Der freiberuflich tätige Arzt im Kassensystem - verfassungsrechtliche Betrachtung
Rede von Professor Dr. jur. Udo Steiner, Universität Regensburg, Bundesverfassungsrichter a. D.
gehalten im Rahmen der Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrheinam 2. April 2011 in Düsseldorf
I. Der freiberufliche Arzt als Vertragsarzt
Juristen können, wenn sie wollen, durchaus schön formulieren. Dies gilt auch für das, was den sogenannten freien Beruf ausmacht. In einem Urteil von 1927 lässt uns der Reichsfinanzhof wissen, als Freier Beruf könnten auf Grund der kulturgeschichtlichen Entwicklung nur solche Tätigkeiten angesehen werden, „die in ihrer letzten Wurzel auf die Geistesdisziplinen zurückgehen, die wie die reinen Wissenschaften, Religion und Kunst, um ihrer selbst willen, ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Auswirkung ihrer Ergebnisse betrieben werden können". Heute würde man dies mit etwas mehr Realitätsnähe formulieren. Aber auch das heutige Bundesverwaltungsgericht in Leipzig steht in seiner Sprachkraft dem nur wenig nach, wenn es zur Freiheit der ärztlichen Gewissensentscheidung als dem Essentialen der freiberuflichen ärztlichen Tätigkeit ausführt: Der Arzt befinde sich in den entscheidenden Augenblicken seiner Tätigkeit in einer unvertretbaren Einsamkeit, in der er – gestützt auf sein Können – allein auf sein Gewissen gestellt sei. Man könnte in Fortsetzung dieser leicht pathetischen Aussagen formulieren: An irgend einem Tag der Schöpfungsgeschichte wurden der Arzt und seine Therapiefreiheit erfunden, aber die Menschen haben dann das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch nachgeschaffen, mit vielen kontraproduktiven Ideen: Festzuschüssen und Festbeträgen, Wirtschaftlichkeitsprüfung und Arzneimittelregress, allgemeiner: Budgetmedizin.
Es ist auch nicht so, als würde das SGB V mit dem Stand vom April 2011 einen stabilen status quo des Kassenarztrechts darstellen. Gegenwärtig sind beispielsweise im politischen Raum Überlegungen in der Diskussion, die kassenärztliche Bedarfsplanung neu zu regeln. Es gilt als ein legitimes und dringliches politisches Ziel, ein Instrument zu schaffen, um die bestehende Überversorgung in manchen Bezirken zugunsten schlechter versorgter Bezirke zu verringern. So sollen die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten zum Aufkauf von Praxen genutzt und ausgebaut werden (vgl.§ 105 Abs. 3 SGB VI). Die Möglichkeiten zur Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens sollen beseitigt oder eingeschränkt werden, weil sie die Sicherstellung eines flächendeckenden und gleichmäßigen Zugangs zur medizinischen Versorgung behinderten. Die Lösung dieser Frage wird mit viel politischer Energie erfolgen, weil es um die Lebens- und Aufenthaltsqualitäten des sog. ländlichen Raumes geht, geographischen Problemzonen. Vielleicht ist der freie Beruf des Arztes durch das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch zum staatlich gebundensten Beruf unter den nichtstaatlichen Berufen geworden. Dies könnte man als Ironie der Geschichte sehen, sind es doch gerade die Ärzte gewesen, die sich neben den Rechtsanwälten aus der hoheitlichen Inpflichtnahme durch den Staat schrittweise gelöst haben. Wollte man die gegenwärtige Stimmung vor allem bei den Hausärzten aufnehmen, so könnte man formulieren, der Gesetzgeber sei beängstigend gut vorangekommen bei der Abwertung des Arztberufes als selbständigem freien Beruf. In diesen Tagen hat der Berichterstatter für das ärztliche Berufsrecht im Ersten Senat des BVerfG, Reinhard Gaier, allerdings noch einmal hervorgehoben, der Vertragsarzt sei nicht „Kassenbeamter“. Er erbringe seine ärztliche Leistung als Träger eines privaten, freien Berufs. Er übe, anders als der Notar, kein öffentliches Amt aus.
Solche Aussagen sind immer wichtig und zurzeit von ganz besonderer Aktualität. Es ist bekannt, dass das OLG Braunschweig in einem Beschluss vom 23.2.2010 den niedergelassenen Kassenarzt als einen „Beauftragten des geschäftlichen Betriebs einer Krankenkasse i.S. des § 299 StGB qualifiziert hat, soweit es um die Verordnung von Medikamenten im Einzelfall geht“. Der Bundesgerichtshof wird sich mit dieser höchst kontroversen Rechtsauffassung auseinander setzen. Im juristischen Schrifttum gehen dazu jedenfalls die Meinungen auseinander. § 299 StGB stellt Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr unter Strafe, wenn eine entsprechende „Unrechtsvereinbarung“ zwischen den Beteiligten nachzuweisen ist. Zu Recht wird in der Kommentarliteratur allerdings hervorgehoben, § 299 StGB komme schon deshalb auf den Arzneimittel verschreibenden Arzt nicht zur Anwendung, weil das Verhältnis zwischen Gesetzlicher Krankenkasse und Kassenarzt keine rechtsgeschäftliche oder quasi-rechtsgeschäftliche Auftragsbeziehung sei. Der Kassenarzt werde durch den hoheitlich einseitigen Akt der Zulassung, also einen Verwaltungsakt, zur Ausübung kassenärztlicher Funktionen berechtigt. Zugespitzt könnte man sagen: Das Gesetz spricht vom Vertragsarzt, weil seine Stellung gerade nicht durch einen Vertrag begründet wird (Josef Isensee).
Wichtiger ist es hier aber, verfassungsrechtlich zu argumentieren. In der Entscheidung des OLG Braunschweig findet sich die äußerst seltsame Feststellung: „Ein bestimmtes Arzneimittel kann der Versicherte daher erst dann beanspruchen, wenn es ihm als ärztliche Behandlungsmaßnahme in Konkretisierung des gesetzlichen Rahmenrechts vom Vertragsarzt als einem mit öffentlich-rechtlicher Rechtsmacht ,beliehenen´ Verwaltungsträger verschrieben wird.“ Dies ist der Versuch der juristischen Wiederbelebung einer Konstruktion, die eigentlich schon seit längerer Zeit als klinisch tot gilt: die Vorstellung, der Kassenarzt, wenn er verschreibe, nehme eine öffentlich-rechtliche Aufgabe der gesetzlichen Krankenkasse wahr. Die Juristen sprechen in diesem Zusammenhang von der Rechtsfigur des „Beliehenen“. Demgegenüber muss man klarstellen: Das SGB V enthält für die Verschreibung von Medikamenten durch den Arzt gesetzliche Vorgaben. Den Spielraum, den das Gesetz in diesem Zusammenhang dem Arzt belässt, heißt Therapiefreiheit, nicht quasi - behördliches Ermessen. Sie ist eine grundrechtliche Freiheit, durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt. Der Kassenarzt konkretisiert das Gesetz, aber eigenverantwortlich und nicht unter Fachaufsicht, als Träger eines Grundrechts, nicht als Quasi-Behörde der Organisation Gesetzliche Krankenversicherung. Diesen Standpunkt muss man ggf. verfassungsgerichtlich durchsetzten. Hier geht es um die Substanz.
II. Exkurs zur verfassungsrechtlichen Lage der privaten Krankenversicherung
1. Es mag ein schizophrener Satz sein, aber ich wage ihn gleichwohl: Als Arzt mit den Bedingungen der gesetzlichen Krankenversicherung zurecht zu kommen, hängt wesentlich auch davon ab, ob und inwieweit er Patienten behandelt, die in der privaten Krankenversicherung versichert sind. Deshalb erlauben Sie mir – als kleinen geduldeten Exkurs – wenige verfassungsrechtliche Bemerkungen zur Situation der privaten Krankenversicherung.
Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz hat durch die Einführung des Basistarifs das politisch gern bemühte Argument abgeschwächt, das private Krankenversicherungssystem trage zu wenig zur Lösung der Solidaraufgaben im deutschen Gesundheitswesen bei. Nach der Einführung des Basistarifs ist es nicht allein Sache der öffentlich-rechtlichen Krankenversicherungssysteme, unerwünschte Krankheits-Risiken bezahlbar abzusichern. Die Krankenversicherung für alle ist ein großer und richtiger Schritt in der Sozialgesetzgebung Deutschlands. Realisierbar war er – wollte man dessen Verwirklichung politisch akzeptabel ausgestalten – nicht ohne Konzessionen der privaten Krankenversicherungsunternehmen und natürlich der Krankenversicherten, in einem System, das ohne staatliche Zuschüsse auskommen muss. Das Reformgesetz von 2007 und dessen grundsätzliche Bestätigung durch das BVerfG in seinem Urteil von 2009 haben einen modus vivendi zwischen GKV und PKV geschaffen, der politisch und verfassungsrechtlich wohl stabil ist. Es gilt insoweit wahrscheinlich ausnahmsweise nicht der Satz, nach dem Gesundheitsreformgesetz ist vor dem Gesundheitsreformgesetz, und wohl auch nicht der Satz, nach dem Urteil des BVerfG ist vor dem Urteil des BVerfG. Das BVerfG nimmt in seinem Urteil von 2009 ausdrücklich die Absicht des Gesetzgebers auf, er wolle durch seine Reformen die Versicherungssysteme von gesetzlichen und privaten Krankenversicherern dauerhaft voneinander abgrenzen. Der Gesetzgeber wolle – so zitiert und versteht ihn das Gericht – das duale Krankenversicherungssystem erhalten und stärken. Dies ist wohl vom BVerfG nicht nur in palliativer Absicht so aufgegriffen und wiedergegeben. Die partielle Anpassung der PKV beim Basistarif an das öffentlich-rechtliche Modell der Krankenversicherung hat das duale System eher stabilisiert als aktuell oder tendenziell aufgehoben. Sie ist friedenssichernder Natur.
2. Die PKV bietet mehr Transparenz, was die Erhaltung, Wiederherstellung oder Verbesserung der Gesundheit den Einzelnen im Einzelfall kostet. Sie ist keine – und dies nicht erst seit der Einführung des Basistarifs – systemautistische Veranstaltung privilegierter Egoisten. Ist man ein junger Selbständiger mit Familie und hohem Selbstbehalt, überlegt man jeden Schritt zum Arzt. Die Krankheitskosten seines Ehepartners und seiner Kinder trägt er durch seine Prämie selbst. Die PKV ist das Gegenkonzept zu einer schwer zu leugnenden „all-inclusive“-Mentalität im öffentlich-rechtlichen System. Sie gibt andere Antworten auf gemeinsame Probleme. Dazu gehört auch ein praktiziertes Gegenmodell zur Umlagefinanzierung in der Form von angesparter Absicherung der gesteigerten Altersrisiken geben. All dies ist für die verfassungsrechtliche Legitimität unseres dualen Systems von maßgeblicher Bedeutung.
III. Zur Gegenwartssituation der Vertragsärzte
Man könnte den Satz wagen: Die Lage der Ärzte und auch die der Hausärzte ist besser als deren Stimmung (oder deren öffentlich verbreitete Stimmung). Das kann schwerlich auch anders sein, denn diese Stimmung wird von vielen Akteuren im Gesundheitswesen beim Tiefpunkt einer nach unten nicht mehr offenen Skala angesetzt. Dabei finden sich allerdings auch sorgfältig und in politischer Absicht überzeichnete Analysen und Prognosen. Gleichwohl: Die Probleme haben Gewicht. Eine hohe Zahl von Vertragsärzten wird im Zusammenhang mit der Verschreibung von Arzneimitteln von Regress bedroht, der teilweise sechsstellige Summen umfassen soll. Praktisch und mental wird von vielen Ärzten diese Regressgefahr im Rahmen von Richtgrößenprüfungen (§ 84 SGB V) als die größte Last ihrer täglichen Arbeit mit dem gesetzlich versicherten Patienten bewertet. Die Einkommen der Hausärzte aus der gesetzlichen Krankenversicherung fallen je nach Praxissitz ganz unterschiedlich aus, auch die der Fachärzte, insbesondere differenziert nach Fachrichtungen. Die steigende Anzahl von sogenannten Medizinischen Versorgungszentren (§ 95 SGB V) mit ihren teilweise unklaren Eigentums- und Finanzierungsgrundlagen steht bei den Hausärzten beispielhaft für die Sorge, es entstünden neue, primär renditeorientierte, entindividualisierte Versorgungsformen, die sie langfristig verdrängen könnten. In der Fliegerei spricht man in solchen Fällen wohl von unklaren Bedenken. Man will als Hausarzt – um es drastisch mit seinen Worten zu sagen – nicht in Zukunft auf die Behandlung von Fußpilzen beschränkt sein. Bisher galt der Grundsatz: Der Arzt hat Patienten, und er benötigt für deren Behandlung Geld. Es darf zukünftig nicht gelten: Man sucht nach Geld und vor allem nach mehr Geld im Gesundheitswesen, und benötigt dazu Patienten. Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe. Er ist seiner Natur nach ein freier Beruf, formuliert § 1 Abs. 2 der Bundesärzteordnung. Er ist es auch – das habe ich schon betont – aus verfassungsrechtlicher Sicht.
IV. Grundgesetzliche Rahmenbedingungen der Krankenversicherungsgesetzgebung
1. Die Krankenversicherungsgesetzgebung und insbesondere die Regelungen des SGB V über die gesetzliche Krankenversicherung bewegen sich nicht in einem verfassungsfreien Raum. Allgemeiner verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt ist die Staat und Gesetzgeber aufgegebene, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1) zu entnehmende staatliche Aufgabe, jedermann ohne Rücksicht auf Alter und Einkommen den Zugang zur notwendigen medizinischen Versorgung zu gewähren. Der Schutz des Einzelnen in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundaufgabe des Staates. So formuliert es das Bundesverfassungsgericht. Die gesetzliche Einführung einer Pflicht zur Krankenversicherung oder Krankenkostenversicherung für alle Einwohner in Deutschland auf der Grundlage des GKV-Wettbewerbstärkungsgesetzes kann man als den jüngsten sozialen Stolz des deutschen Gesundheitswesens werten. Man darf der Bundesrepublik Deutschland bestätigen, dass ihr in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit die Herstellung einer weitgehenden Gleichheit in der Qualität der medizinischen Versorgung der Bürger gelungen ist. Diese Gleichheit wird von den Fachleuten teilweise höher bewertet als die Gleichheit der Bildungschancen. Dies macht es aber zugleich der Politik so schwer, Qualitätsverluste als Folge des Einsparungsbedarfs der gesetzlichen Krankenversicherung offen zu diskutieren.
2. Eine grundgesetzgeleitete Gesetzgebung muss die Freiheitsrechte des Grundgesetzkatalogs zum Ausgangspunkt ihrer Ordnungskonzeption machen. Man kann der deutschen Gesundheitspolitik nicht ohne weiteres bescheinigen, dass sie diesem positiven Leitbild konsequent gefolgt ist. Die Gesetzgebung, die den Arzt betrifft und sein Verhältnis zum gesetzlich versicherten Patienten, darf man eher als Beispiel einer Misstrauensgesetzgebung bezeichnen. Nur das Antidopingrecht des Staates und des Sports ist noch konsequenter vom Verlust des Vertrauens in die Integrität der beruflich Beteiligten geleitet. Ist dieses Misstrauen des Gesetzgebers gegenüber der Bereitschaft der Leistungserbringer zum kostenverantwortlichen Umgang mit den notwendig begrenzten Mitteln eines Systems der gesetzlichen Krankenversicherung ganz unberechtigt? Verfügt nicht auch das Gesundheitswesen über Umgehungsbegabungen, wo das Gesetz wirtschaftlich oder aus anderen Gründen lästig ist? Man berichtet, die Umstellung der Krankenhausfinanzierung auf Fallpauschalen habe teilweise dazu geführt, dass der multimorbide Patient mehrfach nacheinander stationär aufgenommen wird und dass die Fallschwere gestiegen sei. Man wird den Gesetzgeber schwerlich von der Richtigkeit des Satzes überzeugen können, Kontrolle sei im Gesundheitswesen gut, Vertrauen aber besser. Man muss konzidieren, dass der Gesetzgeber mit der Aufgabe der Sicherstellung der Bevölkerung mit ausreichenden medizinischen Leistungen eine der schwierigsten innenpolitischen Aufgaben zu meistern hat. Nur in Afghanistan finden sich – so durfte ich schon an anderer Stelle formulieren – wahrscheinlich mehr warlords als im deutschen Gesundheitswesen. Gleichwohl: Die Grundrechte – insbesondere das Grundrecht der Handlungs- und Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Grundrecht der beruflichen Freiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) – halten den Gesetzgeber zu einer grundsätzlich freiheitlichen Gestaltung des Gesundheitswesens an. Dessen Organisation ist keine grundrechtsfreie Zone. Die grundrechtlichen Freiheiten lassen sich für das Gesundheitswesen in Gestalt der drei großen Freiheiten konkretisieren: Niederlassungsfreiheit, freie Wahl des Arztes und Therapiefreiheit (Jörg-Dietrich Hoppe). In einem grundrechtlich verfassten Gemeinwesen kann Gesundheitspolitik kein Tennismatch sein, bei dem immer nur der Gesetzgeber das Aufschlagsrecht hat.
3. Es ist schwerlich zu leugnen, dass gerade die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts diejenigen, die im Gesundheitswesen in Deutschland Leistungen erbringen, nicht immer überzeugt. Es existiert einerseits in der verfassungsgerichtliche Judikatur eine durchaus profilierte freiheitliche Linie, die vor allem in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik durch das sogenannte Apothekenurteil von 1958 und das sogenannte Kassenarzturteil von 1960 geprägt ist. Eine Freiheit allerdings, die das Bundesverfassungsgericht den Ärzten und Zahnärzten in jüngerer Zeit gegeben hat und gibt, ist eher ein von manchen ungeliebtes Kind: mehr Spielraum bei der Werbung mit und für ärztliche Fähigkeiten und Leistungen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG fällt in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG, der die freie Berufsausübung schützt, nicht nur die berufliche Praxis, sondern auch die berufliche Außendarstellung des Grundrechtsträgers einschließlich der Werbung für die Inanspruchnahme seiner Dienste, gerade auch im Internet. Seriös muss sie sein, so sagen die Richter, aber in der Praxis sind offenbar die Grenzen nicht wirklich zu kontrollieren und durchzusetzen, jedenfalls wahrscheinlich nicht mehr mit den Mitteln des Standesrechts. Ärztliche Tätigkeit ist nicht Gewerbe. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, die Nichtheranziehung der freien Berufe zur Gewerbesteuer, übrigens einer steuerrechtlichen Tradition von über 70 Jahren, sei wegen der Unterschiede zwischen den freien Berufen und den Gewerbetreibenden mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Gefahr einer längst angedachten, auch die freien Berufe erfassenden sogenannten Gemeindewirtschaftssteuer ist aber durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keineswegs gebannt. Das Gericht spricht – gewiss nicht ohne Bedeutung auch für die Heilberufe – davon, dass in jüngerer Zeit „eine verstärkte Annäherung jedenfalls einzelner Organisationsformen freier Berufe an das Berufsbild von Gewerbetreibenden“ zu beobachten sei.
4. Es ist aber zugegebenermaßen so, dass den Freiheitsrechten der Gesundheitsberufe in Deutschland längst ein kaum zu überschätzendes Gegengewicht, ein Bleigewicht ihrer Freiberuflichkeit sozusagen, erwachsen ist: das Erfordernis der Erhaltung einer funktions- und leistungsfähigen gesetzlichen Krankenversicherung und die daraus abgeleiteten Folgen für die Finanzierung dieses Systems. Statistikbegabungen wollen gezählt haben, dass das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahrzehnten in weit über 30 Entscheidungen grundrechtsbeschränkende gesetzgeberische Maßnahmen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung durch den Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung als gerechtfertigt angesehen hat. Es hat in diesem Grundsatz einen hochgewichtigen Gemeinwohlbelang gesehen, ist doch die gesetzliche Krankenversicherung organisatorisch und finanziell die Grundlage für die Gesundheitsversorgung der meisten Menschen in Deutschland. Es ist ein Versorgungsschiff mit Tankerausmaßen, dessen Kurs niemand gefährden will. Deshalb sind die Bände der Amtlichen Sammlung des BVerfG weithin auch ein Buch der Niederlagen von Ärzten und anderen Gesundheitsberufen im Rechtsraum der gesetzlichen Krankenversicherung. In der Tat ist es nicht so, dass das BVerfG zu Lasten der Kassenärzte ein grundrechtliches Sonderrecht praktiziert (so zu Recht Reinhard Gaier). Grundrechtliche Berufsfreiheit und die hierzu entwickelten Prüfungsmaßstäbe bei Freiheitseingriffen gelten für Kassenärzte nicht anders als für die Träger anderer Berufe. Auch für die Ärzte steht am Eingang des BVerfG nicht virtuell Dantes Satz vom Hölleneingang: Wenn Ihr hier eingeht, lasst alle Hoffnung fahren. Das BVerfG lässt es aber im Grundsatz zu, dass der Kassenarzt für den sozialstaatlichen Schutz der Bevölkerung im Krankheitsfall ganz besonders in die Pflicht genommen wird (Reinhard Gaier). Dies ist die verfassungsrechtliche Realität, und sie lässt sich verteidigen, weil es zur GKV und ihren Funktionsbedingungen jedenfalls keine politisch realisierbare Alternative gibt. Immerhin findet sich aber in der Rechtsprechung des BVerfG der Satz, der aus der Sicht der Ärzte eine Art verfassungsrechtlicher Hoffnungsträger sein könnte: Grundsätzlich sei es möglich, dass verschiedene einzelne, für sich betrachtet relativ geringfügige Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche in ihrer Gesamtwirkung zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung führen, die das Maß der rechtstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität überschreitet (siehe BVerfGE 123, 186, 266). Dies wäre also der Sprung von der Quantität in die Qualität, beispielsweise bei Beschränkungen der Therapiefreiheit.
5. Aus der Sicht der Versicherten steht dem kein grundgesetzbegründeter Anspruch auf ganz bestimmte medizinische Leistungen gegenüber. Erfüllt der Gesetzgeber allerdings den Anspruch auf medizinische Versorgung in der Form einer gesetzlichen Krankenversicherung mit Pflichtmitgliedschaft und Pflichtbeiträgen, so erwächst ihm aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine zusätzliche qualitativ-quantitative Anforderung. Es gilt: Schöpft der Gesetzgeber durch Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung an Einkommen ab, was der Einzelne vernünftigerweise zur Vorsorge im Falle der Krankheit aufwendet, ist er bei der Ausgestaltung der medizinischen Leistungen nicht mehr ganz frei. Er muss Leistungsausschlüsse und er muss Leistungseinschränkungen jeweils konkret rechtfertigen. Vorsichtig hat zudem das BVerfG die Therapiefreiheit des Vertragsarztes erweitert. Ein gesetzlich Krankenversicherter, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, kann nicht von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Methode ausgeschlossen werden, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Das Gericht leitet diese Erkenntnis aus den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ab. Andererseits kann der Gesetzgeber Eigenverantwortung des Einzelnen im Gesundheitswesen – auch die des versicherten Patienten – einfordern, ihn zu einer wert- und kostenbewussten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen anhalten, und dies entspricht durchaus dem Menschenbild des Grundgesetzes. Er kann eine solche Eigenverantwortung beispielsweise durch Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen der medizinischen Versorgung realisieren. Ob freilich die sog. Praxisgebühr heute noch auf Grund ihrer zahlreichen Befreiungstatbestände die ihr zugedachte Steuerungsfunktion hat, wird von vielen bekanntlich bestritten.
IV. Einzelfragen
1. Der kollektive Verzicht auf die kassenärztliche Zulassung – wie ihn Vertragszahnärzte 2004 in Niedersachsen praktiziert und der Bayerische Hausarztverband praktizieren wollte – löst aufgrund des § 95b SGB V bekanntlich harte Rechtsfolgen aus. Eine erneute Zulassung kann frühestens nach Ablauf von sechs Jahren nach Abgabe der Verzichtserklärung erteilt werden, wenn die Aufsichtsbehörde zumindest für den Planungsbereich aufgrund der Verzichtaktion eine Gefährdung der Sicherstellung der Versorgung der Versicherten festgestellt hat. Das BSG hat 2009 die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung festgestellt. Davon sollte man praktisch ausgehen. Im Schrifttum liest man zwar von Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung, und die Urologen Nordrhein haben diese verfassungsrechtlichen Bedenken in diesen Tagen auch aufgegriffen. Auf die Zuverlässigkeit solcher juristischer Einschätzungen sollte man aber eine so weitreichende Entscheidung wie die Beteiligung an einem kollektiven Kassenverzicht nicht stützen. Andererseits ist zu viel Pessimismus auch nicht angezeigt. Es sieht nicht so aus, dass die Politik den Beruf des freien, niedergelassenen Arztes und dessen spezifische Probleme aus dem Blick verloren hat. Der Arzt ist nach wie vor und unbestritten der Mittelpunkt unseres Gesundheitssystems. Es gibt Programme und wird Programme der Länder geben, die die Situation des Hausarztes verbessern und dessen Nachwuchs fördern. Man kann allerdings nicht mehr wie früher den Arzt allein mit der Inaussichtstellung von Fischerei- und Jagdrechten in abgelegene Landstriche locken. Zu erwähnen ist auch, dass der Gesetzgeber die Regelungen zur Altersgrenze für Kassenärzte aufgehoben hat. Damit können sie auch nach Vollendung des 68. Lebensjahres im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung tätig bleiben. Auf diese Weise ist Zeit gewonnen für die Übergabe der Praxis an Angehörige oder Dritte. Die Sorge um die Berufschancen der in Vertragsarztsitze nachrückenden Generation, die die ursprüngliche Altersgrenze von 68 Jahren getragen hat, hat sich ohnehin erledigt. Andererseits wird sich der Arztberuf auch auf strukturelle Entwicklungen einzustellen haben. Viele andere akademische Berufe stehen vor ähnlichen Herausforderungen. So wird man den Arzt im Angestelltenverhältnis schon deshalb als legitime Ausübung des Arztberufes auch außerhalb der Krankenhäuser fördern, weil diese Ausübungsform der gewachsenen Zahl von Ärztinnen entgegenkommt. Die Probleme, die vor allem die allgemeinärztliche Praxis durch Verschreibung von Arzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung aufwirft, harren allerdings noch des genialen Einfalls einer für alle Seiten akzeptablen Problemlösung.
2. Allerdings wissen wir nicht, wie das dem Arzt angemessene Einkommen – nach Abzug seines Aufwands und nach Abzug der Steuern und vor allem unter Berücksichtigung der Stunden, die er aufwenden muss, um Einkommen zu erzielen (eine Komponente der Einkommensgerechtigkeit, die unser Steuerrecht und auch die öffentliche Diskussion um gerechte Einkommen nicht kennt) – beschaffen sein soll. Wir wissen nur, dass Ärzte wohl in allen Gesellschaften zu allen Zeiten höhere Einkommen erzielen als andere akademische Berufe. Das darf auch so sein. Ärzte können heilen, Juristen können dies leider nicht. Freilich wäre es vermessen zu erwarten, unsere Gesellschaft würde für die ärztliche Wertschöpfung die gleichen Entgelte zahlen wie für die Fähigkeit zu verhindern, dass ein Fußball die Linie eines Tores überschreitet, das durch zwei Pfosten in Höhe von 2,44m und durch eine Latte in einer Länge von 7,32m begrenzt ist, und zahlt noch viel mehr dem, den dies gelingt.
3. Es wäre nicht realistisch, auf das Verfassungsrecht und auf das BVerfG zu setzen, wenn es gilt, eine angemessene Honorierung der ärztlichen Leistung durchzusetzen, wie sie§ 72 Abs. 2 SGB V als Zielvorgabe vorgibt. Der gerechte Preis für eine hochwertige Dienstleistung bestimmt sich in unserem Wirtschaftssystem grundsätzlich nach dem Markt. Da sich aber der niedergelassene Kassenarzt in einem hoch regulierten Markt mit administrierten Vergütungen bewegt, entscheiden andere Faktoren und nicht zuletzt die Politik. Die Rechtsprechung stellt klar: Die angemessene Vergütung ist nicht zu verwechseln mit der Sicherheit eines angemessenen Einkommens aus der Tätigkeit als Vertragsarzt. Eine solche Gewährleistung könnte dem Berufsfreiheitsrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht entnommen werden, weil das Einkommen vom individuellen wirtschaftlichen Erfolg der Berufstätigkeit des Vertragsarztes abhängt. Die Rentabilität seiner Praxis sei das Berufsrisiko des freiberuflichen Arztes (BSG). Was die Rechtsprechung allerdings zur angemessenen Leistungsvergütung entwickelt hat, trägt nur in Grenzbereichen der wirtschaftlichen Situation des Arztes Rechnung. Was angemessen ist, ist nicht in dem Sinne justiziabel, dass man auf der Grundlage dieser Formel erfolgreich verfassungsgerichtliche Prozesse führen kann. Eine Untervergütung soll unzulässig sein, wenn in einem fachlichen oder örtlichen Teilbereich kein ausreichender finanzieller Anreiz mehr besteht und deshalb in diesem Bereich die Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung gefährdet ist (Gaier). Dieser Ansatz ist zu sehr vom System der kassenärztlichen Versorgung her gedacht, und weniger vom Berufsfreiheitsrecht des Art. 12 Abs. 1 GG. Denn es gilt in diesem Bereich eigentlich der Satz: Zur Berufsfreiheit zählt auch die wirtschaftliche Verwertung der beruflich erbrachten Leistung am Markt (BVerfG). Dieser Satz ist schön zu lesen. Juristisch tragfähig ist er nicht wirklich.
V. Perspektiven
Vielleicht kann man die Prognose wagen, dass die gesetzliche Fesselung des Arztberufes im System der gesetzlichen Krankenversicherung ihren Höhepunkt überschritten hat und eher Maßnahmen zur Deregulierung anstehen. Als Entfesselungskünstler wird sich der Gesetzgeber nicht auszeichnen können, solange am Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung festgehalten wird und dessen Durchbrechung in der Form der Kostenerstattung (§ 13 Abs. 2 SGB V) nicht mehr als nur Aufwand zur Folge hat. Wollte man drastisch formulieren, könnte man sagen, die Freiheit des Kassenarztes bestehe darin, in Fesseln zu tanzen. So weit möchte ich aber keinesfalls gehen. Nun haben die Urologen Nordrhein in einem an die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger gerichteten Brief diese Situation der Fesselung beklagt und sie – wohl in ihrer Eigenschaft als Verfassungsministerin – um Abhilfe gebeten. Sie haben dabei an den hektischen Reformbedarf des SGB V erinnert. In der Tat kann der Gesetzgeber hier mit Rekordleistungen aufweisen. Es fehlt massiv an Kontinuität, und es fehlt an Klarheit sowie Nachvollziehbarkeit der Regelungen. Es kann deshalb kein Trost sein, lässt sich aber als Bonmot in diesem Zusammenhang gut platzieren: Als Daidalos das Labyrinth geschaffen hat, wusste er nicht, dass er damit zugleich das Grundmodell für die deutsche Sozialgesetzgebung gefunden hatte.