Dokumentation
Düsseldorf, 17.5.2017. Rund 20 Prozent der Mädchen und Jungen in Deutschland erleiden aufgrund belastender Lebenslagen schon in früher Kindheit erhebliche Einschränkungen in ihrer Entwicklung. Viele Studien zeigen, dass sich ungleiche Startbedingungen in der Kindheit sowohl auf Gesundheit als auch auf Teilhabechancen im Lebensverlauf auswirken. So haben zum Beispiel Kinder psychisch erkrankter Eltern ein stark erhöhtes Risiko, im Laufe ihres Lebens selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Aber auch sozioökonomische und soziokulturelle Aspekte wie Armut, unzureichende Wohnverhältnisse, kulturelle Diskriminierung, der Verlust von Bezugspersonen sowie fehlende Gesundheitskompetenz der Eltern können sich dauerhaft negativ auf die Gesundheit von Kindern auswirken. Um belasteten Familien und deren Kindern schon von Geburt an passgenaue Hilfen zu vermitteln, wurden im Rahmen des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ vor Jahren das Nationale Zentrum Frühen Hilfen (NZFH) etabliert. Die über das Bundeskinderschutzgesetz gesetzlich verankerten „Frühen Hilfen“ sind mittlerweile deutschlandweit flächendeckend eingerichtet und sind vor allem durch das neue Aufgabenspektrum der Familienhebammen bekannt geworden.
Mechthild Paul, Leiterin des NZFH, forderte hierzu: „Wir müssen Mittel gegen den Fachkräftemangel vor allem bei den Familienhebammen finden. Für den Start ins Leben muss uns regelhaft eine bessere Vernetzung zwischen Gesundheitssystem und Jugendhilfe gelingen.“
Frühe Hilfen zielen darauf ab, Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern in Familie und Gesellschaft frühzeitig und nachhaltig zu verbessern. Die Notwendigkeit der Kooperation beispielsweise mit dem Gesundheitswesen ist in den Frühen Hilfen unbestritten, da ein gesundes Aufwachsen nur durch eine ganzheitliche Sichtweise unter besonderer Berücksichtigung der Aspekte Bildung, (gesundheitlicher) Förderung und Schutz möglich ist.
Die Leistungen der „Frühen Hilfen“ gehen dabei weit über den Einsatz von Familienhebammen hinaus, sind aber durch ihre strukturelle Einbindung in der Kinder- und Jugendhilfe dem Gesundheitswesen auch nach Jahren noch zu wenig bekannt und eine systematische Zusammenarbeit zwischen den beiden Sozialsystemen nicht flächendeckend umgesetzt. Um hier Transparenz und Kooperation herzustellen, starten in NRW in diesem Jahr mehrere Projekte, die auf dem 6. Kammerkolloquium vorgestellt wurden.
Aussichtsreiche Projekte in NRW
In seinem Grußwort berichtete Ministerialrat Heiner Nienhuys, Referatsleiter Prävention, Frühe Hilfen, Kinderschutz, pädagogische Förderkonzepte aus dem Familienministerium Nordrhein-Westfalen, von aussichtsreichen Projekten, die in NRW zu einer systematischeren Vernetzung der unterschiedlichen Sozialsysteme beitragen sollen. Ansätze guter Kooperation zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen sehe die Landesregierung langfristig in Lotsendiensten von Familienhebammen in Geburtskliniken, in der flächendeckenden Implementierung von hilfesystemübergreifenden Qualitätszirkeln in Kooperation mit den Kassenärztlichen Vereinigungen in NRW, sowie in dem Projektansatz „Soziale Prävention“, in denen Vertreterinnen der Jugendhilfe Sprechstunden in Kinderarztpraxen anbieten würden.
Auch die Landesverbandsvorsitzende der Kinder- und Jugendärzte in Nordrhein, Christiane Thiele, sagte: „Wenn wir in unseren Praxen belastete Familien frühzeitig erkennen und uns die Vermittlung in passgenaue Präventionsangebote gelingt, dann beeinflussen wir im positiven Sinne komplette Familienlebensläufe über Generationen hinweg. Wir denken da in Jahrzehnten und nicht in Quartalen“.
Die Einbeziehung des Gesundheitswesens, insbesondere der Geburtskliniken als Partner der Frühen Hilfen hält auch Professor Dr. Ute Thyen, Vorsitzende des NZFH-Beirates und Stellvertretende Klinikdirektorin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Lübeck, für einen erfolgversprechenden Weg. Dabei gehe es in den Kliniken weniger darum, neue, zeitaufwändige Aufgabengebiete einzuführen, als vielmehr innerhalb der täglichen Arbeit eine andere Haltung zu etablieren. Momente, die sich beispielsweise im Rahmen von Untersuchungen oder Arzt-Patienten-Gesprächen ergeben, sollten feinfühlig genutzt werden, um den möglichen Hilfebedarf in Familien zu erkennen, ein vertiefendes Gespräch anzuschließen und gegebenenfalls an Angebote der Frühen Hilfen weiterzuleiten. Grundlage jedweden gelingenden Engagements von Pflegekräften, Hebammen oder Ärztinnen und Ärzte seien dabei Achtsamkeit sowie eine klientenzentrierte Gesprächshaltung mit Empathie, Wertschätzung und Akzeptanz für die jungen Familien.
Professor Dr. Marcus Siebolds, Professor für den Lehrbereich Medizinmanagement und Prodekan des Fachbereichs Gesundheit an der Katholischen Hochschule in Köln, sieht hierzu auch Bedarf bei der Vernetzung der Frühen Hilfen mit dem ambulanten Bereich. Er ist überzeugt: Der psychosoziale Beratungsbedarf für Familien in den Kinderarztpraxen werde weiterhin kontinuierlich steigen. Doch schon heute werde dieser Bedarf im aktuellen EBM nicht angemessen berücksichtigt, da dort Kinder nur als Empfänger medizinischer Leistungen definiert seien. Kinder aus belasteten Familien bedürften aber häufiger sozialpädagogischer, familienunterstützender oder psychologischer Leistungen des Kinder- und Jugendhilfebereichs, die wiederum im SGB VIII verortet seien. Eine direkte Überweisung in den jeweils anderen Bereich sei nur bedingt möglich. Das führe aktuell dazu, dass belastete Familien im SGB V oft mit medizinischen Leistungen in Ermangelung pädagogischer Angebote unter- oder fehlversorgt würden. Als Beispiel führte Siebolds den Anstieg im Leistungsbereich der Logopädie und Ergotherapie an. Um diese ungünstige Entwicklung aufzuhalten habe das NZFH in Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (2011-2015) ein Projekt aufgelegt, um eine tragfähige Struktur zur nachhaltigen Vernetzung von kommunaler Jugendhilfe und Vertragsärztinnen und -ärzten, sowie Vertragspsychotherapeutinnen und- therapeuten im Rahmen der Frühen Hilfen zu erproben. Projektziel sei die Einrichtung hilfesystemübergreifender vertragsärztlicher Qualitätszirkel, die der Vernetzung von Mitarbeitenden aus Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhilfe dienen sollten. Vier Kernelemente für die Qualitätszirkelarbeit seien dazu entwickelt worden. Darunter ein Schulungskonzept für die Ausbildung der Moderatorenteams (1 Vertragsarzt und 1 Vertreter Kinder- und Jugendhilfe) sowie drei Angebote zur Gestaltung von Qualitätszirkeln in Form sogenannter Dramaturgien. Hierbei handele es sich um die „Familienkonferenz“ als fallanalytisches Verfahren, die klinische Fallfindung belasteter Familien und das motivierende Elterngespräch zur Unterstützung der Überleitung von Familien aus der Kinderarzt- oder Gynäkologenpraxis in die Angebotsstrukturen der Frühen Hilfen.
Siebolds Resümee: „Wir freuen uns, dass wir nach erfolgreicher Implementierung in Baden-Württemberg das Projekt in sieben weiteren Bundesländern etablieren können, und dass wir, wie Herr Nienhuys erwähnte, auch in Nordrhein-Westfalen unmittelbar vor einem Vertragsabschluss zur Einrichtung hilfesystemübergreifender Qualitätszirkel stehen.“
Dr. med. Hans-Helmut Brill, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in Köln und der erste Arzt, der als Moderator in Nordrhein für die zukünftigen interdisziplinären Qualitätszirkel ausgebildet wurde, ergänzte Siebolds Vortrag durch einen Praxisbericht, der rundum positiv auffiel. So habe ihm die Arbeit im Qualitätszirkel in mehrfacher Hinsicht genutzt. Zum einen gelänge es ihm durch den Austausch mit Ansprechpartnern aus der Kinder- und Jugendhilfe belastete Familien schneller zu identifizieren. Zum anderen seien ihm heute Netzwerke bekannt, zu denen er Familien zeitnah schicken könne. Dies stelle eine wesentliche Erleichterung in seinem beruflichen Alltag dar.
Unterwegs mit schwerem Gepäck
In NRW leben derzeit rund 13.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Wohnheimen und rund 74.000 minderjährige Flüchtlinge bei ihren Familien und Verwandten. Auch ihr Start ins Leben ist durch Kriegsgeschehen und Fluchterfahrungen stark beschwert. Ihnen allen ist gemein, dass sich ihr Leben aufgrund von Krieg, Hunger, Folter, Prostitution und Flucht in kürzester Zeit drastisch verändert hat.
Die Kinder kommen, wie es Dr. phil. Dipl.-Psych. Marco Walg, Leiter der Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Sana Klinikums Remscheid in Wuppertal, in seinem Vortrag beschrieb, mittellos nach Deutschland, aber in ihrem Gepäck seien Angst, Schmerzen, Trauer, Einsamkeit und Zorn. Sie benötigten zur Anpassung an ihr neues Leben psychosoziale Unterstützung, einige von ihnen aber auch medizinische und psychotherapeutische Versorgung. Diese wichtigen Versorgungsleistungen führten Ärztinnen und Ärzte derzeit im Schatten öffentlicher Diskussionen durch, in denen Flüchtlinge teils als Simulanten beschrieben würden, so Walg.
Ärztinnen und Ärzte sehen sich darüber hinaus auch immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden durch medizinische Gefälligkeitsgutachten berechtigte Abschiebungen verhindern. Unter den Eindrücken dieser Diskussion berichteten Privatdozent Dr. med. Gerhard Hapfelmeier, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Sanaklinikum Remscheid sowie Dr. phil. Dipl.-Psych. Michael Simons, leitender Psychologe an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum in Aachen, aus ihren täglichen Erfahrungen bei der psychotherapeutischen Behandlung minderjähriger Flüchtlinge. Hapfelmeier erläuterte stellvertretend die Situation, die sich ihnen derweil in der Versorgung bietet. Natürlich gäbe es Fälle, bei denen zu diskutieren sei, ob sich ein minderjähriger Flüchtling Vorteile erschleichen und Krankheiten simuliere. Doch viel häufiger sehe man Kinder- und Jugendliche, die aus Scham Probleme eher verschwiegen, die von psychologischen Problemen nichts wissen und keine Schwäche zeigen wollten. Dem Vorwurf der Simulation entkräftete er mit Bildern von Kindern aus seiner Ambulanz mit eindeutigen Kriegs- und Folterspuren. Diesen Kindern und Jugendlichen eine gute Behandlung angedeihen zu lassen, um sie für das Leben in Deutschland aufzustellen, sei die therapeutische Herausforderung seiner Klinik.
Gutachten rechtssicher formulieren
Wichtig sei es, sich als Behandler von den öffentlichen und mit Vorurteilen belasteten Diskussionen zu lösen, auf den Einzelfall zu schauen, um mit kühlem Kopf zu entscheiden, ob und in welchem Umfang Behandlung nötig sei. Die gleiche Haltung würde auch bei der Begutachtung im Rahmen von Abschiebungen helfen. Es sei nicht die Aufgabe der Kliniken und der dort tätigen Ärzte, Menschen generell vor Abschiebungen zu schützen. Vielmehr ginge es darum, differenzierte, gut begründete Gutachten zu verfassen, die im Einzelfall zu den medizinisch richtigen Empfehlungen für die ihnen anvertrauten Patienten führten. Die neuen gesetzlichen Bestimmungen zur Reisefähigkeit im Asylpaket II stellten höhere Ansprüche an die Gutachter, die differenzierter als zuvor, individuell den Schweregrad der Erkrankung, die gegebenenfalls zu erwartende Verschlechterung der Erkrankung bei Abschiebung, die Bedingungen der Fluchtgeschichte sowie die Berücksichtigung der Behandlungsmöglichkeiten im Abschiebeland im Gutachten medizinisch korrekt und rechtsicher zu beschreiben hätten. Dieser Aufgabe würden Ärztinnen und Ärzte in ihren Ambulanzen gewissenhaft nachkommen.