Vorlesen
Thema

Patienten besser leiten

17.06.2024 Seite 12
RAE Ausgabe 7/2024

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2024

Seite 12

© peshkov/istockphoto.com/ Illustration: Eberhard Wolf
Für die Einführung eines Primärarztsystems hat sich jüngst – nach dem Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege und der Krankenhauskommission von Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach – auch der Deutsche Ärztetag ausgesprochen. In erster Linie geht es dabei um Hausarztmodelle, in die sich Versicherte freiwillig einschreiben können. Die Befürworter versprechen sich davon nicht nur eine Verbesserung der Behandlungsqualität und einen Abbau von Überversorgung, sondern auch eine Entschärfung des zunehmenden Fachkräftemangels bei den Gesundheitsberufen.

von Heike Korzilius

Vier Krankenscheine für den Besuch beim Hausarzt (für jedes Quartal einen), zwei Scheine für den Zahnarzt sowie zwei für Vorsorgeuntersuchungen: Bis zur Einführung der Krankenversichertenkarte im Jahr 1995 versendeten die Krankenkassen jedes Jahr ein Krankenscheinheft an ihre Mitglieder. Den Abrechnungsschein gab man bei der Hausärztin oder beim Hausarzt seines Vertrauens ab, diese übernahmen die Regelversorgung und überwiesen bei Bedarf zur Weiterbehandlung an Fachärzte oder ins Krankenhaus. Hielt man sich als Patient nicht an den vorgeschriebenen Weg, musste man die Anforderung weiterer Krankenscheine gegenüber der Krankenkasse begründen. Das war der Versorgungsalltag im deutschen Gesundheitswesen. Inzwischen hat die Idee, Hausärztinnen und -ärzte als Lotsen der Patienten und Koordinatoren der Behandlung einzusetzen, wieder Hochkonjunktur. Denn damit in einer Gesellschaft des langen Lebens mit steigendem Versorgungsbedarf die Gesundheitsversorgung bezahlbar bleibt und Patienten trotz sich verschärfenden Fachkräftemangels ärztlich und pflegerisch angemessen betreut werden können, muss nach Ansicht der Befürworter solcher Steuerungsmodelle dafür gesorgt werden, dass Patienten dort behandelt werden, wo es ihren Beschwerden entsprechend angemessen ist.
 
Diese Idee greift auch der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege in seinem Gutachten von Ende April 2024 mit dem Titel „Fachkräfte im Gesundheitswesen. Nachhaltiger Einsatz einer knappen Ressource“ auf. Er kommt darin zu dem Schluss, dass sich nur mit einer Reform der Versorgungsstrukturen der sich abzeichnende Mangel an Ärzten, Pflegenden und Medizinischen Fachangestellten kompensieren lasse. Die unzureichende Steuerung von Patientenwegen sowie die mangelnde Kommunikation und Kooperation zwischen den Akteuren der verschiedenen Versorgungsebenen führe nicht nur in vielen Fällen zu Überversorgung, sondern trage auch zur Verschärfung der Fachkräftesituation bei, weil die vorhandenen Ressourcen nicht optimal genutzt würden. Der Rat empfiehlt deshalb unter anderem, flächendeckend ein Primärarztsystem einzuführen. Für Versicherte sollten finanzielle Anreize geschaffen werden, sich künftig in einer haus- oder kinderärztlichen Praxis einzuschreiben, die die weitere Behandlung koordiniert. Flankierend sei es ratsam, das hausärztliche Honorarsystem von Quartals- auf Jahrespauschalen umzustellen, um unnötige Patientenkontakte insbesondere von gut eingestellten chronisch Kranken zu vermeiden. 
Nur kurze Zeit später legte die „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ Reformvorschläge für eine bessere Zusammenarbeit im Gesundheitssystem vor. Sie plädiert für den Aufbau eines Primärarztsystems aus Allgemein- und Kinderärzten, Internisten, Gynäkologen und Psychiatern zur Steuerung der Gesundheitsversorgung. „Um das System fit zu machen für die Behandlung der Baby-Boomer-Generation, müssen wir ambulante und stationäre Versorgung besser aufeinander abstimmen“, erklärte Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach bei der Vorstellung des Kommissionsberichts am 3. Mai. „Unnötige Krankenhausaufenthalte, fehlende Abstimmung zwischen Arztpraxis und Klinik sowie unnötiger Personaleinsatz sind weder im Interesse der Patienten noch der Behandelnden und schon gar nicht im Interesse der Gemeinschaft.“
 

Ulla Schmidt machte den Aufschlag

Einen ersten Anlauf für die Einführung eines Hausarztmodells hatte die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt bereits im Jahr 2004 mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung unternommen. Es räumte den Krankenkassen die Möglichkeit ein, Modelle zur hausarztzentrierten Versorgung (HzV) aufzulegen. Als das Ganze nicht richtig fruchtete, wurde 2007 aus der Möglichkeit eine Pflicht. Zudem erhielt der Hausärztinnen- und Hausärzteverband ein eigenes Verhandlungsmandat. 2008 unterschrieben Medi Baden-Württemberg, der dortige Hausärzteverband und die AOK den bundesweit ersten HzV-Vertrag, bei dem die Kassenärztliche Vereinigung (KV) komplett außen vor blieb. Bei den KVen und den Krankenkassen, insbesondere den bundesweit agierenden Ersatzkassen, stieß das Modell auf wenig Gegenliebe. Die einen fürchteten um den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung, die anderen sahen erhebliche Mehrkosten auf sich zukommen, ohne dass sich die Versorgung im selben Maße verbesserte.
 
Jetzt hat Bundesgesundheitsminister Lauterbach mit dem Gesundheitsversorgungs-Stärkungsgesetz einen neuen Versuch gestartet, die hausärztliche Versorgung zu fördern. Der Entwurf wurde am 22. Mai vom Kabinett verabschiedet und befindet sich zurzeit in der parlamentarischen Beratung. Er sieht vor, dass die Honorarobergrenzen für die Hausärztinnen und Hausärzte entfallen und – wie es auch der Sachverständigenrat empfohlen hat – Jahrespauschalen eingeführt werden, um unnötige Arztbesuche zu vermeiden. Allerdings vermissen die Befürworter von mehr Koordination eine aus ihrer Sicht zentrale Regelung im Gesetzentwurf: den ursprünglich vorgesehenen „HzV-Bonus“ für Patienten, die sich verpflichten, immer zuerst den Hausarzt aufzusuchen. Dabei seien wirksame Anreize für mehr Steuerung dringend notwendig. Denn auch 20 Jahre nach dem Aufschlag von Ulla Schmidt ist man in Deutschland von einem flächendeckenden Angebot an hausarztzentrierter Versorgung noch weit entfernt. Nach Angaben des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes waren im vergangenen Jahr bundesweit nur rund 16.000 Hausärzte und 6,2 Millionen Versicherte in HzV-Versorgungsverträge eingebunden.
 
Und allmählich findet auch in den ursprünglich HzV-skeptischen ärztlichen Körperschaften ein Umdenken statt. Der demografische Wandel, der Patienten und Ärzte gleichermaßen betrifft, der zunehmende Mangel an Fachkräften, der die Überlastung der im Gesundheitswesen Tätigen noch verschärft, sowie die angespannte finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenversicherung haben nicht nur dem „Hausarzt als Lotsen“, sondern einer generell besseren Koordination der Patientenwege zu neuer Popularität verholfen.
 
Unter der Überschrift „Gesundheitsversorgung der Zukunft – mehr Koordination der Versorgung und bessere Orientierung für Patientinnen und Patienten“ widmete der 128. Deutsche Ärztetag in Mainz dem Thema am 8. Mai einen eigenen Tagesordnungspunkt. Bereits bei der Eröffnungsveranstaltung am Vortag hatte der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, betont, Ziel der Gesundheitsversorgung müsse sein, die vorhandenen Ressourcen so effektiv, aufeinander abgestimmt und effizient einzusetzen, dass sie dem tatsächlichen Behandlungsbedarf der Patienten gerecht würden. Das bekräftigten die 250 Delegierten in einem Beschluss, in dem sie sich klar für ein Primärarztmodell aussprachen. Das deutsche Gesundheitswesen sei wie wenige andere von einem kaum gesteuerten Zugang gekennzeichnet. Das sei auch zum Nachteil der Patienten, denn unter diesen Bedingungen werde es immer schwieriger, eine abgestimmte und sichere Versorgung zu gewährleisten, heißt es dort.
 
Ähnlich wie der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege sprach sich der Ärztetag dafür aus, dass Patientinnen und Patienten künftig einen Hausarzt oder eine Hausärztin als erste Anlaufstelle wählen, die die Regelversorgung übernehmen und, wenn nötig, die Weiterbehandlung beim Facharzt oder im Krankenhaus koordinieren. Der direkte Zugang zum Gynäkologen und zum Augenarzt solle erhalten bleiben. Das Sozialgesetzbuch V (§ 73b) ermögliche schon heute eine hausarztzentrierte Versorgung, die Koordination und Integration der Behandlung über Fachgruppen und Sektoren hinweg fördere. „Dies hat sich bewährt und ist weiter auszubauen“, heißt es im Beschluss des Ärztetages.
Dieses Urteil unterfütterte der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Professor Josef Hecken, mit Zahlen. Die jüngste Evaluation der HzV in Baden-Württemberg von 2020 zeige ermutigende Ergebnisse, sagte Hecken. So nahm zwar die Zahl der Hausarztkontakte um gut 22 Prozent und die der koordinierten Facharztkontakte um 56 Prozent zu. Die unkoordinierten Facharztkontakte gingen dagegen um 45 Prozent zurück. Die Zahl der vermeidbaren Krankenhausaufnahmen sank um knapp vier Prozent. Die Medikamentenausgaben im ambulanten Bereich verringerten sich um knapp sechs Prozent. „Wir brauchen mehr Patientensteuerung“, forderte Hecken und bezog sich dabei auch auf die Kostenbelastung der Krankenkassen. „Wir geben in Deutschland 12,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, knapp 500 Milliarden Euro jährlich, für Gesundheitsleistungen aus“, so der G-BA-Vorsitzende. Mit steigenden Zuwendungen aus dem Bundeshaushalt sei angesichts der aktuellen Haushaltslage nicht zu rechnen. „Da ist nicht mehr viel Luft nach oben.“ Eine primärärztliche Steuerung könne hier Zeit und Ressourcen sparen. Eine bessere Koordination sei im Übrigen auch beim Zugang zur Notfallversorgung erforderlich. 

Gesundheitskompetenz fördern

Diese Forderung findet sich ebenfalls im Beschluss des Ärztetages. Entscheidend für die Steuerung des Zugangs in die Notfallversorgung ist nach Ansicht der Delegierten die bundesweite Einrichtung gemeinsamer Leitstellen von ärztlichem Bereitschaftsdienst (116 117) und Rettungsdienst (112). Dort solle eine standardisierte medizinische Ersteinschätzung stattfinden, die je nach medizinischer Dringlichkeit die Patienten an die nächstgelegene Arztpraxis, während der sprechstundenfreien Zeiten an den Bereitschaftsdienst oder direkt in die Notaufnahme des Krankenhauses verweist. Nicht zuletzt müssten Anreize für Ärzte und Patienten geschaffen werden, sich an vorgegebene Versorgungswege zu halten, forderten die Delegierten. Unter anderem müssten sämtliche Leistungen, die in der primärärztlichen Versorgung erbracht werden, entbudgetiert werden. Dasselbe gelte für fachärztliche Leistungen, die auf Überweisung erfolgten.  (Die Beschlüsse des Deutschen Ärztetages: 128daet.baek.de/Applications). Allerdings stellte der Ärztetag auch klar, dass grundlegende Voraussetzung für eine funktionierende Versorgungssteuerung eine ausreichende Gesundheitskompetenz der Menschen ist. Diese gelte es ebenso zu fördern wie das Wissen über die Strukturen des Gesundheitswesens und dessen sachgerechte Inanspruchnahme.
 
Sie halte die Beschlussvorlage des Deutschen Ärztetags zur Patientensteuerung für „genau den richtigen Weg“, sagte Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheit des Bundestages und wie der G-BA-Vorsitzende Hecken Gastreferentin zum Thema. Sie plädierte darüber hinaus für eine verbindlichere regionale Zusammenarbeit zwischen den Sektoren. „Wir brauchen niedrigschwellige Anlaufstellen in den Quartieren, wo auch nichtärztliches Personal hausärztliche Praxen entlasten kann“, erklärte die Grünen-Politikerin. Diese Anlaufstellen könnten auch sozialarbeiterische Funktionen erfüllen. In diesem Zusammenhang müsse die Zusammenarbeit der Ärzte mit anderen Gesundheitsberufen ausgebaut werden. In Deutschland sei man in der hochspezialisierten Medizin sehr gut aufgestellt. „Wir sind aber nicht ausreichend gut in der Basis, im Quartier“, so Kappert-Gonther.
 
Auch der Gesundheitsökonom Professor Dr. rer. pol. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld sprach sich für mehr Kooperation und Vernetzung in der Versorgung aus. „Das ist Teil der Lösung unseres Kapazitätsproblems“, so Greiner vor dem Deutschen Ärztetag. Mit Blick auf die Versorgungssteuerung im Rahmen von Primärarztmodellen strich er zwar ähnlich wie Hecken die positiven Effekte für verschiedene Aspekte der Versorgung heraus, gab aber zugleich mit Bezug auf internationale Studien zu bedenken, dass Patienten in sogenannten Gatekeeper-Strukturen weniger zufrieden seien als in Systemen mit Wahlfreiheit. Der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege, habe deshalb empfohlen, Anreize für die Patienten zu schaffen, immer zuerst den Hausarzt aufzusuchen, zum Beispiel, indem ihnen Zuzahlungen erlassen werden.

Zu den finanziellen Anreizen zählten einige Ärztetagsdelegierte die Einführung von Wahltarifen in der gesetzlichen Krankenversicherung und eine höhere Eigenbeteiligung für Versicherte, die Versorgungsleistungen weiterhin ungeregelt in Anspruch nehmen wollen. Andere warnten vor sozialen Härten, wenn Selbstbehalte erhöht würden. Die Mitglieder der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, die traditionell im Vorfeld des Deutschen Ärztetages zusammenkommen, hatten ihrem Vorstand aufgetragen, ein Konzept für eine wirksame Patientensteuerung zu erarbeiten. Dieses könne zum Beispiel Elemente wie ein Einschreibesystem, Wahltarife oder eine bessere Steuerung durch die 116 117 beinhalten, heißt es in dem entsprechenden Beschluss. Die ungesteuerte Inanspruchnahme des Gesundheitssystems sei weder medizinisch sinnvoll, noch personell und finanziell leistbar. Die notwendige und medizinisch sinnvolle Koordination und Steuerung der Versorgung gelte es aber sorgfältig gegen das hohe Gut der freien Arztwahl und der Patientenautonomie abzuwägen, mahnte BÄK-Präsident Reinhardt. Das besondere Vertrauensverhältnis von Ärztinnen und Ärzten zu ihren Patienten trage durchaus zum Heilungsprozess bei.