Ökonomisierung und Kostendämpfung haben zu Verwerfungen im Gesundheitswesen geführt. Die Eröffnungsveranstaltung zum 127. Deutschen Ärztetag am 16. Mai stand ganz im Zeichen der großen Strukturfragen: Wie kann die größte Krankenhausreform seit Jahrzehnten gelingen? Wie lässt sich der zunehmende Einfluss von Finanzinvestoren in der ambulanten Versorgung stoppen und wie die Versorgung der Patienten mit Arzneimitteln sichern?
von Heike Korzilius
Für die großen Strukturfragen und den damit verbundenen Wandel ist Essen der richtige Ort. Als der Deutsche Ärztetag das letzte Mal in der Ruhrmetropole tagte, im Mai 1966, rauchten dort noch die Schlote, obwohl die Kohlekrise die Region bereits erfasst hatte. Heute gilt die Stadt als Kultur- und Dienstleistungszentrum und als Hightech-Standort insbesondere in der Medizin. Eine Transformationsgeschichte von grau zu grün, wie Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen betonte.
Ähnlich tiefgreifende Veränderungen schweben auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach für einige Bereiche des deutschen Gesundheitswesens vor. Es gelte, einer „überdrehten Ökonomisierung“ gegenzusteuern und ganz grundsätzlich die Versäumnisse der vergangenen zehn Jahre abzuarbeiten. Dazu zählte der Minister neben der bereits eingeläuteten Finanzierungs- und Planungsreform für die Krankenhäuser auch den Kampf gegen Lieferengpässe bei Arzneimitteln, um die Produktion aus Billiglohnländern nach Europa zurückzuholen und damit Lieferengpässen entgegenzuwirken. Außerdem plädierte er dafür, die Digitalisierung im Gesundheitswesen weiter voranzutreiben und die Zahl der Medizinstudienplätze um 5.000 jährlich aufzustocken, um zu verhindern, dass sich der Ärztemangel weiter verschärft. Er wolle die Probleme gemeinsam mit der Ärzteschaft angehen, beteuerte Lauterbach bei der Eröffnungsveranstaltung in der Essener Philharmonie. „Schauen Sie nicht zurück, seien Sie nicht eingeschnappt, lassen Sie uns gemeinsam an diesen Baustellen arbeiten“, appellierte der Minister an die 250 Abgeordneten des Deutschen Ärztetages und spielte damit auf den Vorwurf der verfassten Ärzteschaft an, ihren Sachverstand nicht in angemessener Form in Gesetzesvorhaben einbringen zu können.
Lauterbach hob erneut hervor, dass die Ökonomie nicht die Medizin dominieren dürfe. „Wir haben in einigen Bereichen den Bogen überspannt“, meinte er. So habe die 100-Prozent-Finanzierung der Krankenhausleistungen über DRGs zu einer enormen Arbeitszeitverdichtung und zu einem ruinösen Wettbewerb der Kliniken untereinander geführt. Man habe damit ein „völlig unethisches System“ geschaffen, so Lauterbach. Er kündigte an, dass er nach einigem Streit im Vorfeld über die Planungshoheit die Krankenhausreform gemeinsam mit den Ländern angehen wolle. So könne die Neugestaltung der Krankenhausplanung in Nordrhein-Westfalen, die sich nicht mehr an der Zahl der Betten, sondern an Leistungsbereichen und -gruppen orientiert und bereits relativ weit fortgeschritten ist, ein Vorbild für den Bund sein. „Wir brauchen die Reform jetzt, denn viele Krankenhäuser sind von Insolvenz bedroht“, formulierte Lauterbach den Handlungsdruck.
Diesen Handlungsdruck sieht der Minister auch im Arzneimittelbereich. In den Apotheken fehlten zunehmend Medikamente. Das reiche vom Fiebersaft für Kinder über Statine und Antiallergika bis hin zu Onkologika. Betroffen seien in erster Linie Generika, die aufgrund von Rabattverträgen und Festbeträgen in Deutschland zum Teil schlechter vergütet würden als in den Nachbarländern. Im Fall von Lieferengpässen nähmen die Unternehmen die Medikamente folglich hierzulande zuerst vom Markt, so Lauterbach. „Das ist eine völlig unakzeptable Situation für so ein reiches Land“, sagte er und verwies auf das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungsgesetz, das sich zurzeit im parlamentarischen Verfahren befindet. Damit will der Minister unter anderem Kinderarzneimittel aus dem System der Festbeträge und Rabattverträge herauslösen und Anreize dafür schaffen, insbesondere die Produktion von Antibiotika nach Europa zurückzuholen.
Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. Klaus Reinhardt, hatte zuvor nicht mit Kritik am Politikstil des Bundesgesundheitsministers gespart. Er halte es für einen schweren politischen Fehler, dass Lauterbach den Sachverstand der ärztlichen Körperschaften nicht systematisch in seine Reformvorhaben einbinde. Statt das wertvolle Erfahrungswissen der Ärztinnen und Ärzte für seine Arbeit zu nutzen, diskreditiere er deren Engagement als Lobbyismus, sagte Reinhardt. Die Folgen zeigten sich gleich bei zwei wichtigen Reformvorhaben der Bundesregierung: der Digitalisierung und der anstehenden Reform der Krankenhausfinanzierung und -planung.
Ärztliche Expertise einbinden
Wenn diese Reform auch nur im Ansatz erfolgreich sein solle, müssten die in der Versorgung praktisch tätigen Ärztinnen und Ärzte von Beginn an mit einbezogen werden. In Nordrhein-Westfalen sei das vorbildlich geschehen. Dort habe Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann die Ärztekammern, die Kassenärztlichen Vereinigungen, die Landeskrankenhausgesellschaft und die Krankenkassen von Anfang an in die Planungen eingebunden. „Aus meiner Sicht könnte sich der Bund inhaltlich-fachlich wie auch prozedural ein Vorbild an Nordrhein-Westfalen nehmen“, erklärte Reinhardt, der zugleich Vizepräsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe ist, aus eigener Erfahrung.
Weiterbildung mitdenken
Viele Stolpersteine ließen sich nur vermeiden, indem man die Expertise der Ärztinnen und Ärzte einbinde. So müssten zum Beispiel die Folgen der Krankenhausreform für die ärztliche Weiterbildung bedacht werden. Die feingliedrigere Planungssystematik mit Leistungsgruppen werde dazu führen, dass manche Weiterbildungsstätten nicht mehr die volle Weiterbildungszeit anbieten könnten. Deswegen müssten die Leistungsgruppen medizinisch sinnvoll zugeschnitten werden und sich an der Systematik der Weiterbildungsordnung orientieren. Das führe dazu, dass künftig in viel größerem Umfang Kooperationen zwischen Krankenhäusern unterschiedlicher Versorgungsstufen und Weiterbildungsverbünde benötigt würden, die auch den ambulanten Sektor einbeziehen. Das müsse auch gesetzlich verankert werden. Reinhardt begrüßte, dass der Bund inzwischen im Streit mit den Ländern um die Hoheit bei der Krankenhausplanung eingelenkt habe.
Auch in Sachen Digitalisierung zeichne sich inzwischen in Abstimmung mit der Ärzteschaft eine Kursänderung ab, lobte der BÄK-Präsident: weg von reinen Verwaltungsanwendungen hin zu Anwendungen mit einem echten medizinischen Mehrwert. „Von einem Paradigmenwechsel möchte ich noch nicht sprechen, aber es ändert sich etwas“, sagte er. Am Anfang aller Überlegungen digitaler Prozesse müsse immer die Frage stehen, was für die Patientenversorgung gebraucht werde und welche Versorgungsdefizite durch digitale Anwendungen verbessert werden könnten. Mit Blick auf die elektronische Patientenakte (ePA) betonte Reinhardt, es brauche durchdachte Konzepte und Regelungen für die inhaltliche Befüllung der ePA, für die Zugriffssteuerung durch Patientinnen und Patienten sowie für die Freigabe der Daten zu Forschungszwecken. Um das Vertrauen der Patientinnen und Patienten nicht zu verspielen, seien Transparenz und einfache Möglichkeiten zum Widerspruch zum Beispiel gegen die Datennutzung durch bestimmte Gruppen oder Forschungsvorhaben notwendig. Darauf werde die Ärzteschaft bei den anstehenden Gesetzgebungsverfahren zum Digital- und zum Gesundheitsdatennutzungsgesetz sehr genau achten.
Investoren-MVZ beschränken
Die Ärzteschaft warte jedoch nicht ab, bis die Politik sie um eine Stellungnahme bitte, betonte Reinhardt. „Wir entwickeln unter anderem in Werkstattgesprächen unsere Positionen, die wir dann weiter in die Politik tragen“, so der BÄK-Präsident. Aus einem solchen Prozess seien beispielsweise die Positionen der Ärzteschaft zu investorengestützten Medizinischen Versorgungszentren (iMVZ) entstanden. Die konkreten Gesetzesvorschläge zur Regulierung von iMVZ seien durchweg auf positive Resonanz gestoßen. Grundsätzlich seien MVZ eine sehr sinnvolle Ergänzung der ambulanten Versorgungsstrukturen, stellte Reinhardt klar. Deshalb sei es wichtig, sie vor einer investorengesteuerten Kommerzialisierung zu bewahren. Insbesondere müsse die Unabhängigkeit ärztlicher Entscheidungen gegenüber kommerziellen Fehlanreizen abgesichert und eine Fokussierung des Versorgungsangebots auf besonders lukrative Leistungen verhindert werden. „Die aus Solidarbeiträgen aufgebrachten Mittel für die Patientenversorgung müssen vor einem Abfluss in internationale Finanzmärkte geschützt werden“, sagte Reinhardt. Vor Kurzem hätten die Länder Bayern, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz einen Antrag zur Beschränkung von iMVZ in den Bundesrat eingebracht, der sich mit wesentlichen Forderungen der Ärzteschaft decke. Auch Bundesgesundheitsminister Lauterbach kündigte bei der Eröffnungsveranstaltung in Essen an, iMVZ im Sinne der Ärzteschaft strenger zu regulieren. Geschehen könne das im Versorgungsgesetz II, das nach der Sommerpause ins parlamentarische Verfahren eingebracht werden soll.
BÄK-Präsident Reinhardt äußerte jedoch seine Zweifel darüber, wie ernst es Lauterbach mit einer Stärkung der Praxen wirklich ist. Der Wegfall der besseren Vergütung für neue Patienten, die der Minister durchgesetzt habe, spreche ebenso wie die Weigerung, Medizinischen Fachangestellten analog zu den Pflegekräften einen Corona-Bonus zu zahlen, für ein geringes Interesse an selbstständigen, wirtschaftlich starken vertragsärztlichen Praxen. Dazu passe auch der Aufbau von teuren Parallelstrukturen in Form von Gesundheitskiosken in sozial benachteiligten Stadtteilen oder die Förderung neuer Gesundheitsberufe wie Community Health Nurses, die nach den Plänen der Ampelkoalition in bisher hausärztliche Domänen vordringen sollen. „Herr Minister, stellen Sie die Weichen neu“, forderte Reinhardt. „Stärken Sie die Praxen.“ Unabdingbar dafür ist nach seiner Auffassung die Abschaffung der Budgetierung für alle niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte. Bislang hat der Bundesgesundheitsminister nur die Entbudgetierung der Kinderheilkunde und der hausärztlichen Medizin zugesagt.
Zu einer Stärkung der ambulanten Versorgung gehört für Reinhardt auch die längst überfällige Novellierung der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ). Wie bereits im vergangenen Jahr forderte er Bundesgesundheitsminister Lauterbach auf, seine „unwürdige Blockadehaltung“ zu beenden und die Reform endlich auf den Weg zu bringen. „Es steht nicht im Belieben des Ministers, die Reform aus ideologischen Gründen zu verweigern“, sagte Reinhardt. Als Verordnungsgeber sei es Lauterbachs Pflicht, eine transparente und rechtssichere Abrechnung privatärztlicher Leistungen sicherzustellen. Bis es soweit sei, hätten die BÄK und die Landesärztekammern allen Ärztinnen und Ärzten Hinweise über rechtskonforme Möglichkeiten für höhere Steigerungsfaktoren und individuelle Honorarvereinbarungen zur Verfügung gestellt, so Reinhardt. Ärzte, die die Novelle der GOÄ vor dem Verwaltungsgericht durchsetzen wollten, hätten die volle Unterstützung der ärztlichen Verbände, der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages.
Cannabis-Freigabe gefährdet Kinder
Der Präsident der gastgebenden Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke, legte den Fokus auf eines der Schwerpunktthemen des diesjährigen Deutschen Ärztetages: Prävention, Gesundheitskompetenz und Gesundheitsförderung. Angesichts der demografischen Entwicklung nähmen altersbedingte Krankheiten wie Diabetes, Krebs und Demenz zu. Die steigende Nachfrage an Gesundheitsleistungen treffe dabei auf den bereits jetzt spürbaren Mangel an Fachkräften im Gesundheitswesen.
Umso wichtiger sei es, bereits Kindern und Jugendlichen einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu vermitteln, um Risikofaktoren für chronische Erkrankungen wie Rauchen und schädlichen Alkoholkonsum zu minimieren. 7,9 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren konsumierten in Deutschland Alkohol in gesundheitlich riskanter Weise. „Wie man angesichts dieser ungelösten Probleme, vor die uns die legalen Drogen schon heute stellen, auf die Idee kommen kann, nun noch eine weitere Droge durch die Cannabislegalisierung hinzuzufügen, erschließt sich mir gerade mit dem Verweis auf Kinder- und Jugendschutz nicht“, sagte Henke an den Bundesgesundheitsminister gewandt.
Prävention an Schulen stärken
Ein von der Ampelregierung selbst in Auftrag gegebenes Gutachten komme zu dem Schluss, dass der Konsum von Cannabis nach einer Legalisierung zunimmt und dort, wo mehr Menschen Cannabis konsumieren, auch die Zahl der Notaufnahmen für akute und chronische Suchtfolgen ansteigt. Dazu komme, dass Kinder am Modell lernten. Es sei bekannt, dass Kinder aus alkohol- oder drogenbelasteten Familien als Hochrisikogruppe für die Entwicklung einer eigenen Suchterkrankung gelten. „Und nun sollen Kinder zukünftig umgeben von einem cannabiskonsumierenden Umfeld aufwachsen und wie durch ein Wunder hiervon nicht beeinflusst werden?“, fragte Henke. Statt Energie und Arbeit in ein Gesetz zu stecken, dass sich mit dem Anbau von Cannabispflanzen und dem Aufbau von Cannabis-Social-Clubs beschäftigt, hätte er sich gewünscht, diese Arbeitskraft in den nachhaltigen Ausbau von Prävention und in die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stecken. Das schließe den Ausbau von Angeboten der Suchtprävention, Ernährungs-, Gesundheits- und Medienkompetenz in Schulen ein. „Eine Überarbeitung des Präventionsgesetzes, auch unter Ausweitung des Präventionsansatzes auf die planetare Gesundheit sollte meiner Ansicht nach prioritär erfolgen“, betonte Henke.
Auf die Herausforderungen, vor denen das Gesundheitswesen angesichts der demografischen Entwicklung und des Mangels an Ärzten und Pflegpersonal steht, ging auch Landesgesundheitsminister Laumann ein. NRW sei geprägt von Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet und ländlichen Regionen in Westfalen und Teilen des Rheinlands. Wichtig sei, die Gesundheitsversorgung in derart unterschiedlichen Landesteilen flächendeckend sicherzustellen und den Menschen einen Zugang zur Versorgung in akzeptablen Zeiträumen zu ermöglichen. Laumann wies darauf hin, dass das Land im Kampf gegen den Ärztemangel in den letzten Jahren 400 zusätzliche Medizinstudienplätze an der neu gegründeten Fakultät in Ostwestfalen-Lippe und an der Universität Witten-Herdecke geschaffen habe. Auch die nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe verzeichneten seit der Abschaffung des Schulgeldes in NRW steigende Schülerzahlen. Bei den Medizinischen Fachangestellten liege die Ausbildungsrate sogar über der aller anderen Ausbildungsberufe. „Dennoch wird uns der Arbeitskräftemangel über alle Bereiche der Wirtschaft weiter begleiten“, sagte Laumann. Er betonte zugleich, dass ihm viel an einer Stärkung der freiberuflich tätigen Ärztinnen und Ärzte liege. „Ich will, dass es in Deutschland auch weiterhin eine breite Mittelschicht gibt, dazu gehören auch die Freiberufler“, betonte Laumann. Denn diese habe einen stabilisierenden Einfluss auf die demokratischen Strukturen des Landes.
Der Wert der ärztlichen Freiberuflichkeit war neben der Stärkung der Gesundheitskompetenz ein weiteres Schwerpunktthema des 127. Deutsche Ärztetages. Das Ärzteparlament tagte bis zum 19. Mai in Essen. Die Wahl des neuen Präsidiums der Bundesärztekammer fand am 18. Mai statt, nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe des Rheinischen Ärzteblattes.