Düsseldorf, 28.1.2025. Wichtige gesundheitspolitische Reformvorhaben liegen wegen des Bruchs der Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf Eis. Zu nennen sind hier beispielhaft die Reform von Notfallversorgung und Rettungsdienst oder auch die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach versprochene Entbürokratisierung. Dessen Krankenhausreform muss zudem nach Ansicht der Betroffenen dringend nachgebessert werden. Der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Dr. Sven Dreyer, und der Vizepräsident Dr. Arndt Berson haben mit Blick auf die vorgezogene Bundestagswahl am 23. Februar neun Kernforderungen formuliert, die dazu dienen können, das deutsche Gesundheitswesen zukunftsfest aufzustellen.
1. Freiberuflichkeit bewahren
Ärztinnen und Ärzte üben einen freien Beruf aus, ganz gleich ob sie als Angestellte oder als Selbstständige in eigener Praxis arbeiten. Sie sind ihren Patienten und dem Gemeinwohl verpflichtet und erbringen ihre Leistungen eigenverantwortlich, persönlich und fachlich unabhängig. Sie sind frei in ihren Therapieentscheidungen und an Weisungen Dritter nicht gebunden. Das begründet zugleich das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und ihren Patienten. Die Alternative zur ärztlichen Freiberuflichkeit sind Staatsmedizin oder die uneingeschränkte Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung. Beides ist bislang in Deutschland politisch nicht gewollt. Es gilt deshalb, eine überbordende Kontrollbürokratie abzubauen, staatliche Eingriffe in das Gesundheitswesen auf ein verträgliches Maß zurückzuschrauben und der zunehmenden Kommerzialisierung der gesundheitlichen Versorgung durch private Investoren Einhalt zu gebieten. Das Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit der ärztlichen Tätigkeit und in das ärztliche Ethos muss wiederhergestellt werden.
2. Selbstverwaltung stärken
Die berufliche Selbstverwaltung als freiheitliches und demokratisch legitimiertes Organisationsprinzip der Ärztinnen und Ärzte ist untrennbar mit der ärztlichen Freiberuflichkeit verbunden. Die Ärzteschaft verfügt – wie auch ihre Selbstverwaltungspartner aus Kassen und Krankenhäusern – über die Fachkenntnis und die praktische Erfahrung, um berufliche Angelegenheiten kompetenter zu regeln als der Staat. So entscheiden die Ärztekammern im staatlichen Auftrag über die Regeln der Berufsausübung und der Weiterbildung, und sie überwachen die Einhaltung ärztlicher und ethischer Standards. Diese Strukturen gilt es zu stärken und auszubauen. Die Ärzteschaft sollte wie auch die übrigen Partner der Selbstverwaltung mit ihrem Expertenwissen stärker als bisher in politische und gesetzgeberische Prozesse eingebunden werden. Nur so lassen sich Lösungen finden, die an der Sache orientiert und nicht ideologisch motiviert sind.
3. Föderalismus erhalten
Die Verteilung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen hat sich bewährt und darf nicht aufgeweicht werden. Zentrale Strukturen und Vorgaben können den regionalen Anforderungen nicht gerecht werden. Beispiel Krankenhausreform: Hier hat der noch amtierende Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach klar in die Kompetenzen der Länder eingegriffen, die nach dem Grundgesetz für die stationäre Versorgung ihrer Bürgerinnen und Bürger und damit unter anderem für die Krankenhausplanung verantwortlich sind. Und das aus gutem Grund. Denn nur vor Ort können die Verantwortlichen einschätzen, was es für die Versorgung der Patientinnen und Patienten bedeutet, wenn ein Krankenhaus schließt oder ein Standort verlagert wird. Die in Berlin ersonnenen Vorgaben, die für jede Klinik die Finanzierung einer medizinischen Leistung an das Vorhandensein einer ganz bestimmten Zahl von Fachärztinnen und Fachärztinnen knüpfen, verkennen die unterschiedliche Lage in den einzelnen Ländern. Lösungen vom „grünen Tisch“ in Berlin gehen zu häufig an den Realitäten vor Ort vorbei. Die Länder müssen deshalb in ihren Rechten gestärkt und in gesundheitspolitische Reformen ebenso angemessen eingebunden werden wie die Partner der Selbstverwaltung.
4. Bürokratie abbauen
Das deutsche Gesundheitswesen muss dringend von überbordender Bürokratie entlastet werden. In den Krankenhäusern verbringen sowohl Ärzte als auch Pflegekräfte täglich im Schnitt drei Stunden mit Dokumentationspflichten, die häufig keinen unmittelbaren Nutzen für die Behandlung der Patientinnen und Patienten haben. In den Praxen niedergelassener Ärztinnen und Ärzte ist es nicht besser. Aktuell verbringt jede Praxis mehr als einen Tag pro Woche mit bürokratischen Aufgaben. Das führt bei den Beschäftigten zu großer Unzufriedenheit und Frustration, zumal die Zeit, die für Bürokratie aufgewendet werden muss, für die Versorgung der Patienten fehlt. Ein Bürokratieentlastungsgesetz, das bereits für 2023 angekündigt wurde, muss dringend auf den Weg gebracht werden. Es muss unnötige, teils gedoppelte Dokumentationspflichten ebenso abschaffen wie überzogene Kontrollbürokratie durch die Krankenkassen. Auch die Selbstverwaltung muss sich hinsichtlich ihrer bürokratischen Vorgaben für ihre Mitglieder kritisch hinterfragen.
5. Nachwuchs fördern
Wenn man den Prognosen glaubt, werden in Deutschland in 20 Jahren 40.000 bis 50.000 Ärztinnen und Ärzte weniger für die Patientenversorgung zur Verfügung stehen. Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung und dem Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf steigt zudem die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte, die in Teilzeit arbeiten. Um hier gegenzusteuern, muss die Zahl der Medizinstudienplätze substanziell erhöht werden. Außerdem muss die längst überfällige Novelle der ärztlichen Approbationsordnung endlich in Kraft gesetzt werden. Sie soll unter anderem für mehr Praxisorientierung im Medizinstudium sorgen und die Allgemeinmedizin aufwerten. Darüber hinaus leiden die Praxen der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte darunter, dass es immer schwieriger wird, Stellen mit Medizinischen Fachangestellten (MFA) zu besetzen. Hier gilt es, dafür zu sorgen, dass Tariflohnsteigerungen unmittelbar im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) abgebildet werden und die Praxen grundsätzlich so auskömmlich honoriert werden, dass sie ihren MFA konkurrenzfähige Gehälter zahlen können.
6. Krankenhausreform nachbessern
Die vom Bundestag im Oktober 2024 verabschiedete Krankenhausreform ist nicht geeignet, die drängenden finanziellen Probleme der Krankenhäuser in Deutschland zu lösen. Insbesondere die im Krankenhausversorgungsstärkungsgesetz (KHVVG) vorgesehen Regelungen für eine Vorhaltevergütung müssen dringend nachgebessert werden. Um die Fehlanreize durch das DRG-System wirklich zu stoppen, müssen neben den erbrachten Leistungen auch Vorhaltekosten vergütet werden, die naturgemäß von Krankenhaus zu Krankenhaus unterschiedlich ausfallen und insbesondere die Kosten für das Personal in der unmittelbaren Patientenversorgung berücksichtigen müssen. Das im KHVVG enthaltene Modell der Vorhaltevergütung orientiert sich noch immer viel zu stark an der Zahl der behandelten Fälle und benachteiligt dadurch insbesondere kleine, bedarfsnotwendige Krankenhäuser auf dem Land. Diese sind auch von den teils zu strengen Facharztstandards als Voraussetzung für die Abrechnung von Leistungen betroffen. Gerade in ländlichen Regionen wird es oftmals schwer werden, die erforderliche Zahl an Fachärztinnen und Fachärzte vorzuhalten. Hier muss der Handlungsspielraum der Länder erweitert werden, damit regionale Besonderheiten berücksichtigt werden können. Ein kalter Strukturwandel in der Krankenhauslandschaft kann zudem nur durch eine Überbrückungsfinanzierung bis 2027 verhindert werden, die die Inflation und die Tarifsteigerungen der letzten Jahre ausgleicht. Die mit dem KHVVG vorgesehenen Verbesserungen unter anderem bei der Refinanzierung von Tarifkosten für Löhne und Gehälter rückwirkend ab 2024 reichen nicht aus, um ein unkontrolliertes Krankenhaussterben zu verhindern
7. Notfallversorgung reformieren
Eine Reform der Notfallversorgung sollte idealerweise Hand in Hand mit der Krankenhausreform gehen. Obwohl die Vorarbeiten dazu bereits weit fortgeschritten und die Inhalte über Parteigrenzen hinweg konsentiert und mit den betroffenen medizinischen Berufen abgestimmt sind, ist die Notfallreform jetzt bereits zum zweiten Mal einem Regierungswechsel zum Opfer gefallen. Dabei ist eine Reform dringend notwendig. Denn nach wie vor verstopfen Patienten mit Bagatellerkrankungen Notdienstpraxen und Notaufnahmen. Diese Fehlinanspruchnahme ist nicht nur teuer, sondern auch belastend für Patienten und medizinisches Personal gleichermaßen. Gegensteuern kann man hier mit klaren und vernetzten Behandlungspfaden. Die geplante Einrichtung von integrierten Notfallzentren und die angedachte Zusammenlegung der Notrufnummern 116117 und 112 sind wichtige Schritte hin zu einer effizienteren Nutzung der Strukturen. Die Reform der Notfallstrukturen sollte mit hoher Priorität vorangetrieben werden, zumal im Rahmen der Krankenhausplanung die Standorte der integrierten Notfallzentren festgelegt werden müssen.
8. Patientenströme steuern
Was für die Notfallversorgung gilt, trifft auch auf die allgemeine Versorgung zu. Um Fehlnutzung und Doppeluntersuchungen zu vermeiden, müssen Patienten besser durch das Gesundheitssystem gesteuert und Behandlungspfade klug koordiniert werden. Der Gesetzgeber sollte es Patientinnen und Patienten ermöglichen, sich freiwillig für ein Primärarztmodell zu entscheiden, in dem vorzugsweise Hausärztinnen und Hausärzte die ersten Ansprechpartner bei Gesundheitsbeschwerden sind und, wenn erforderlich, die weitere Behandlung koordinieren. Patienten, die das nicht wünschen, sollten den freien Zugang zum System wählen können, dafür dann aber höhere Versichertenbeiträge zahlen müssen. Als Vorbild für ein Primärarztsystem kann die hausarztzentrierte Versorgung des Deutschen Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes dienen, die Boni für diejenigen Patienten vorsieht, die sich in das Modell einschreiben.
9. Gesundheitskompetenz fördern
Das Wissen um einen gesunden Lebensstil sowie die allgemeine Gesundheitskompetenz müssen gefördert werden, damit möglichst viele Menschen ein möglichst langes und gesundes Leben führen können. Notwendig ist hier eine nationale Public Health Strategie, die gesundheitliche Aspekte in allen Politikfeldern verankert. Eine gesunde Lebensführung muss Teil der Frühbildung in Kindertagesstätten und in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen werden. Zur Gesundheitskompetenz gehört auch, die Strukturen und Funktionsweise des Gesundheitssystems zu kennen und zu wissen, wo man bei welchen Beschwerden am besten aufgehoben ist. Hier müssen gezielte Kampagnen für Information und Aufklärung sorgen.
"Das Gesundheitswesen in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Der demografische Wandel mit immer mehr älteren Menschen wird die Nachfrage nach medizinischen und pflegerischen Leistungen erhöhen", erklärt Kammerpräsident Dreyer. Dem steigenden Behandlungsbedarf stehe jedoch ein zunehmender Mangel an medizinischen Fachkräften gegenüber, der noch dadurch verschärft werde, dass in den nächsten Jahren viele Ärztinnen und Ärzte sowie Angehörige anderer Gesundheitsberufe altersbedingt aus der Versorgung ausscheiden. "Angesichts leerer Kassen in der gesetzlichen Krankenversicherung fehlen zudem Antworten auf die Frage nach einer nachhaltigen Finanzierbarkeit von Gesundheitsleistungen und medizinischem Fortschritt in Diagnostik und Therapie", ergänzt Vizepräsident Berson. Nur ein personell, finanziell und materiell gut ausgestattetes Gesundheitssystem werde eine Gesellschaft des langen Lebens angemessen medizinisch versorgen können und darüber hinaus auch Krisen gewachsen sein, wie sie der Klimawandel, neue Pandemien oder drohende militärische Konflikte mit sich bringen.
ÄkNo