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Freiberuflichkeit unter Druck

Die freien Berufe, zu denen auch der Arztberuf zählt, seien eine wichtige, möglicherweise unverzichtbare Grundlage der freiheitlichen Gesellschaft in Deutschland. Die Freiberuflichkeit stehe jedoch erheblich unter Druck, warnte Peter Müller, ehemaliger saarländischer Ministerpräsident und Bundesverfassungsrichter a.D. bei der 11. Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung Ende August in Düsseldorf. Überlegene Alternativen zur freiberuflichen ärztlichen Tätigkeit sehe er nicht. 

von Heike Korzilius

Der große Saal war fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf dem Programm stand ein Grundsatzthema: die ärztliche Freiberuflichkeit als Garant für Therapiefreiheit und Patientenorientierung im Gesundheitswesen. Gut 300 Gäste hatten sich am 28. August im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf zur 11. Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung eingefunden, in deren Rahmen der ehemalige CDU-Ministerpräsident des Saarlandes und Bundesverfassungsrichter a.D., Peter Müller, darüber referierte, warum es allen Grund gibt, die Freiberuflichkeit zu verteidigen und sich dafür einzusetzen. Denn die Alternativen seien Staatsmedizin mit den bekannten Effizienzverlusten oder die „Vollkommerzialisierung“ der gesundheitlichen Dienstleistungen. „Und die wird im Zweifel dem Gebot, eine gleichmäßige medizinische Versorgung für die gesamte Bevölkerung zu gewährleisten, nicht Rechnung tragen“, mahnte Müller. 

Am Gemeinwohl orientiert

Doch die Freiberuflichkeit ist dem ehemaligen Verfassungsrichter zufolge kein Selbstläufer und steht gleich von mehreren Seiten unter Druck: Sie werde bedroht von überbordender Bürokratie, zunehmender Kommerzialisierung und vonseiten der Europäischen Kommissionen. Diese hätten bislang die freien Berufe eher als eine Störung des Binnenmarktes angesehen, und deshalb ziele die europäische Binnenmarktstrategie auf die schrittweise Gleichstellung von gewerblicher und freiberuflicher Tätigkeit. 

Die Abgrenzung von Gewerbe und freiem Beruf verschwimme aber auch im Zuge einer fortschreitenden Kommerzialisierung der medizinischen Versorgung, mahnte Müller. Den Kern freiberuflicher ärztlicher Tätigkeit sieht er in der Orientierung sowohl am Wohl des einzelnen Patienten als auch an der gesamten Gesellschaft. Wenn aber durch den Einstieg von Fremdinvestoren beispielsweise in Medizinische Versorgungszentren Renditeerwartungen das Angebot und die Therapieentscheidungen bestimmten, dann sei das mit dem Wesen der freiberuflichen Tätigkeit nicht mehr vereinbar. Hier sei der Gesetzgeber aufgerufen, einen Regelungsrahmen zu schaffen, der die Freiberuflichkeit schütze, forderte Müller.

Zum Kern der ärztlichen Freiberuflichkeit gehöre auch, dass die Ärztinnen und Ärzte ihre Leistungen eigenverantwortlich, persönlich und fachlich unabhängig erbringen, führte der ehemalige Verfassungsrichter weiter aus. Das begründe die ärztliche Therapiefreiheit und zugleich das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und ihren Patienten. „Der freie Beruf des Arztes ist nicht das Recht, zu tun und zu lassen, was man will. Es ist vielmehr die Pflicht zur Wahrnehmung einer besonderen Verantwortung gegenüber dem Patienten“, sagte Müller. Die Berufsfreiheit des Arztes, die im Gegensatz zum Begriff der Freiberuflichkeit im Grundgesetz verankert sei, sei eine fremdnützige Freiheit. Die ärztliche Berufs- und Therapiefreiheit müsse stets austariert werden mit der Möglichkeit des Staates, die Berufsausübung zu regeln, und dem Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen und Patienten. So dürfe kein Patient nach umfassender Aufklärung gezwungen werden, sich einer bestimmten Behandlung zu unterziehen. Ebenso wenig dürften Ärztinnen und Ärzte gezwungen werden, gegen ihre ärztliche Überzeugung Behandlungen durchzuführen. „Das Recht des Arztes, sich zu verweigern, gilt nicht nur bei Abtreibung oder bei der Unterstützung des Suizids. Es ist ein generelles Recht“, bekräftigte Müller. 

Privat hat Vorrang vor Staat

Schwieriger werde es, wenn man sich mit der Frage nach den staatlichen Möglichkeiten befasse, die Aufnahme und Ausübung ärztlicher Tätigkeiten einzuschränken. Da das Grundgesetz von der Freiheit jedes Einzelnen ausgehe, bedürfe jede Einschränkung dieser Freiheit der demokratischen Legitimation durch das Parlament. Dieses wiederum habe das Recht, Regelungsbefugnisse beispielsweise an die ärztliche Selbstverwaltung zu delegieren. Ob die Beschränkungen ärztlicher Tätigkeit durch Organe der Selbstverwaltung immer ausreichend legitimiert sind, bezweifelte Müller und verwies auf den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), der in bestimmten Bereichen entscheiden kann, wer mit welcher Qualifikation welche Therapien zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbringen kann. Es gebe dazu zwar keine gerichtlichen Entscheidungen, aber in der verfassungsrechtlichen Literatur eine Reihe von Positionen, die seine Auffassung teilten, so Müller: „Man sollte wenigstens schauen, dass die Legitimationsbasis des G-BA eine möglichst breite ist.“ Das heiße eben auch, dass die Ärzteschaft dort angemessen vertreten sein müsse. 

Einschränkungen der ärztlichen Tätigkeit durch den Gesetzgeber müssten durch ein gleichwertiges Gemeinwohlgut gerechtfertigt sein, betonte Müller. Er zählte dazu die Qualität der ärztlichen Versorgung ebenso wie die Beitragssatzstabilität oder den Erhalt der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Einschränkungen müssten zudem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfüllen, sprich: das Ziel müsse mit dem mildesten Mittel erreicht werden. Nach dem Geist des Grundgesetzes sollte sich im Zweifel die Freiheit durchsetzen, erklärte Müller und schränkte ein: „Wir leben in einer Welt, in der es genau umgekehrt ist.“ 

Müller vertrat den Standpunkt, dass der Staat nur dann in das Leben seiner Bürger eingreifen sollte, wenn es zwingend erforderlich ist. Eigenverantwortung habe immer Vorrang vor staatlicher Verantwortung. Ein so verstandenes Subsidiaritätsprinzip, auf dem auch die ärztliche Selbstverwaltung gründe, habe evidente Vorteile, sagte der ehemalige Verfassungsrichter. Es würden sachnahe Entscheidungen von denjenigen getroffen, die aufgrund ihrer Qualifikation wüssten, worum es geht. In selbstverwalteten Systemen gebe es Innovationspotenziale und die Chance zum Experiment. „Ärztliche Selbstverwaltung ist gelebte Subsidiarität und deshalb unverzichtbarer Teil der freiberuflichen Tätigkeit der Ärztinnen und Ärzte“, betonte Müller. 

In diesem Zusammenhang appellierte er an Politik und Gesellschaft: „Wir brauchen ein stärkeres Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit ärztlicher Tätigkeit, das Vertrauen, dass Ärztinnen und Ärzte dem Ethos ihres Berufs Rechnung tragen.“ Bestimmte Fragen und Entscheidungen ließen sich nicht abstrakt und allgemeingültig durch Gesetze regeln, weil sie jeweils ganz individuell getroffen werden müssten. Als Beispiele führte Müller die im vergangenen Jahr gescheiterten Gesetzentwürfe zur Suizidbeihilfe und die Verfassungsbeschwerde des Marburger Bundes gegen die Ex-post-Triage an. „Hier sind wir in Bereichen, in denen möglicherweise das Recht schweigen muss und wir Vertrauen haben müssen, dass Ärztinnen und Ärzte in dieser Situation das Richtige, das dem Patienten Angemessene tun.“

 

Die Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesungsreihe

Zum elften Mal fand in diesem Jahr die Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung statt. Sie erinnert an den ehemaligen Präsidenten der Bundesärztekammer und der Ärztekammer Nordrhein, der am 7. November 2011 verstarb. Hoppe habe für eine feste ethische Fundierung des Arztberufs gestanden, sagte sein Nachfolger im Amt des Präsidenten der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke, der Ende August aus dem Amt schied. Hoppe habe sich stets gegen die Ökonomisierung der Medizin gewehrt und sich leidenschaftlich für die ärztliche Freiberuflichkeit und die damit verbundene Therapiefreiheit und Patientenorientierung eingesetzt. Zwar entferne sich die Wirklichkeit in Krankenhaus und Praxis zunehmend von dem von Hoppe gezeichneten Ideal der Freiberuflichkeit, erklärte Henke. „Aber deshalb sollten wir nicht resignieren und weiterhin als Kammern dafür einstehen, dass der Erhalt der Freiberuflichkeit und der Therapiefreiheit grundlegend für eine gute Patientenversorgung ist und bleibt.“ 
Die diesjährige Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung bildet mit ihrem Thema „Zwischen Therapiefreiheit und Fremdbestimmung – Ärztliche Freiberuflichkeit in der Bewährung“ den Auftakt zu einer geplanten Veranstaltungsreihe „Arztbild im Wandel“. Untersucht werden soll hierbei insbesondere, wie sich neuere Entwicklungen wie KI, Digitalisierung, Ökonomisierung, Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen, aber auch die vielfach geforderte Liberalisierung von Suizidassistenz und Reproduktionsmedizin auf das Selbstverständnis ärztlicher Berufsausübung auswirken und das Bild des Arztes in der Öffentlichkeit verändern.