In der Suizidprävention tätige Verbände und Organisationen bewerten die kürzlich vorgestellte Nationale Suizidpräventionsstrategie grundsätzlich positiv. Vermisst wird allerdings die verbindliche Finanzierung auf gesetzlicher Grundlage.
von Thomas Gerst
Über ein Gesetz zur Neuregelung der Sterbehilfe hatte sich der Deutsche Bundestag am 6. Juli des vergangenen Jahres nicht verständigen können; zwei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe wurden abgelehnt. Große Einigkeit bestand allerdings bei einem Antrag, mit dem die Bundesregierung kurzfristig zur Vorlage eines Konzepts, wie die bestehenden Strukturen und Angebote der Suizidprävention unterstützt werden können, und zu einem Gesetzentwurf auf dieser Grundlage aufgefordert wurde. Mit dem Konzept für eine Nationale Suizidpräventionsstrategie trat Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach etwas verspätet am 2. Mai an die Öffentlichkeit. Die Strategie sieht konkret unter anderem vor, eine zentrale Koordinierungsstelle für Beratungs- und Kooperationsangebote aufzubauen, Fachkräfteschulungen zu unterstützen und eine deutschlandweite Krisendienstnotrufnummer zu entwickeln. Zentraler Ansatz der Suizidprävention müsse es sein, so Lauterbach bei der Vorstellung der ministerienübergreifenden Strategie, Maßnahmen zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und zur Enttabuisierung der Themen Sterben, Tod und Suizid, beispielsweise über Aufklärungskampagnen, voranzutreiben. Zudem sieht die Strategie vor, sogenannte methodenbegrenzende Maßnahmen deutlich zu verstärken, was konkret bedeutet, Orte wie Brücken oder Bahnstrecken, die „suizidanfällig“ erscheinen, künftig besser zu sichern.
Evidenz für die suizidpräventive Wirksamkeit dieser zugangsbeschränkenden Maßnahmen zeige eine systematische Übersichtsarbeit, heißt es begleitend in einer wissenschaftlichen Expertise aus dem Gesundheitsministerium („Umsetzungsstrategie zur Suizidprävention in Deutschland“). Weniger deutliche Effekte, aber zumindest eine Reduktion von Suizidversuchen und Suizidgedanken erzielten demnach Awareness-Programme in Schulen. Nachweislich keinen positiven Einfluss auf die Suizidrate habe die seit Mitte der 1990er-Jahre stark gestiegene Verordnung von Antidepressiva. Große Metaanalysen zeigten einheitlich, dass Patientinnen und Patienten unter der Gabe von Antidepressiva mindestens so viele Suizidversuche und Suizide begehen wie unter Gabe von Placebo. Erfolgversprechender erscheint den Autoren der „Umsetzungsstrategie“, Hochrisikogruppen und hier insbesondere alte Männer mit Präventionsmaßnahmen anzusprechen. Menschen, die nach einem Suizidversuch medizinisch versorgt werden, sollten systematisch in eine längerfristige suizidpräventive Betreuung überführt werden.
Dauerhafte Lösung gefordert
Der 128. Deutsche Ärztetag in Mainz befasste sich Anfang Mai mit der wenige Tage zuvor vom Gesundheitsminister vorgestellten Suizidpräventionsstrategie. In einem Beschluss dazu konstatierten die Delegierten, dass die Strategie zwar richtige Ansätze enthalte, forderten gleichzeitig aber eine rasche gesetzliche Grundlage zur Suizidprävention; denn nur so sei eine verbindliche Umsetzung der Strategie möglich – „nur durch eine gesetzliche Verankerung erhält die Suizidprävention die notwendige Absicherung und Dauerhaftigkeit“. Nachdrücklich wies der Deutsche Ärztetag auch auf die Bedeutung eines Suizidpräventionsgesetzes im Zusammenhang mit der gesetzlichen Regelung zur Suizidbeihilfe hin. Bei der Erarbeitung des Gesetzes zur Suizidprävention sollten zudem die Bundesärztekammer und die Fachkreise der Suizidprävention deutlich stärker mit einbezogen werden, als dies bei der Entwicklung der Präventionsstrategie der Fall gewesen sei, kritisierten die Delegierten. Ähnlich fiel das Urteil der im Bereich der Suizidprävention tätigen Organisationen aus. In Lauterbachs Strategiepapier werde vieles richtig benannt, es fehle aber die dauerhafte finanzielle Absicherung, die nur über ein Gesetz erreicht werden könne. So appellierte die Leiterin des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NaSPro), Professor Dr. Barbara Schneider, an die Politik, die Expertise und jahrelange fruchtbare multiprofessionelle Zusammenarbeit im NaSPro auch im Rahmen der neuen Strategie unbedingt zu erhalten und finanziell abzusichern. Sorgen gibt es, dass mit der geplanten Schaffung einer mit der Suizidprävention befassten Bundesbehörde aktuell bereits bestehende und gut funktionierende Strukturen der Suizidprävention abgewickelt würden. Das zeitliche Procedere für einen Gesetzentwurf ist derzeit (Stand 15. Juni) noch offen. Auf Anfrage teilte das Bundesgesundheitsministerium mit, es werde auf der Grundlage des Strategiepapiers ein Gesetzentwurf erarbeitet, der sobald wie möglich vorgelegt werden soll.
Suizide in Deutschland
Nach Daten des Statistischen Bundesamts liegt die Zahl der Suizide in Deutschland seit 2004 bei rund 10.000 Fällen pro Jahr. Allerdings war von 2021 auf 2022 eine deutliche Zunahme (9.215/10.119 Fälle) zu verzeichnen. Einen starken Rückgang gibt es seit den 1980er-Jahren; mit 18.825 Selbsttötungen wurden in Deutschland 1981 noch rund doppelt so viele Fälle wie 2021 registriert. Die Suizidrate ging von rund 24 im Jahr 1980 auf aktuell 12/100.000 Einwohner zurück. Diese Halbierung lasse sich nicht auf einen bestimmten Faktor zurückführen, heißt es in der „Umsetzungsstrategie zur Suizidprävention in Deutschland“ aus dem BMG; mögliche Einflussfaktoren auf den Rückgang der Suizide seien: Aufklärung und Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen, Verbesserung der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung, Wohlstandsanstieg, demografisch bedingter Rückgang der Kriegsgeneration.
Zum Vergleich: 2022 gab es in Deutschland 2.788 Todesfälle im Straßenverkehr. Es starben mehr Menschen durch Selbsttötung als durch Verkehrsunfälle, Mord, AIDS/HIV und illegale Drogen zusammen.