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Interview

„Wer etwas bewegen will, muss Mehrheiten schaffen“

18.06.2024 Seite 24
RAE Ausgabe 7/2024

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2024

Seite 24

© Jochen Rolfes
Rudolf Henke steht seit 2011 an der Spitze der Ärztekammer Nordrhein. Bei der konstituierenden Sitzung der neu gewählten Kammerversammlung am 31. August will er sich nicht mehr zur Wahl stellen. Mit Henke, der am 5. Juni 70 Jahre alt wurde, verlässt ein Politprofi die Bühne, der sich stets von seinem christlich geprägten Weltbild leiten ließ. Zeit für einen Rückblick.

RÄ: Herr Henke, Ihre (berufs-)politische Karriere begann vor 43 Jahren mit dem Einzug in die Kammersammlung der Ärztekammer Nordrhein. Was hat Sie motiviert? 
Henke: Der Wunsch, die Umgebung in der ich lebe mitzugestalten, hat mich Zeit meines Lebens angetrieben: in der Schule als Schulsprecher, im Studium im Ring Christlich Demokratischer Studenten und später im Beruf als Mitglied des Marburger Bundes und in der Ärztekammer. Demokratie verlangt politisches Engagement. Da kann man sich nicht auf die Zuschauerplätze zurückziehen.
 
RÄ: Im Laufe der Zeit haben Sie viele Ämter bekleidet, einige davon parallel: Vorstand der Bundesärztekammer, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Bundesvorsitzender des Marburger Bundes. 1992 traten Sie in die CDU ein, für die sie zunächst in den nordrhein-westfälischen Landtag und später in den Bundestag einzogen. Was konnten Sie bewegen?
Henke: Eines vorweg: Egal auf welcher politischen Ebene man etwas bewegen will, es braucht dazu kontinuierliches Engagement, die Bereitschaft, Mehrheiten zu bilden und einen größtmöglichen Grad an Übereinstimmung für bestimmte Positionen zu erreichen, die gewählte Politiker dann in Gesetze gießen müssen. 
Ich bin 1989 zum 2. Bundesvorsitzenden des Marburger Bundes gewählt worden. Wir haben uns damals stark gemacht für eine bessere Personalausstattung in den Krankenhäusern, haben den Marburger Bund zu einem starken Tarifpartner entwickeln können, uns aber auch für eine bessere Kooperation zwischen niedergelassenen und Krankenhausärzten eingesetzt. 
Als dann im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands am rechten Rand die Republikaner als frühe Vorläufer der AfD und am linken Rand die PDS, die Nachfolgeorganisation der SED, erstarkten, war das für mich eine Motivation, in die CDU einzutreten. Ich wollte mit diesem Schritt dazu beitragen, die politische Mitte zu stärken. Dazu kam, dass in Nordrhein-Westfalen weder Ärzte noch Pflegekräfte im Parlament vertreten waren. Das wollte ich ändern und habe mich auch auf Wunsch des CDU-Kreisverbands in Aachen 1995 erfolgreich für ein Landtagsmandat beworben. 

RÄ: 2009 folgte dann der Schritt in die Bundespolitik. Sie gewannen in Aachen das Direktmandat für den Deutschen Bundestag gegen die damals amtierende Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt.
Henke: Dass ich Ulla Schmidt schlagen konnte, hat mir schon Freude bereitet. Davon abgesehen war ich ja schon seit 1989 als 2. Bundesvorsitzender des Marburger Bundes bundespolitisch aktiv. Seit 1995 gehörte ich dann auch dem Vorstand der Bundesärztekammer an und war in dieser Funktion bei Verbändegesprächen und Anhörungen im Gesundheitsausschuss des Bundestages dabei. 

RÄ: Wer Sie in Berlin getroffen hat, gewann den Eindruck, dass Ihnen Ihr Abgeordnetenmandat großen Spaß gemacht hat.
Henke:  Mir macht fast alles, was ich tue, Spaß. Aber die Arbeit im Bundestag hat mir besondere Freude bereitet. Es gebe kein tolleres Parlament und keinen Ort, an dem mehr lehrreiche, wirklich spannende und die Themen dieser Welt abhandelnde Debatten stattfinden, als den Deutschen Bundestag, hatte mir Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Gespräch vor meinem Wechsel nach Berlin gesagt. Rückblickend betrachtet, stimmt das genau. 

RÄ: Sie haben noch relativ lange parallel zu ihrem politischen Engagement im Krankenhaus gearbeitet. 
Henke: Bis zur Wahl in den Landtag ging das ganz gut. Aber danach hat sich die angestrebte Vereinbarkeit von Klinik und Landtagsmandat schnell als erheblicher Irrtum erwiesen. Man muss für die Patientinnen und Patienten ein verlässlicher Ansprechpartner sein. Das war aufgrund der Termine und Anwesenheitspflichten im Landtag in Düsseldorf nicht mehr möglich. 
 

RÄ: Haben Sie die Arbeit mit den Patienten vermisst?
Henke: Ja, sogar sehr. Ich halte den Arztberuf für einen der schönsten Berufe, die es gibt. Leben retten, Gesundheit erhalten, Krankheiten heilen, Leiden lindern und Sterbenden beistehen. Das macht für mich den Kern ärztlicher Tätigkeit aus. Und die unmittelbare Mitwirkung daran vermisse ich bis heute. 

RÄ: Wenn Sie zurückblicken auf ihre (berufs-)politische Karriere, worauf sind sie besonders stolz? 
Henke: Stolz ist eine der sieben Todsünden. Stolz bin ich auf nichts. Aber bestimmte Entwicklungen erfüllen mich mit Genugtuung und einer gewissen Zufriedenheit. Was mich zum Beispiel sehr freut, ist dass wir in Nordrhein-Westfalen gerade die Chance haben, die Krankenhauspolitik nach ganz anderen Kriterien auszugestalten als das der Fall war, als ich mit der Berufspolitik angefangen habe. Damals beantragte jedes einzelne Krankenhaus seine eigene Investitionsförderung. Man musste als Krankenhausträger im Grunde genommen einen diplomatischen Dienst unterhalten, der ständig in Düsseldorf antichambrierte, wenn man auch einmal Geld aus den entsprechenden Töpfen erhalten wollte. Mit einer planvollen Gestaltung von Krankenhauspolitik hatte das nichts zu tun. Heute gibt es eine pauschale Investitionsförderung, bei der die Krankenhäuser mit einer festen Geldsumme rechnen können – die ist zugegebenermaßen zu gering. Aber das Land stellt Geld kalkulierbar zur Verfügung.
 
Außerdem ist es uns gelungen, dafür zu sorgen, dass die Ärztekammern in Nordrhein-Westfalen unmittelbar an der Krankenhausplanung beteiligt werden – in gleicher Rolle wie die Krankenhausgesellschaft und die Krankenkassen. Deshalb konnten wir uns, wie ich finde, mit viel Sachverstand in die aktuelle Reform der Krankenhausplanung einbringen, die mit ihren Leistungsgruppen und Leistungsbereichen wirklich ein großes Werk geworden ist. Bei der Krankenhausfinanzierung ist uns das allerdings leider noch nicht gelungen. 

RÄ: Zurzeit laufen die Vorbereitungen für die Umsetzung der Reform in NRW. Was erwarten Sie?
Henke: Ich glaube, die Reform wird jetzt durchgezogen. Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann ist bereit, fachliche Entscheidungen zu treffen, was natürlich auch bedeutet, Auswahlentscheidungen zu treffen. Am Ende wird nicht jedes Krankenhaus die Leistungen anbieten dürfen, die es gerne erbringen würde. Ein Teil der Häuser wird sich spezialisieren, ein anderer die Grundversorgung sicherstellen. Das halte ich auch für geboten. Denn Patienten mit komplexen Erkrankungen sind ja nicht in den richtigen Händen bei Ärztinnen und Ärzten, die bestimmte Eingriffe kaum jemals vornehmen. Dafür ist Erfahrung nötig. Ob die Mindestzahlen für bestimmte Eingriffe wissenschaftlich immer gut begründet sind, weiß ich nicht. Aber solche Planungsentscheidungen, auch was die Wirtschaftlichkeit von Leistungen betrifft, kann man auf Landesebene treffen.
 
RÄ: Könnte eine Reform zur Krankenhausfinanzierung auf Bundesebene die Planungsreform in NRW noch aushebeln?
Henke: Nein, das glaube ich nicht. Allerdings kann Bundesgesundheitsminister Lauterbach ein ungeplantes Krankenhaussterben herbeiführen, wenn er nicht genügend Geld zur Verfügung stellt, um die steigenden Kosten durch Inflation und Tariflohnsteigerungen auszugleichen. Die aktuelle Finanzlage der Krankenhäuser schreit nach mehr Mitteln. Auch die geplanten Strukturveränderungen müssen finanziert werden. Dass jetzt aber die Kassenärztliche Bundesvereinigung gegenüber der EU-Kommission die Rechtmäßigkeit des dafür vorgesehenen Transformationsfonds infrage stellen will, finde ich schwierig. Denn Finanzierungsschwierigkeiten haben ja sowohl die niedergelassenen 
Ärzte als auch die Krankenhäuser. Da müsste doch der logische Schluss sein, dass man zusammenrückt und gemeinsam dafür eintritt, dass diese Unterfinanzierung beendet wird. Das wäre eine Ausgangslage für ein großes „Bündnis Gesundheit“.
 
Man kann eine Sache nur dann zum Erfolg führen, wenn alle bereit sind, die Belange der anderen miteinzubeziehen. Das kenne ich aus dem Tarifgeschäft. Man kann im Vorfeld viel Krawall machen, aber zum Schluss muss man sich am Verhandlungstisch einigen.
 

RÄ: Was Sie sowohl als Kammerpräsident als auch als Politiker auszeichnet, sind ihre christlich geprägten medizin-ethischen Positionen zum Beispiel in den Debatten um Sterbehilfe, Pränataldiagnostik oder jüngst auch den Schwangerschaftsabbruch.
Henke: Für mich persönlich spielt das christliche Menschenbild, spielen katholische Soziallehre und evangelische Sozialethik eine große Rolle. Aber auch das Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes, das auf den Hippokratischen Eid zurückgeht, lange bevor das Christentum eine Rolle spielte, fordert von den Ärztinnen und Ärzten dieser Welt ein, immer den höchsten Respekt vor dem menschlichen Leben zu wahren. Das versprechen wir. Und ich habe manchmal das Gefühl, dass wir gar nicht mehr so genau darüber nachdenken, was diese Worte bedeuten. Der höchste Respekt vor menschlichem Leben kann ja nicht bedeuten, dass irgendein anderer Wert, der in Konflikt mit menschlichem Leben gerät, eine höhere Wertigkeit erlangt. Ich will nicht den § 218 zum Schwangerschaftsabbruch ändern. Ich finde aber, wir sollten uns nicht einfach damit abfinden, dass jedes Jahr 110.000 gezeugte Menschen mit ärztlicher Hilfe aus ihrem gerade beginnenden Leben herausbefördert werden. Auch wenn die Regierungskommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin jetzt die Pflichtberatung der ungewollt Schwangeren infrage stellt, lässt das aus meiner Sicht den höchsten Respekt vor dem menschlichen Leben vermissen, insbesondere den Respekt vor dem Leben, dass sich selbst noch gar nicht artikulieren kann. Diesen Fragen müssen sich Ärztinnen und Ärzte auch unabhängig vom christlichen Glauben stellen.
 
Kann der höchste Respekt gewahrt sein, wenn man sich für einen Abbruch entscheidet? Ja, wenn die Mutter sonst stirbt. Ja, wenn die Mutter sonst Suizid beginge. Aber sonst?
Noch komplexer wird es, wenn man sich die Entwicklungen rund um den nichtinvasiven Praena-Test für drei Trisomien anschaut. Dieser Test scheint sich als eine Art neue Routinediagnostik in der Schwangerenvorsorge zu etablieren – ganz unabhängig vom Alter und anderen Risiken der Schwangeren. Diesen Sachverhalt müssen wir dringend nüchtern wissenschaftlich analysieren.

RÄ: Vom Lebensanfang zum Lebensende: Eine gesetzliche Regelung zum assistierten Suizid steht noch aus.
Henke: Hier möchte ich eines vorausschicken: Wenn ich mir anschaue, was Palliativmedizin, Anästhesie und Schmerzmedizin alles leisten, ist der Weg in die Suizidassistenz einer, der sich mir nicht erschließt. Die Ärztekammer Nordrhein bemüht sich stattdessen sehr, die Gesetzgebung zur Suizidprävention voranzubringen. Denn Einsamkeit, insbesondere die Einsamkeit alter Männer, ist ein nicht zu überschätzendes Problem in unserer Gesellschaft. Das Problem ist nur, dass das Konzept zur Suizidprävention, das Bundesgesundheitsminister Lauterbach kürzlich vorgelegt hat, völlig unzureichend ist. Da muss man nochmal richtig ran. Wenn das allerdings zu lange dauert, wird sich irgendwann der Parallelweg der Suizidassistenz etablieren.

RÄ: Bleibt eine Frage zum Schluss: Werden Sie sich jetzt ganz aus der Berufspolitik zurückziehen?
Henke: Es wird bestimmt eine Herausforderung, sich nicht ständig zu Wort zu melden. (lacht) Nein, es gibt zwei Felder, in denen ich gerne noch eine Zeit lang weiterarbeiten würde. Ich würde gerne weiterhin in der Funktion des Vorstandsvorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft berufsständischer Versorgungseinrichtungen (ABV) einen Beitrag dazu leisten, dass die Versorgungswerke erhalten bleiben. Wenn ich hier in der Kammer das notwendige Vertrauen finde, will ich im November noch einmal für den ABV-Vorsitz kandidieren. Außerdem bin ich zurzeit Schatzmeister im Vorstand des Weltärztebundes. Da stehen im Frühjahr 2025 die nächsten Wahlen an. Wenn es genug Unterstützung gibt, bin ich gerne bereit, wieder zu kandidieren. 
 

Das Interview führten Sabine Schindler-Marlow und Heike Korzilius

Zur Person

Rudolf Henke wurde am 5. Juni 1954 in Birkesdorf, heute ein Stadtteil von Düren, geboren. Der Internist war von 1988 bis 2019 als Oberarzt an der Klinik für Hämatologie/Onkologie am St.-Antonius-Hospital Eschweiler tätig. 1989 wurde Henke zum 2. Bundesvorsitzenden des Marburger Bundes gewählt, von 2007 bis 2019 war er 1. Vorsitzender der Ärztegewerkschaft. 1981 zog Henke erstmals in die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein ein, 1988 wurde er in den Kammervorstand gewählt. Seit 2011 ist Henke Präsident der Ärztekammer Nordrhein. 1995 zog er für die CDU in den nordrhein-westfälischen Landtag ein, von 2009 bis 2021 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. Henke ist verheiratet und hat vier erwachsene Töchter.