An demenziellen Erkrankungen leiden überwiegend ältere Patienten. Doch auch immer mehr Menschen unter 65 Jahren erkranken an Demenz, wenn auch deutlich seltener. Junge Betroffene wünschen sich eine Versorgung, die besser auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist.
von Marc Strohm
Lieselotte Klotz ist eine lebensfrohe Frau. Sie ist leidenschaftliche Seglerin, politisch interessiert und hört am liebsten die Musik der Kölner Mundart-Band Bläck Fööss. In die Ärztekammer Nordrhein kommt die 64-Jährige an diesem verregneten Dezembermorgen in einem cremefarbenen Rollkragenpulli, ein Goldkettchen ziert ihren Hals. Sie geht am Rollator, den sie für die Vorweihnachtszeit mit einer bunten Lichterkette geschmückt hat. Dass sie seit knapp acht Jahren unter einer Lewy-Body-Demenz leidet, merkt man im Gespräch mit ihr kaum. Sie redet gerne und lacht viel. Nur manchmal gerät sie ins Stocken und ringt nach Fachbegriffen. „Viele Menschen denken bei Demenz automatisch an das letzte Stadium der Erkrankung, wenn sich die Patienten nicht mehr selbst versorgen können. Dass manche Formen, wie beispielsweise die Lewy-Body-Demenz, einer Achterbahnfahrt gleichen, weiß kaum jemand,“ erklärt sie im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. So gebe es Tage, an denen sie sich äußerst fit fühle. Doch es gebe auch Tage und Momente, in denen sie unter Halluzinationen und starken Gleichgewichtsstörungen leide oder plötzlich erstarre.
Bis zu ihrer Diagnose führte Lieselotte Klotz, die Freunde „Lilo“ nennen, „ein Leben auf der Überholspur“, wie sie sagt. Sie war Geschäftsführerin eines größeren IT-Unternehmens in Düsseldorf, trug Verantwortung für rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, engagierte sich politisch, zog drei Kinder größtenteils alleine groß und pflegte ihre an Alzheimer erkrankte Mutter. Dann änderte sich ihr Leben schlagartig. Im Jahr 2017 begannen die Halluzinationen. Sie sah Tiere, die nicht da waren. Bei der Arbeit verstand sie von ihr selbst erstellte Unterlagen nicht mehr, hatte Schwierigkeiten, längeren Meetings zu folgen und erkannte auf Veranstaltungen jahrelange Geschäftspartner nicht mehr. Klotz versuchte, die Symptome zu ignorieren, vermutete selbst einen Burn-Out. Ihre Kinder, die ebenfalls bemerkten, wie sich ihre Mutter veränderte, drängten sie dazu, die Symptome ärztlich abklären zu lassen. Auch Klotz‘ Arzt vermutete zunächst eine Depression oder einen Burn-Out. Den späteren Verdacht auf eine Lewy-Body-Demenz bei der damals 58-Jährigen bestätigte ein ausführlicher, mehrtägiger Test. „Ich habe zuerst versucht, so weiterzuleben wie bisher“, sagt Klotz. Doch die Bewältigung ihres Arbeitsalltags sei ihr zunehmend schwerer gefallen. Nach einem längeren Aufenthalt in einer neurologischen Klinik erhielt Klotz von ihrem Arbeitgeber die Kündigung — ohne Vorwarnung, ohne vorheriges Gespräch. Es folgte die Frühberentung. Der Verlust des Arbeitsplatzes sei ein schwerer Schlag für sie gewesen, schildert Klotz. Sie habe sich „nutzlos gefühlt“. Um die Situation zu verarbeiten, habe sie mehrere Monate in einer psychosomatischen Klinik verbracht.
Die folgenden Jahre prägte das Stigma einer demenziellen Erkrankung: Langjährige Freunde brachen den Kontakt ab, zu manchen Feiern und Dorffesten wurde sie nicht mehr eingeladen. „Ich habe noch immer das Gefühl, dass ich von meinem Umfeld oft auf meine Erkrankung reduziert werde“, sagt Klotz. Die größte Herausforderung sei allerdings, bewusst zu erleben, wie sich der eigene Gesundheitszustand allmählich verschlechtert. Multitasking funktioniere nicht mehr, und sie leide unter Gangunsicherheit. Ihren Rollator habe sie zu Beginn gehasst, nun sehe sie ihn als Chance, um weiter mobil zu bleiben. Große Angst habe sie davor, ihre erwachsenen Kinder mit ihrer Erkrankung zu belasten. Sie erinnert sich, wie ihre in Japan lebende Tochter einmal sagte: „Mit jedem Besuch verliere ich meine Mutter ein Stückchen mehr.“ Lieselotte Klotz findet es schwierig, die psychischen Auswirkungen der Erkrankung abzufedern. „Mir hilft nur radikale Akzeptanz, nicht den Lebensmut zu verlieren“, betont sie. Mut schöpft sie auch aus ihren Ehrenämtern. Unter anderem engagiert sie sich bei der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, beim Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen sowie bei der European Working Group People with Dementia. Sie hält Vorträge, unterstützt Forschungsprojekte und setzt sich politisch für Menschen mit Demenz ein. „Ich will aufklären und damit zur Entstigmatisierung beitragen“, sagt sie.
Ein Angebot für jung Erkrankte
Ein Angebot, das sich speziell an jung an Demenz Erkrankte und ihre Angehörigen in Nordrhein-Westfalen richtet, ist das Selbsthilfeprojekt „JaDe.“ In kostenfreien Wochenendendworkshops und weiteren Formaten informiert JaDe zu Themen wie Vorsorge, persönliche Assistenz sowie Berufstätigkeit.
Informationen: www.alzheimer-nrw.de/aktivitaeten-projekte/jade
Demenz – oft zu spät erkannt
Dass Menschen wie Lieselotte Klotz bereits in einem Alter von unter 65 Jahren an einer Demenz erkranken, sei selten, sagt Professor Dr. Frank Jessen, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Köln, im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Nach Zahlen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sind von den rund 1,8 Millionen Patienten mit Demenz in Deutschland lediglich fünf Prozent jünger als 65 Jahre. Während ältere Patienten häufig an Alzheimer litten, seien die unter 65-Jährigen mehrheitlich von einer frontotemporalen Demenz betroffen, erklärt Jessen. Diese äußere sich im frühen Stadium bei jedem Patienten unterschiedlich und mache sich häufig durch Persönlichkeitsveränderungen, wie ein enthemmtes soziales Verhalten, oder Sprachstörungen bemerkbar. Erst in einem späteren Stadium träten dann Gedächtnisprobleme auf, die an Alzheimer erinnerten.
Da demenzielle Erkrankungen bei jüngeren Menschen sehr selten vorkämen, seien sie schwierig zu diagnostizieren. Haus- und Fachärzte würden bei dieser Patientengruppe häufig nicht an demenzielle Erkrankungen denken, so Jessen. Vor wenigen Jahren habe er selbst einen 34-jährigen Patienten behandelt, der über Gedächtnisprobleme klagte. Anfangs habe er eine Depression vermutet. „Erst als im Verlauf der Zeit weitere kognitive Störungen auftraten, konnte ich die Diagnose einer Alzheimer-Erkrankung stellen“, erinnert sich Jessen. Dabei sei die Früherkennung bei Demenz besonders wichtig, denn die Erkrankung gehe mit einer dramatisch verkürzten Lebenszeit einher. Bei vielen Patienten betrage die Lebenserwartung nach Diagnosestellung weniger als zehn Jahre. Je früher ein Patient die Diagnose erhalte, desto schneller könne er Vorsorgemaßnahmen treffen und beispielsweise eine Patientenverfügung ausstellen. Jessen hofft, dass es künftig mittels Antikörper-Therapie möglich sein wird, die Krankheit im frühen Stadium deutlich zu verlangsamen. Aber auch dafür sei die Voraussetzung eine rechtzeitige Diagnose, sagt Jessen. Damit keine wertvolle Zeit verloren geht, empfiehlt er Patientinnen und Patienten, Gedächtnisprobleme nicht leichtfertig zu ignorieren, sondern umgehend einen Arzt aufzusuchen. Hausärzten rät der Psychiater, die Schilderungen der Patienten ernst zu nehmen und, wenn möglich, auch Ehepartner u und Kinder der Betroffenen zu Auffälligkeiten zu befragen. Häufig hätten diese Verhaltensänderungen bereits bemerkt. Im Gespräch mit älteren Patienten empfiehlt Jessen Ärztinnen und Ärzten, regelmäßig auch Gedächtnisprobleme anzusprechen, die auf eine beginnende Demenz hindeuten könnten.
Zukunftsfähig aufgestellt?
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft prognostiziert, dass bis 2050 die Zahl der Menschen mit Demenz in Deutschland auf bis zu 2,8 Millionen steigen könnte. Ausreichend vorbereitet auf diesen Zuwachs sei Deutschland nicht, sagt Jessen. Es mangle derzeit an einer ausreichenden Vernetzung von Gedächtnis-Kliniken mit niedergelassenen Haus- und Fachärzten sowie Beratungsstellen. Vor allem aber würden insbesondere junge Patientinnen und Patienten derzeit zu spät diagnostiziert. Aber auch danach gebe es Lücken. Um die Betroffenen nach einer so schwerwiegenden Diagnose besser auffangen zu können, müssten sie besser über bestehende Hilfsangebote und Sozialleistungen aufgeklärt werden. Für die Familien der Betroffenen sei eine Anbindung an eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige sowie psychologische Unterstützung wichtig, um mit einem solchen Schicksalsschlag fertig zu werden. Doch Hilfsangebote, die speziell auf junge Demenzerkrankte zugeschnitten sind, sind Jessen zufolge rar und außerhalb von größeren Ballungszentren praktisch nicht vorhanden. Viele Selbsthilfegruppen und Pflegeheime seien auf hochbetagte Patienten ausgerichtet. Jung Erkrankte, deren Lebensstil sich meist noch deutlich von dem anderer Pflegeheimbewohner unterscheide, fühlten sich dort verständlicherweise nicht wohl. Denn viele jung Erkrankte seien zum Zeitpunkt ihrer Diagnose noch beruflich aktiv, körperlich fit und würden zum Teil minderjährige Kinder großziehen. Schreite die Erkrankung fort und könne der Beruf nicht mehr ausgeübt werden, seien damit oftmals finanzielle Schwierigkeiten verbunden. Vom sozialen Umfeld fühlten sich viele zurückgewiesen, nicht wenige isolierten sich und vereinsamten. „Es ist daher wichtig, dass es Angebote gibt, die speziell auf diese Gruppe zugeschnitten sind,“ fordert Jessen (siehe Kasten).
Auch Lieselotte Klotz fühlte sich nach ihrer Demenz-Diagnose allein gelassen. Sie hätte sich bessere Informationen über bestehende Angebote gewünscht, insbesondere, um sich im „Antragsdschungel“ der Pflegestufen zurechtzufinden, meint Klotz. „Ein Demenzcoach, der Betroffene zum Beispiel bei Behördengängen begleitet, wäre für viele ein Segen und könnte dazu beitragen, dass Patienten möglichst lange selbstständig bleiben.“ Klotz setzt sich darüber hinaus für strukturierte Versorgungspfade für von Demenz Betroffene ein.
„Menschen mit Demenz werden zu schnell aufs Abstellgleis gestellt“, kritisiert sie. Dabei lasse sich der Alltag mit den richtigen Hilfen oft gut bewältigen. Großes Potenzial, um möglichst lange selbstständig zu sein, sieht Klotz in der Digitalisierung. „Das Smartphone ist mein Gehirn“, sagt sie. Dort sammelt sie alle wichtigen Papiere und organisiert ihre Termine. Ein Timer mit Piepton erinnert sie daran, notwendige Medikamente einzunehmen. Ihr Haus hat sie barrierefrei eingerichtet und Smarthome-Technologien installiert, etwa um Lampen zu steuern. Auch auf Künstliche Intelligenz will Klotz nicht mehr verzichten, etwa, um sich Texte zusammenfassen zu lassen. Wenn sie etwas nicht mehr schaffe, bitte sie andere Menschen um Hilfe. „Auch das fiel mir in der Vergangenheit nicht immer leicht,“ sagt Klotz. Unterstützt werde sie vor allem von ihren Kindern und ihrem Bruder, der mit im Haus lebt. Außerdem gehe sie regelmäßig zur psychosozialen Therapie und zur Ergo-Therapie, nehme logopädische Hilfe in Anspruch und trainiere ihr Gehirn, mit einer App, um der Erkrankung aktiv zu begegnen. Dass sie auf diese Angebote zurückgreifen könne, verdanke sie zu einem großen Teil ihrer guten finanziellen Situation. „Viele Betroffene und deren Familien könnten sich eine vergleichbare Betreuung nicht leisten“, sagt sie mit Blick auf die soziale Ungleichheit in der Versorgung. Lieselotte Klotz weiß, dass die Demenzerkrankung sie irgendwann einmal an ihre Grenzen bringen wird. „Dann wünsche ich mir, dass meine Familie mich weiterhin liebt, auch wenn ich keine eigenen Entscheidungen mehr treffen kann.“
Terminhinweis: Demenz im frühen Alter
Wie sich Demenz im frühen Alter auf die Betroffenen auswirkt, welche Präventionsmöglichkeiten bestehen und auf welche Unterstützungsmöglichkeiten Betroffene sowie ihre Angehörigen zurückgreifen können, ist Thema eines Kammersymposiums, das am 19. Februar ab 15 Uhr im Haus der .Ärzteschaft stattfindet.
Die Veranstaltung flankiert die Eröffnung der Kunstausstellung „DEMENSCH“, die bis zum 29. März im Haus der .Ärzteschaft, Tersteegenstr. 9, 40474 Düsseldorf zu sehen sein wird. Mit 15 gerahmten Bildern arbeitet der Cartoonist Peter Gaymann das Thema Demenz humorvoll auf.
Weitere Informationen und die Anmeldung unter: www.aekno.de/veranstaltung-alter