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Begrüßungsveranstaltung für neue Kammermitglieder 2012


Hat Hippokrates existiert?

Bei der vierten Begrüßungsveranstaltung der Ärztekammer Nordrhein für ihre neuen Mitglieder sprach der Medizinhistoriker Professor Dr. Klaus Bergdolt über Mythos und Wirklichkeit des berühmten Griechen, dessen Eid das ärztliche Selbstverständnis geprägt hat.

Kammerpräsident Rudolf Henke erläuterte den neuen Mitgliedern die heutige Funktion und die historisch gewachsene Stellung der Ärztekammern im deutschen Gesundheitswesen: Als öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungskörperschaft nimmt die Ärztekammer Nordrhein nach dem Heilberufsgesetz des Landes die beruflichen Belange aller Ärztinnen und Ärzte im Landesteil wahr, der die Regierungsbezirke Köln und Düsseldorf umfasst. Dabei ist sie keine reine ärztliche Interessenvertretung wie die ärztlichen Verbände, sondern gesetzlich auf die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben verpflichtet. Diese nimmt sie ganz überwiegend in Selbstverwaltung wahr, in kleinerem Umfang erfüllt sie, dann weisungsgebunden, auch staatliche Aufgaben. Nordrhein-Westfalen ist das einzige Bundesland mit zwei Ärztekammern, neben der Ärztekammer Nordrhein gibt es die Ärztekammer Westfalen-Lippe in Münster. Die rheinische Ärztekammer ist die drittgrößte bundesweit.


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Die Pflichtmitgliedschaft in der Kammer ist verbunden mit – nach Einkommen gestaffelten – Pflichtbeiträgen. Die Mitglieder ihrerseits können die Entscheidungen der Kammer auf demokratischem Wege mitgestalten – zum Beispiel mit ihrer Stimme bei den alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen zur Kammerversammlung. Dieses ist das höchste Organ der Kammer, nach Rudolf Henkes Worten das „Parlament der rheinischen Ärztinnen und Ärzte“, dem 121 Mitglieder angehören. Sie haben beispielsweise bei der Weiterbildungsordnung oder der Berufsordnung das letzte Wort.

Dem Gemeinwohl verpflichtet

Die Kammerversammlung wählt den 18-köpfigen Vorstand, der die Geschäfte der Kammer führt, und den Präsidenten, der ebenfalls ein gesetzliches Organ der Kammer ist, sowie den Vizepräsidenten als dessen Vertreter. Auch die 27 Kreisstellenvorstände und die acht Bezirksstellenausschüsse werden alle fünf Jahre gewählt. Darüber hinaus gestalten die Mitglieder in zahlreichen Ausschüssen und Kommissionen die Arbeit ihrer Kammer mit.

Die Wurzeln der heutigen Ärztekammern reichen zurück bis ins Kaiserreich des 19. Jahrhunderts, wie Rudolf Henke erläuterte: Ein Merkmal der Bismarckschen Sozialgesetzgebung der Jahre 1883/84 war die Selbstverwaltung. Im Jahre 1887 findet sich in der „Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten“ der Satz: „Für jede Provinz ist eine Ärztekammer zu errichten.“ 1892 wurde in Hamburg die erste Ärztekammer gegründet, um 1930 entstanden Ärztekammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Regelung der Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen, anfänglich auch eine Aufgabe der Ärztekammern, ist seit Langem Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigungen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Ärztekammern entmachtet und durch den Reichsärztebund ersetzt.

Heute kümmert sich die Ärztekammer nach den Worten des Kammerpräsidenten im Interesse des Gemeinwohls zum Beispiel um die in der Berufsordnung formulierte ärztliche Ethik, die ärztliche Weiterbildung, die Fortbildung und die Qualitätssicherung in der Medizin. Zur Wahrung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder nimmt die Kammer beispielsweise Stellung zu Gesetzen und Verordnungen und unterhält regelmäßige Kontakte zur Landesregierung, zum Parlament sowie zu den Medien. In den vielfältigen Fragen des Gesundheitswesens und der Medizin sind die Kammer und ihre Einrichtungen Ansprechpartner auch für Bürger und Patienten. Zum Beispiel schlichtet die bei der Kammer eingerichtete Gutachterkommission bei Behandlungsfehler-Vorwürfen. Auch bei Streitigkeiten über privatärztliche Honorarforderungen bietet die Ärztekammer eine Schlichtung an. Die Kooperationsstelle für Selbsthilfegruppen und die neu eingerichtete Bürgerberatung stehen mit Auskünften zur Verfügung. Zur
Alterssicherung ihrer Ärztinnen und Ärzte hat die Kammer die Nordrheinische Ärzteversorgung eingerichtet.

Streifzug durch die Geschichte

Als erste grundlegende Formulierung einer ärztlichen Ethik gilt der Eid des Hippokrates. Vielfach wird angenommen, dass Ärztinnen und Ärzte diesen Eid nach wie vor schwören. Tatsächlich ist das nicht der Fall, sondern heute sind die Ärztinnen und Ärzte in Deutschland verpflichtet auf das Gelöbnis, das ihrer Berufsordnung voransteht (siehe Kasten oben). Dieser Text leitet sich ab von der Genfer Deklaration des Weltärztebundes aus dem Jahr 1949 – und eben vom Hippokratischen Eid, der insofern bis heute nachwirkt.

Der Wirkungsgeschichte dieses historischen Gelübdes war der Festvortrag für die neuen Kammermitglieder gewidmet, den Professor Dr. Klaus Bergdolt hielt, der Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität zu Köln.

Bei seinem Streifzug durch die Jahrhunderte warf Bergdolt zunächst die überraschende Frage auf, ob Hippokrates überhaupt gelebt habe – was bedeuten würde, dass der berühmte Eid lediglich ein Mythos wäre: „Vor 50 Jahren gab es einige Medizinhistoriker, die die These aufstellten, dass Hippokrates überhaupt nicht existiert hätte. Das wirkt einigermaßen schockierend, weil wir ja normalerweise annehmen, dass der Eid des Hippokrates die Medizingeschichte und die Ärzte seit Jahrhunderten und Jahrtausenden begleitet.“

Das Porträt des Hippokrates, wie es als römische Kopie eines griechischen Originals im Nationalmuseum in Neapel zu besichtigen ist, taugt nach Bergdolts Worten nicht als Beweis für die reale Existenz des griechischen Arztes, denn: „Auch die Götter haben solche Statuen erhalten.“

Letztlich aber konnte der Medizinhistoriker Entwarnung geben: In der zeitgenössischen Literatur finden sich nach seinen Worten Belege dafür, dass Hippokrates von Kós (um 460 bis 370 v. Chr.) eine geschichtliche Figur ist. So wurde er um 400 vor Christus vom Zeitgenossen Platon in dessen Phaidros sowie im Protagoras erwähnt, außerdem vom Platon-Schüler Aristoteles in dessen Politik. Bergdolt: „Hippokrates war also in Athen im Umfeld von Platon bekannt. Hippokrates hat existiert.“

Weitere Hinweise finden sich dann erst wieder in einem Text des Apollonios von Kition, einem bedeutenden Arzt in der heutigen Westtürkei, im 1. Jahrhundert vor Christus. Dieser charakterisiert Hippokrates als „göttlichst“, „wahrheitsliebend“, aber auch „unklar in der Ausdrucksweise“. Im zehnten Jahrhundert wurde dieser Text, der heute dem Gebiet Orthopädie zuzuordnen wäre, von einem unbekannten Arzt aufgegriffen und mit Illustrationen versehen.
Heute gilt es nach Bergdolts Worten als gesichert, dass die Werke Epidemien I und III, Prognostikon, Über die Heilige Krankheit, Der Eid und Aphorismen aus der Zeit des Hippokrates stammen: „Wir sprechen heute in der Medizingeschichte vom sogenannten Corpus Hippokratikum. Das bedeutet, dieses Werk, das viele Bücher einschloss, ist entstanden zwischen 400 und 100 vor Christus. Im Laufe von etwa drei Jahrhunderten haben gelehrte Ärzte und Philologen dieses Corpus zusammengestellt. Um seine Bedeutung zu erhöhen, haben sie alle Schriften dem Hippokrates zugeschrieben.“

Weitere Spuren des Hippokrates finden sich im zweiten Jahrhundert bei Galen von Pergamon, laut Bergdolt der bedeutendste und folgenreichste Medizinschriftsteller der Antike. Er nimmt Bezug auf die Schrift Über die Natur des Menschen, in der Hippokrates die sogenannte Viersäftelehre thematisiert. Syranus von Ephesus schreibt im gleichen Jahrhundert eine Vita über Hippokrates. „Da bringt er alles rein, was er so an Mythen hört, und erfindet selbst noch einige dazu“, so Bergdolt. Doch dieser „Phantasieroman“ sei im Mittelalter und in der Renaissance für bare Münze genommen worden: „Da ist dann wirklich ein Mythos entstanden von dem Heroen Hippokrates, der im 17. Jahrhundert von einigen auch schon als Hippokrates der Große bezeichnet wird.“

Durchbruch im 16. Jahrhundert

Der Eid wird erstmals in der Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christus, also rund 430 Jahre nach Hippokrates erwähnt – in den Compositiones des Scribonius Largus, der Leibarzt von Kaiser Claudius war. Im 2. Jahrhundert erwähnt der Stoiker Serapion den Eid in einem Gedicht über Die Pflichten des Arztes. Die Passage erschien auch auf einer Steintafel am Asklepieion in Athen (3. Jahrhundert n. Chr.). Im frühen Mittelalter wird der Text häufiger genannt, der um 790 im sogenannten Lorscher Arzneibuch exakt wiedergegeben ist.

Einfluss auf die praktische Medizin und die ärztliche Ausbildung jedoch gewann er erst im 16. Jahrhundert. Die erste – aus damaliger Sicht komplette – lateinische Druckausgabe von Marco Fabio Calvo erschien im Jahre 1525 in Rom, die erste griechische Ausgabe von Francesco d`Asola 1526 in Venedig. In jenem Jahrhundert dürfte der Eid in Deutschland erstmals von angehenden Ärzten geschworen worden sein, wie die Statuten der Medizinischen Fakultät der Universität Wittenberg (1502 – 1508) belegen.

Das ärztliche Selbstverständnis wurde seither von dem Eid geprägt. Er postuliert beispielsweise das Gebot, Kranken nicht zu schaden, die ärztliche Schweigepflicht und das Verbot sexueller Handlungen an Patienten. Schwangerschaftsabbruch und aktive Sterbehilfe werden durch den Eid des Hippokrates ausdrücklich untersagt.