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Auf dem Weg zur Durchsetzung beruflicher Autonomie

15.09.2023 Seite 17
RAE Ausgabe 10/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 10/2023

Seite 17

Der Medizinhistoriker Professor Dr. phil. Dr. h.c.Robert Jütte leitete von 1990 bis 2020 das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderen die Sozialgeschichte der Medizin und die Wissenschaftsgeschichte. Seit 1994 ist er Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer. © Studio M42

RÄ: Welche Motivation lag hierzulande den Bestrebungen ärztlicher Vereinigungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugrunde, eine ärztliche Selbstverwaltung in Form von Ärztekammern zu etablieren?
Jütte: Es ging hier zentral um Abgrenzung und Selbstbestimmung des ärztlichen Berufsstandes. Dieser Prozess der Professionalisierung, der übrigens auch schon vor den 1850er-Jahren bei anderen Berufsgruppen, zum Beispiel bei den Juristen zu beobachten ist, weist je nach Definition mindestens vier Merkmale auf: 1. das Streben nach einem Marktmonopol; 2. die Kontrolle der Ausbildung und des Zugangs zum Beruf; 3. die Normierung des Verhaltens durch eine eigene Berufsethik; 4. die Durchsetzung beruflicher Autonomie, etwa auf dem Wege des verbandsmäßigen Zusammenschlusses. 

RÄ: Wie wichtig war die Schaffung von Selbstverwaltungsstrukturen für die Durchsetzung und Abgrenzung einer einheitlichen Profession? 
Jütte: Zur Monopolisierung des medizinischen Marktes wie auch zur Verbesserung der Medizinerausbildung bedurfte es einer breiten, massiven und effektiven Vertretung berufsständischer Interessen. In jeder Phase dieses Prozesses haben die Zusammenschlüsse von Ärzten einen wesentlichen Beitrag zur Erlangung eines oder mehrerer der genannten vier Ziele geleistet.

RÄ: Was stand zunächst im Vordergrund der ärztlichen Professionalisierungsbemühungen? 
Jütte: Zunächst ging es der neu formierten Ärzteschaft darum, sich gegen die unerwünschte Konkurrenz nichtärztlicher Heilberufe in der medizinischen Versorgung durchzusetzen. Weiter strebte man mehr und mehr Befugnisse bei der Regelung eigener Angelegenheiten an. Bei der Diskussion um die Reform der Medizinerausbildung, die in vielen Ländern bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder geführt wurde, ging es vordergründig um Eingangsvoraussetzungen, Ausbildungsinhalte und Abschlusszertifikate. Realer Hintergrund dieser Debatte war meist der Versuch, über die Kontrolle des Studiums der Medizin den Zugang zum Arztberuf zu regulieren. 

RÄ: Was waren die zentralen Themen der ärztlichen Selbstverwaltung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts?
Jütte: Die Ausdehnung der Versicherungspflicht in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts führte zu einem Anstieg des Anteils an versicherten Patienten. Das hatte zur Folge, dass sich Ärzte zunehmend mit einer kollektiv organisierten Abrechnungsstelle konfrontiert sahen. Ärztliche Standesorganisationen sahen in dieser Entwicklung nicht zuletzt einen Angriff auf einen zentralen Pfeiler der ärztlichen Standesidentität: die Selbstständigkeit der ärztlichen Berufsausübung.

RÄ: Rührte die Nähe der organisierten Ärzteschaft zum NS-Regime nicht zuletzt auch daher, dass mit der Reichsärzteordnung von 1935 vielen ärztlichen Forderungen nach einer hervorgehobenen Stellung im Staat Rechnung getragen wurde, allerdings unter der Voraussetzung einer Einbindung in den NS-Führerstaat?
Jütte: Mit der Reichsärzteordnung wurde eine seit vielen Jahren erhobene Forderung der Ärzteschaft erfüllt, dass der ärztliche Beruf nicht ein Gewerbe wie jedes andere sei. Gerade in wirtschaftlicher Hinsicht versprachen sich viele Ärzte Vorteile im NS-Staat. Insbesondere hoffte man, dass der Einfluss der Krankenkassen eingeschränkt werden würde und dadurch die häufig als herabwürdigend empfundenen Auseinandersetzungen mit diesen im neuen Gesundheitswesen vorbei seien. Mit der Errichtung einer Reichsärztekammer wurde ganz im Sinne des ,Führer-Prinzips‘ deren Leiter nicht gewählt, sondern von oben herab ernannt.

RÄ: In den Nachkriegsjahren kam es rasch wieder zur Neugründung von Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen auf Länderebene. Demokratische Wahlen und ehrenamtliches Engagement sind heute konstituierende Elemente ärztlicher Selbstverwaltung. Wie wichtig ist eine hohe Wahlbeteiligung für deren Legitimität?
Jütte: Kurz nach Zusammenbruch des ‚Dritten Reichs‘ erschien der Rückgriff auf bestehende Strukturen ärztlicher Selbstverwaltung unverzichtbar. So wurde den Ärztekammern auf Landesebene bereits kurz nach Kriegsende die Regelung ärztlicher Angelegenheiten unter Aufsicht der zuständigen Militärbehörde ermöglicht. Grundvoraussetzung war, dass bei den künftigen Kammerwahlen jeder approbierte Arzt das volle aktive und passive Wahlrecht haben sollte. Eine möglichst hohe Wahlbeteiligung sollte zur Legitimation der Selbstverwaltung beitragen. Dass nach den Erfahrungen in der NS-Zeit vom wieder eingeführten Wahlrecht in den ersten Jahren nach der Neugründung der ärztlichen Standesorganisationen rege Gebrauch gemacht wurde, zeigte sich beispielsweise 1950 bei den Wahlen zur Kammerversammlung in Nordrhein mit einer Wahlbeteiligung von 63 Prozent.
Bei der darauf folgenden Wahl im Jahr 1953 lag die Wahlbeteiligung im Regierungsbezirk Düsseldorf bei 74,4 Prozent und im Regierungsbezirk Köln gar bei 86,1 Prozent.

Das Interview führte Thomas Gerst