit nach einem solchen Befund kann man mir nicht nehmen, aber ich vertraue dem Arzt“, sagt dieser.

Ein Recht auf Verstehen und Verständnis

Oben beschriebene Simulationsübung war Teil der Veranstaltung „Einfach. Gemeinsam. Sprechen“ der Ärztekammer Nordrhein, des Forschungsinstituts Touchdown 21 und des Klinischen Instituts für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Uniklinik Düsseldorf mit Vorträgen und Workshops. Ziel war, neben allgemeinen Grundlagen der Kommunikation die Besonderheiten im Kontakt mit Menschen zu vermitteln, die beispielsweise das Down-Syndrom haben. „Eine partizipative Entscheidungsfindung lässt sich nur entwickeln und umfassende Gesundheitskompetenz kann nur dann erlangt werden, wenn alle Menschen die Informationen auch verstehen, die sie bekommen“, sagte Professor Dr. Susanne Schwalen, Geschäftsführende Ärztin der Ärztekammer Nordrhein.  Leichte Sprache ermögliche Menschen, komplexe Sachverhalte zu verstehen: „Kommunikationsbarrieren müssen gerade im Gesundheitswesen gezielt abgebaut werden“, so Schwalen. Von Leichter Sprache profitierten auch Menschen mit anderer Muttersprache oder Analphabeten, betonte die Ärztin.
Wie anstrengend es für Menschen mit kognitiven Einschränkungen, Lernschwierigkeiten oder geringen Deutschkenntnissen ist, Gesprächen oder Texten in „schwieriger“ Sprache zu folgen, das begegnet Anne Leichtfuß immer wieder: „Jeder möchte mitreden und mitentscheiden. Das geht aber nur, wenn ich verstehe, was um mich herum, in der Gesellschaft, passiert“, sagte die Simultan-Dolmetscherin und Übersetzerin für Leichte Sprache. Deren Regelwerk stellte die Mitgründerin des in Bonn ansässigen Forschungsinstituts „Touchdown 21“, in dem Menschen mit und ohne Down-Syndrom arbeiten, auf der Veranstaltung vor. Hierzu gehören Sprach- und Rechtschreibregeln sowie Empfehlungen zu Typografie und Mediengebrauch. Vor der Veröffentlichung eines Textes lässt Leichtfuß diesen immer von Menschen mit Lernschwierigkeiten auf dessen Verständlichkeit prüfen, denn: „Nur die betroffene Personengruppe kann mir sagen, ob sie versteht, was ich geschrieben habe“, so die Expertin. 


Linn Hempel, Kommunikationswissenschaftlerin am Klinischen Institut für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Düsseldorfer Uniklinik und am Studiendekanat der Medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität, sieht in der Verwendung der Leichten Sprache entscheidende Vorteile sowohl für die Patienten als auch die behandelnden Ärzte: „Versteht der Patient, warum eine Therapie sinnvoll ist und dass diese zum Beispiel schon bald ansteht, wirkt sich dies positiv auf die Therapieadhärenz aus.“ Dabei sei auch bei Menschen mit kognitiver Einschränkung festzuhalten: jeder Patient reagiere situationsabhängig, sowohl auf positive wie negative Nachrichten. Ziel müsse immer sein, das Verständnis des Gesprächspartners zu unterstützen. „Leichte Sprache ist nicht mit der Art und Weise zu verwechseln, mit der man vielleicht mit Kindern zu sprechen pflegt“, so Stefanie Ott, Schauspielpatiententrainerin an der Medizinischen Fakultät Düsseldorf.
Dort gehören Simulationsübungen mit trainierten Schauspielpatienten zur Arzt-Patient-Kommunikation schon seit längerer Zeit zum Standardrepertoire der Ausbildung von Studierenden der Humanmedizin und interessierten Ärztinnen und Ärzten. Leichte Sprache zu sprechen ermögliche es Ärzten nicht zuletzt, auch schwerwiegende Diagnosen verständlich zu übermitteln, sagte Dr. André Karger. Der Oberarzt ist einer der Autoren des 2015 erschienen Leifadens Kommunikation im medizinischen Alltag. Gemeinsam mit Ärzten, Studierenden und Schauspielern hat er zu dem Thema auch mehrere Videos gedreht (siehe auch www.aekno.de/Leitfaden-Kommunikation).
Zu den Kommunikations-Trainings, wie sie auch in Düsseldorf angeboten werden, gehören Fertigkeiten wie das Aktive Zuhören, die Exploration der Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit bei schlechten Nachrichten und das bewusste Setzen von Pausen. „Als Ärztin oder Arzt muss einem der Spagat zwischen dem Verständlichmachen der Erkrankung und der Aufnahmefähigkeit des Patienten gelingen“, sagte Pia Schmidt, die die Veranstaltung für die Ärztekammer Nordrhein betreute. „Ich habe es während meiner klinischen Tätigkeit in der Onkologie immer als hilfreich empfunden, den Patienten nach dem Erstgespräch ausreichend Zeit zu geben. Eine Diagnose zu verstehen ist keine ausschließliche  Frage der Intelligenz, sondern zu großen Teilen der Kommunikation.“

Arzt-Patienten-Kommunikation in Leichter Sprache

  • Sprechen Sie immer den Betroffenen selbst an, halten Sie Augenkontakt
  • Eine freundliche Mimik wirkt einladend
  • Machen Sie langsame Bewegungen, eine entspannte Körper­sprache wirkt beruhigend 
  • Sprechen  Sie in kurzen Sätzen (nur eine Information pro Satz)
  • Vermeiden Sie Angstwörter und Negationen
  • Wenn Sie Fachbegriffe benutzen, müssen Sie diese erklären 
  • Sprechen Sie nicht „zwischen den Zeilen“, drücken Sie sich klar aus
  • Erlauben Sie sich und Ihrem Gegenüber längere Denk- und Sprechpausen
  • Oftmals sagen Bilder mehr als Worte
  • Große Zahlen, Prozentangaben usw. lassen sich schwer in Leichte Sprache übersetzen – verwenden Sie Begriffe wie: vor einigen Wochen, bei Ihrem letzten Besuch, sehr viel, sehr wenig
  • Konjunktiv- und Passivformen vermeiden
  • Entmutigen Sie Patienten nicht mit Sätzen wie: „Was haben Sie denn jetzt eigentlich verstanden?“ Besser klingt: „Haben Sie noch Fragen?“

„Leichte Sprache – Ein Ratgeber“ vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales: www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/a752-leichte-sprache-ratgeber.html
Hurraki – Wörterbuch für Leichte Sprache: www.hurraki.de/wiki/Hauptseite

Gute Kommunikation stärkt Selbstbestimmung

Laut Statistischem Bundesamt leben in Deutschland etwa eine Million Menschen mit einer geistigen Behinderung. Viele von ihnen weisen ein erhöhtes Risiko für körperliche und psychische Komorbidität auf. Häufig werden Krankheiten zu spät oder gar nicht diagnostiziert. Für Menschen mit geistiger Behinderung gestalten sich Arztbesuche zudem schwierig. Kommunikative Barrieren sowie Ängste lassen oftmals den Gang in die Praxis und das Arztgespräch zu einer enormen Herausforderung für alle Beteiligten werden. Die Begleitung durch eine vertraute Person empfinden viele Betroffene als eine positive Unterstützung. Dennoch wünschen sich viele Menschen mit geistiger Behinderung, dass ihr behandelnder Arzt das Gespräch mit ihnen führt. 
„Wahre Inklusion bedeutet gemeinsam arbeiten, leben, lernen und Spaß haben“, sagte Katja de Bragança, Projektleiterin von Touchdown 21 und Chefredakteurin von Ohrenkuss, einem Magazin von Menschen mit Down-Syndrom. Sie weiß um die Vorurteile gegenüber dieser Personengruppe und appellierte in Düsseldorf an die Mediziner im Raum: „Sie als Ärztinnen und Ärzte können diese Patienten viel besser verstehen, wenn Sie wissen, wie diese ihren Alltag bestreiten.“ Menschen mit Down-Syndrom lernten anders, aber nicht schlechter. Kommunikationsbarrieren stünden der gesundheitlichen Chancengleichheit entgegen. „Informationen zu einem gesunden Lebensstil oder Präventionsangeboten in schwieriger Sprache erreichen viele Personengruppen einfach nicht. Aber nur wer gut informiert ist, kann selbstständig handeln und selbstbestimmt Entscheidungen treffen“, so de Bragança. 

Die Gesellschaft liebt Schubladen

Auf der Veranstaltung im Haus der Ärzteschaft berichteten Natalie Dedreux und Teresa Knopp von ihrem Alltag, ihren Wünschen, Bedürfnissen und Vorstellungen vom Leben. Beide sind Redakteurinnen beim Ohrenkuss und arbeiten zudem für Touchdown 21. Um ihre Botschaften unter die Leute zu bringen, haben beide bereits viele Reisen unternommen. Sie fordern Gleichberechtigung, pochen auf volle Akzeptanz und lehnen Fremdbestimmung ab. „Für die meisten Bereiche meines Lebens benötige ich Assistenz. Aber ich möchte trotzdem selbstständig sein“, sagte Dedreux. Dazu gehört auch die Verantwortung für die eigene Gesundheit. Menschen mit Down-Syndrom beispielsweise haben ein erhöhtes Risiko, Adipositas zu entwickeln. Knopp sagt dazu: „Ich habe gesundheitliche Besonderheiten, aber das bedeutet nicht, dass ich keine Verantwortung übernehmen kann. Ich bin selbst für meine Gesundheit verantwortlich.“
Die beiden jungen Frauen, so wie andere Menschen ihres Alters auch, möchten von der Gesellschaft als Erwachsene angesehen werden. Doch häufig, so Leichtfuß, würden fremde Menschen ihre Kolleginnen und Kollegen mit Down-Syndrom unaufgefordert duzen. „Die Gesellschaft verniedlicht Menschen mit Down-Syndrom gern. Sie geht mit ihnen um wie mit Kindern“, sagte Leichtfuß. Ihrer Auffassung nach führt das zu Befangenheit und weiteren Barrieren. Genau wie herablassende Spitznamen. Knopp berichtet von einem Vorfall aus dem Alltag einer ihrer Kolleginnen: „Darf ich dich Downie nennen?“, fragte ein Fremder diese einmal ganz ungeniert. Die souveräne Antwort der Kollegin: „Für dich heiße ich Nora!“
 

Inzwischen fünf Medizinische Zentren für Menschen mit geistiger und Mehrfachbehinderung (MZEB) tätig

Eine bessere regelhafte Versorgung für erwachsene Menschen zum Beispiel mit einem Down-Syndrom sollen Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB) sicherstellen. Die Idee geht zurück auf politische Forderungen von Selbsthilfegruppen und Fachverbänden in den 1990er-Jahren. Dies hat der Gesetzgeber mit dem § 119c SGB V umgesetzt. MZEB sollen eine interdisziplinär und multiprofessionell ausgestaltete Versorgung ermöglichen, sofern die Schwere oder Komplexität der Behinderung oder des auf dem Hintergrund der Behinderung bestehenden Gesundheitsproblems die Möglichkeiten des medizinischen Regelversorgungssystems überfordert. In Nordrhein haben derzeit fünf MZEB (Aachen (2), Essen, Neuss und Nümbrecht) die notwendigen Verträge mit den Krankenkassen abgeschlossen. Zum Angebotsspektrum gehören:

•    Erhaltung oder Verbesserung des Gesundheitszustandes 
•    Erhaltung und Verbesserung vorhandener Funktionen und Fähigkeiten 
•    Prophylaxe vermeidbarer Folgekrankheiten 
•    Vermeidung von Unter-, Über- und Fehlversorgungen 
•    Sozialmedizinische Beratung und Unterstützung bei der Leistungserschließung im Hinblick auf Hilfsmittel, Heilmittel und andere
•    Förderung individueller Selbstständigkeit sowie Verwirklichung umfassender Teilhabechancen