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Arzneimittel: Wann ist teuer zu teuer?

16.08.2024 Seite 12
RAE Ausgabe 9/2024

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2024

Seite 12

© Eberhard Wolf/Shutterstock
Eine Gentherapie, die, einmalig angewendet, mit 2,8 Millionen Euro zu Buche schlägt, ein neues Medikament gegen eine seltene Erkrankung mit Jahrestherapiekosten von 250.000 Euro oder ein einzelnes Krebsmedikament, für das die Krankenkassen 2022 gut 1,3 Milliarden Euro ausgaben – Beispiele wie diese lassen insbesondere die Kostenträger um die Finanzstabilität der gesetzlichen Krankenversicherung fürchten. 

von Heike Korzilius

Kinder, die an der sehr seltenen, genetisch bedingten metachromatischen Leukodystrophie leiden, verlieren nach und nach ihre motorischen und geistigen Fähigkeiten, bis sie schließlich an der Krankheit sterben. Mit Libmeldy steht seit 2021 eine Gentherapie zur Verfügung, die betroffenen Kindern ein Weiterleben ermöglicht und sich positiv auf deren Bewegungsfähigkeit auswirkt, vorausgesetzt sie werden bereits in einem Stadium behandelt, in dem sie noch symptomfrei sind. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bescheinigte dem Medikament einen erheblichen Zusatznutzen. Für die Kinder und deren Familien ist das eine große Hoffnung, für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) auch eine große Herausforderung: Die Thera­pie mit Libmeldy basiert auf einer einmaligen Gabe und kostet derzeit 2,8 Millionen Euro. 
Ein Hoffnungsträger für die bundesweit rund 8.000 Patientinnen und Patienten, die an Mukoviszidose leiden, ist das Präparat Kaftrio, das 2020 in Europa zugelassen wurde und die Lebensqualität und möglicherweise auch die Lebenserwartung vieler Betroffener ver­bessern kann. Es muss lebenslang eingenommen werden und schlägt mit Jahrestherapiekosten von rund 250.000 Euro zu Buche. Allein 2022 gaben die Kassen knapp 320 Millionen Euro für das Medikament aus, wie aus dem Arzneiverordnungs-Report (AVR) 2023 hervorgeht. Das umsatzstärkste Arzneimittel, das dem AVR zufolge 2022 zulasten der GKV verordnet wurde, war mit Kosten von 1,3 Milliarden Euro der PD-1-Rezeptorantikörper Pembrolizumab (Keytruda) zur Krebstherapie. 

Insgesamt haben die Kassen im vergangenen Jahr gut 55 Milliarden Euro für Arzneimittel ausgegeben, der zweitgrößte Kostenblock gleich nach den Ausgaben für die Krankenhausbehandlung mit knapp 94 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Jahr 2011 – damals wurde in Deutschland mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) geregelt, dass nur noch Arzneimittel mit einem Zusatznutzen einen höheren Preis als die Standardtherapie erzielen dürfen – haben sich die Arzneimittelausgaben damit mehr als verdoppelt. Das geht aus dem jüngsten AMNOG-Report der DAK-Gesundheit hervor. Deren Vorstandsvorsitzender Andreas Storm hält die „ungebremste Ausgabendynamik auf dem Arzneimittelmarkt“ für eine enorme Herausforderung für die Finanzstabilität der GKV. 

Preistreiber ist der Patentmarkt

Preistreiber sind nach Einschätzung der Autoren des AMNOG-Reports die patentgeschützten Arzneimittel. Auch der AVR kommt zu diesem Schluss. Die Gesamtumsätze des Patentmarktes seien von neun Milliarden Euro 2001 auf 28,97 Milliarden Euro im Jahr 2022 gestiegen. Der Umsatzanteil am Gesamtmarkt für Arzneimittel liege inzwischen bei fast 52 Prozent. Der Anteil der patentgeschützten Arzneimittel an den Verord­nungen (Tagestherapiedosis) betrage hingegen nur 6,7 Prozent. Ein grundsätzlich hohes Preisniveau bescheinigen die Autoren des AVR den Onkologika, deren Kosten sich 2022 gegenüber dem Vorjahr allerdings nicht erhöht hätten. 18 neue Krebsmedikamente wurden im Untersuchungszeitraum eingeführt – die größte Gruppe mit neuen Arzneistoffen. Doch bei elf von 17 bewerteten Arzneimitteln gilt dem AVR zufolge ein Zusatznutzen als nicht belegt oder nicht quantifizierbar. Der Grund: Viele Onkologika durchliefen ein beschleunigtes Zulassungsverfahren, in dem häufig nur eine Beeinflussung von Surrogatendpunkten wie die Ansprechrate der Tumorerkrankung oder das progressionsfreie Überleben gezeigt werde. Die hohen Preise für neue Arzneimittel seien kein deutsches Phänomen, erklären die Autoren des AVR. Sie würden in vielen Ländern als Belastung für die Patienten und die Gesundheitssysteme angesehen. Die Folge: Wirksame neue Medikamente sind zwar in der gesamten Europäischen Union zugelassen, aber längst nicht überall verfügbar. Das belegen Recherchen von NDR, WDR, Süddeutscher Zeitung und dem Rechercheverbund „Investigate Europe“, die Mitte Juni veröffentlicht wurden. Die Journalisten hatten das deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gebeten, unter den Neuzulassungen der vergangenen fünf Jahre diejenigen Arzneimittel mit einem erheblichen oder beträchtlichen Zusatznutzen auszuwählen. Sämtliche der 32 infrage kommenden Medikamente, zu denen beispielsweise auch Kaftrio gegen Mukoviszidose gehört, werden den Recherchen zufolge nur in Deutschland und Österreich von den Krankenkassen bezahlt. In Estland, Lettland und Litauen waren rund 30 Prozent der Arzneimittel nicht für die Patienten des öffentlichen Gesundheitsdienstes verfügbar, in Zypern fehlte die Hälfte, in Malta fehlten 59 Prozent und in Ungarn sogar drei Viertel der neuen Medikamente. Viele Pharmafirmen würden ihre Medikamente gar nicht erst auf den Markt bringen, wenn der Marktanteil klein zu bleiben drohe, heißt es in einem Bericht der Tagesschau („Tödliche Preise“, 13. Juni 2024). Und viele Sozialsysteme seien mit den Kosten schlicht überfordert.

Der Preis spiegelt den Wert

Im Juni 2022 hatte der Deutsche Ethikrat die hohen Preise bei neuen Arzneimitteln zum Thema seiner Jahrestagung gemacht. Angesichts begrenzter Ressourcen in einem solidarischen Gesundheitswesen gelte es, „die Ansprüche von allen Versicherten auf bestmögliche Behandlung, aber auch die von forschenden Arzneimittelherstellern auf Refinanzierung ihrer Investitionen gegen das Erfordernis abzuwägen, Gesundheitskosten und insbesondere Krankenkassenbeiträge nicht beliebig ansteigen zu lassen“, hieß es damals in der Tagungsankündigung. 

Doch die Unternehmen argumentieren bei ihrer Preisgestaltung längst nicht mehr mit Entwicklungs-, Produktions- und Vertriebskosten. Die Preise sollten vielmehr den Wert der Arzneimittel für den Einzelnen und die Gesellschaft widerspiegeln, heißt es aus dem Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa). Der Hersteller von Libmeldy, Orchard Therapeutics, vermarktet das Präparat unter dem Namen Lenmeldy seit 2024 auch in den USA – für umgerechnet 3,8 Millionen Euro für die einmalige Gabe. In die Preisgestaltung seien neben dem Wert des Medikaments für die Betroffenen und deren Familien auch die langfristigen Auswirkungen auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, die Verringerung des Produktivitätsverlusts der Pflegenden sowie die Lebenschancen der Patientinnen und Patienten eingeflossen. Dazu komme, so argumentiert der vfa, dass die Therapieansätze in den letzten Jahren zunehmend zielgerichteter geworden seien und immer häufiger der Behandlung eng definierter Patientengruppen dienten. Bei immer kleineren Patientenzahlen sei es ökonomisch nur naheliegend, dass die durchschnittlichen Jahrestherapiekosten nicht gleich hoch bleiben könnten, zumal der Aufwand für Forschung und Entwicklung mindestens gleichbleibe. 

Geheime Erstattungsbeträge 

Um angesichts extrem hochpreisiger Therapien die Finanzierbarkeit der Arzneimittelversorgung zu sichern, werden schon seit Längerem alternative Erstattungsmodelle diskutiert, darunter sogenannte Pay-for-Perfomance-Modelle, bei denen die Höhe der Vergütung davon abhängt, ob zwischen Hersteller und Kostenträger vereinbarte Therapieziele erreicht wurden – ein Ansatz, den auch Orchard Therapeutics in den USA verfolgt. Auf der Wunschliste der Pharmaunternehmen ganz oben steht darüber hinaus auch, Erstattungsbeträge, die im Rahmen von Preisverhandlungen mit den Kostenträgern vereinbart wurden, vertraulich zu behandeln. Mit der Preistransparenz im Rahmen des AMNOG-Verfahrens hatte Deutschland europa- und weltweit bislang quasi ein Alleinstellungsmerkmal. Die deutschen Erstattungsbeträge für neue patentgeschützte Medikamente dienen mithin in vielen Ländern als Referenzpreise, was der Pharmaindustrie schon seit Beginn des AMNOG-Verfahrens ein Dorn im Auge ist, weil es ihren Verhandlungsspielraum einschränkt. Umgekehrt argumentiert der vfa, die Offenlegung der Erstattungsbeträge verhindere mögliche höhere Rabatte in Deutschland. 
Mit dem Medizinforschungsgesetz, das der Deutsche Bundestag am 4. Juli verabschiedet hat, ist der Gesetzgeber der Industrie jetzt in diesem Punkt entgegengekommen. Bei Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen haben die Hersteller zunächst befristet auf dreieinhalb Jahre die Option, Vertraulichkeit über die mit den Kassen verhandelten Erstattungsbeträge zu vereinbaren. Voraussetzung ist, dass die Unternehmen in Deutschland klinische Forschung betreiben. Zu den schärfsten Kritikern dieser Regelung gehören die Krankenkassen. So warnt der AOK-Bundesverband, durch die neue Preisintransparenz drohten „Kostensteigerungen in Milliardenhöhe ohne einen Mehrwert in der Versorgung“. Es gehöre nicht zur Aufgabe der GKV, internationale Standortpolitik für einzelne Industriezweige zu finanzieren.