Eine gute Gesundheitsbildung schon in der Schule zu verankern, kann dazu beitragen, die Krankheitslast in einer Gesellschaft des langen Lebens zu senken. Darin sind sich Wissenschaft und Politik einig. Zuletzt hat Mitte Mai der 127. Deutsche Ärztetag eine entsprechende Strategie gefordert. Wie der Ansatz in der Praxis funktionieren kann, zeigt das Programm Gesund macht Schule, das in Nordrhein seit über 20 Jahren erfolgreich läuft.
von Heike Korzilius
Die Jungen und Mädchen der Waschbärenklasse 3 b sind mit Feuereifer bei der Sache. Sämtliche Hände recken sich nach oben, als Dr. Marion Mittag fragt, wer einen Gegenstand aus dem Stoffbeutel ziehen will, den sie vor sich hält. Die Patenärztin hat von Waschlappen, Seife und Desinfektionsmittel über Läusekamm, Toilettenpapier und Zahnbürste alles Mögliche eingepackt, das mit „Hygiene“ zu tun hat – dem Thema dieser Unterrichtsstunde. Pia zieht den Läusekamm. Mittag fragt: „Wer kann Läuse kriegen? Muss man sich dafür schämen? Was muss man tun, wenn der Kopf juckt und man glaubt, welche zu haben?“ Wieder schnellen die Arme in die Höhe, und die Ärztin erarbeitet mit den Kindern die richtigen Antworten.
Mittag, die seit Beginn ihrer ärztlichen Tätigkeit in der Gesundheitsförderung arbeitet, engagiert sich von Anfang an im Programm Gesund macht Schule (siehe Kasten). Die Edith-Stein-Schule in Krefeld ist eine von 40 Grundschulen, an denen sie im Rahmen des Programms einmal im Schuljahr den Schülerinnen und Schülern der dritten und vierten Klassen Gesundheitswissen zu Themen wie zum Beispiel Arztbesuch, Verdauung, Sexualerziehung oder eben Hygiene vermittelt. „Bei Kindern kann man noch dazu beitragen, gute Gewohnheiten auszubilden oder das zumindest anzuregen, indem man Wissen und Wertschätzung für den eigenen Körper transportiert“, sagt sie im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt.
Das Interesse von Eltern variiert
Gut findet sie, dass bei Gesund macht Schule auch die Eltern einbezogen werden, denn es gehe bei der Gesundheitserziehung ja immer auch um die Ausbildung von Verhaltensweisen. Allerdings ist das Interesse der Eltern je nach Thema unterschiedlich ausgeprägt. Allgemeine Gesundheitsfragen wie gesunde Ernährung oder Bewegung stoßen auf deutlich weniger Resonanz als die noch immer mit einem gewissen Schamgefühl behafte Sexualerziehung, die Mittag in den vierten Klassen anbietet. Sie freue sich immer, wenn am Elternabend auch die Eltern teilnehmen, die skeptisch sind und nicht wollen, dass ihre Kinder schon in der Grundschule mit dem Thema konfrontiert werden. Das treffe insbesondere auf Familien zu, die aus einem kulturellen Umfeld mit sehr viel strengeren Moralvorstellungen stammen. „Mir geht es dann darum klarzustellen, dass Sexualerziehung samt der damit verbundenen Werte und Normen Elternaufgabe ist, wir den Eltern aber gerne dabei helfen, Wissen zu vermitteln“, erklärt Mittag. Es gehe darum, dafür zu sorgen, dass die Mädchen und Jungen gesund bleiben. „Die Kinder haben Fragen rund um Pubertät und Sexualität“, sagt Mittag. „Und die Antworten auf diese Fragen sollten sie nicht googeln müssen, sondern mit Eltern, Lehrern und mit mir klären können.“ Bisher sei es ihr noch immer gelungen, die Eltern von diesem Ansatz zu überzeugen.
Es gibt hier keine Projektitis
Mittag ist vom Konzept von Gesund macht Schule überzeugt: „Die Patenärztinnen und -ärzte können die Schule dort unterstützen, wo sie es braucht – egal, ob es um die Verdauung im Rahmen der gesunden Ernährung geht oder um den Arztbesuch.“ Ein weiterer Pluspunkt neben der thematischen Bandbreite ist für sie die Konstanz des Programms, das im Jahr 2001 startete. „Niemand muss hier jedes Jahr von Neuem Projektanträge schreiben und sich jedes Jahr mit einer neuen Patenärztin anfreunden“, meint Mittag. „Ich bin ein fester Bestandteil im Alltag meiner Schulen. Das hat für mich einen hohen Wert und vor allem macht es Spaß.“ Es gehe bei der Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern ja nicht nur um die Sachbotschaften, die könne man auch im Buch nachlesen. Es gehe auch darum, behutsam auf individuelle Bedürfnisse und Fragen einzugehen. „Das kann die Mama betreffen, die schwanger ist oder den Papa, der raucht“, erläutert Mittag.
Was aber kann Gesundheitsbildung in der Schule leisten und wo sind die Grenzen? „Die Grenzen sind sicherlich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“, sagt die Patenärztin. „Man kann in der Schule einen Rahmen schaffen und zum Beispiel Bewegungsfreude oder eine gesunde Pausenernährung fördern.“ Damit lege man ein Fundament. Man könne den Respekt gegenüber dem eigenen Körper stärken, indem man zum Beispiel zeige, wie erstaunlich und zuverlässig die Atmung funktioniert und was – auf der anderen Seite – das Rauchen in der Lunge anrichtet. Natürlich lebten Kinder, in deren Elternhaus nicht auf eine gesunde Ernährung geachtet oder geraucht werde, in zwei Welten. „Das Kind lernt aber durch unser Angebot wenigstens nicht nur eine, sondern beide Welten kennen“, so Mittag. Zudem wachse bei den Kindern am Ende der Grundschulzeit auch die Eigenkompetenz. „Da kann man dann schon entscheiden, wie oft man sich wäscht und vielleicht auch um ein eigenes Handtuch bitten.“
Ohnehin gehe es bei der Gesundheitserziehung immer auch um Selbstermächtigung. Mittag macht das am Beispiel „Arztbesuch“ fest: Ihr sei es wichtig, dass sich die Kinder nicht nur passiv erlebten. „Sie sollen sich in der Situation zurechtfinden und lernen, ihre Gedanken zu ordnen und selbst zu sagen, was die Ärztin interessieren könnte und was möglicherweise mit ihren Beschwerden zusammenhängt“, erklärt Mittag. „Die eigenen Empfindungen wahrzunehmen und auszudrücken hat viel mit Gesundheitsprävention zu tun.“
Prävention und Gesundheitsförderung seien im Schulprogramm der Edith-Stein-Schule fest verankert, betont auch Schulleiterin Tanja Barstat. Die Kinder, aber auch Lehrerinnen und Lehrer profitierten dabei sehr von der Zusammenarbeit mit Patenärztin Mittag oder im Bereich der Zahngesundheit mit den Zahnärzten des örtlichen Gesundheitsamtes. „Viele Inhalte lassen sich so anschaulicher und fachlich fundierter transportieren“, meint sie. „Für die Kinder sind solche Stunden, in denen jemand extra von außen in die Schule kommt, kleine Highlights im Schulalltag.“
Diese Stunden blieben anders in Erinnerung und würden auch zu Hause am Küchentisch erwähnt. „Dadurch bekommen die Themen eine andere Gewichtung“, sagt Barstat. Wie Patenärztin Mittag ist auch sie überzeugt, dass es den Blick weitet, wenn Kinder von einer Expertin oder einem Experten Gesundheitsinformationen erhalten, die sich vom Erleben im Elternhaus unterscheiden. „Da öffnen wir ein kleines Stückchen die Tür“, so Barstat.
Mangel an Gesundheitskompetenz
Ganz grundsätzlich gewinnt das Thema Gesundheitsbildung nach Ansicht der Schulleiterin in den Schulen an Bedeutung. Das spiegle ihr auch ihr kollegiales Umfeld. Nicht immer arbeite man dabei wie an der Edith-Stein-Schule mit externen Experten zusammen. Aber das Thema sei sowohl in den Schulen als auch in der Lehrerfortbildung angekommen.
Dabei dürften die Voraussetzungen für die gesundheitliche Bildungsarbeit in Barstats Schule günstiger sein als an manch anderer Einrichtung. Die Edith-Stein-Grundschule liegt im Krefelder Stadtteil Uerdingen, Einfamilienhäuser auf der einen Seite, sozialer Wohnungsbau auf der anderen. Die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft beschreibt Barstat als „sehr gesund gemischt“. Für Kinder, die zu Hause schlechter versorgt würden, halte die Schule immer ein paar Plätze im Offenen Ganztag vor, eine Frühstückszeit und ein warmes Mittagessen inklusive, erklärt Barstat. Außerdem gibt es für die Kinder im Rahmen des EU-Schulobstprogramms dreimal in der Woche frisch geschnittenes Obst und Gemüse. So lasse sich gesunde Ernährung in den Schulalltag integrieren. „Damit pflegen wir eine gewisse Esskultur“, sagt Barstat. „Und die Erfahrung zeigt, dass die Kinder fast alles probieren. Was zu Hause nicht gegessen wird, geht hier weg wie warme Semmeln.“
Positive Ansätze wie dieser sollten jedoch nicht den Blick auf die bundesweite Realität verstellen. Nach der „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS) des Robert Koch-Instituts sind gut 15 Prozent der Drei- bis 17-Jährigen übergewichtig und sechs Prozent adipös – Folgen insbesondere von Bewegungsmangel und Fehlernährung. Dazu kommen die Auswirkungen der Coronapandemie. Der COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zufolge litt im dritten Jahr der Pandemie noch immer jedes vierte Kind an psychischen Auffälligkeiten. Auch die Zahl der suchtkranken Jugendlichen ist demnach gestiegen.
Dazu kommt eine im europäischen Vergleich geringe Gesundheitskompetenz deutscher Schulkinder, wie die Kinder- und Jugendgesundheitsstudie der Weltgesundheitsorganisation belegt. Eine Ursache dafür ist der WHO zufolge, dass Gesundheitsthemen in Deutschland zu selten und nicht regelmäßig im Schulalltag behandelt werden.
Ärzte fordern verbindliche Vorgaben
Für den 127. Deutschen Ärztetag, der Mitte Mai in Essen tagte, war dieser Befund Grund genug, dem Thema Gesundheitsbildung einen eigenen Tagesordnungspunkt zu widmen und nachhaltige Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsbildung junger Menschen zu fordern. „Kitas und Schulen spielen eine entscheidende Rolle dabei, Kindern und Jugendlichen Wissen und Kompetenzen für eine gesunde Lebensführung zu vermitteln“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. Klaus Reinhardt. Das Bildungssystem könne sicher nicht alle Fehlentwicklungen stoppen. Dennoch wäre es zukunftsweisend, wenn bundesweit an allen Schulen Gesundheitsthemen fächerübergreifend vermittelt würden.
Konkret forderte der Ärztetag die Kultusministerkonferenz auf, eine länderübergreifend abgestimmte Strategie zu entwickeln, mit der die Förderung der Gesundheitskompetenz von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen nachhaltig verankert werden könne. Neben Fortbildungen für das Schulpersonal seien Mustercurricula und fächerübergreifende Lehr- und Unterrichtsmaterialien notwendig. Entwickelt werden müssten Lerninhalte zu Themen wie Ernährung, Bewegung, Sexualität, psychische Gesundheit, Verhalten im Notfall, Hitzeschutz, Klimawandel und Gesundheit sowie zur angemessenen Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Diese Lerninhalte müssten verbindlich in den (Rahmen-)Lehrplänen verankert werden, forderte der Ärztetag. Außerdem sei die Expertise der Ärzteschaft bei deren Erarbeitung einzubinden. Die Bundesregierung forderte der Ärztetag auf, ihren im Koalitionsvertrag verankerten Nationalen Präventionsplan mit konkreten Maßnahmenpaketen zügig umzusetzen.
Die Etablierung „Gesunder Schulen“ und die fächerübergreifende Verankerung von Gesundheitsthemen dürfe nicht vom Engagement einzelner Lehrkräfte abhängen, mahnte Reinhardt in Essen. Sie müsse finanziell und konzeptionell gesichert sein. „Wir brauchen mehr Mittel für Schulen und Kitas“, forderte der BÄK-Präsident.
Den Stellenwert der Gesundheitsförderung in der Schule betonte auf dem Ärztetag auch die nordrhein-westfälische Schulministerin Dorothee Feller. Die Schulen hätten einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit von jungen Menschen. Bildung beeinflusse die Gesundheitskompetenz und umgekehrt. Aus diesem Grund habe das Land gemeinsam mit den Krankenkassen das Landesprogramm „Bildung und Gesundheit“, das unter anderem die Gesundheitskompetenz von Schülerinnen und Schülern fördern soll, bis 2027 verlängert.
Schule erreicht alle Kinder
Auch Professor Dr. phil. Orkan Okan, Professur für Health Literacy an der Technischen Universität München, verwies in Essen auf die Schule als wichtigen Ort für Prävention. „In der Schule erreichen wir alle Kinder ungeachtet ihrer sozialen Herkunft“, sagte Okan. Das Setting sei gut geeignet, um die Gesundheitskompetenz der Schülerinnen und Schüler zu stärken. Notwendig sei allerdings eine entsprechende Strategie.
Eine pragmatische Empfehlung zur Förderung der Gesundheitsbildung gab der 127. Deutsche Ärztetag. Er appellierte an sämtliche Landesärztekammern, sich dem Programm Gesund macht Schule anzuschließen oder entsprechende eigene Projekte mit gesetzlichen Krankenkassen zu initiieren.
An der Edith-Stein-Grundschule in Krefeld ist Dr. Marion Mittag derweil von der Waschbären in die Fuchsklasse 3 a gewechselt. Dort hat ein Kind Seife aus dem Stoffbeutel gezogen. Die Patenärztin erklärt, wie man sich damit richtig die Hände wäscht. Aus Coronazeiten weiß die Klasse, dass man sich bei der Dauer am Lied „Happy Birthday“ orientieren kann. Die Kinder singen es auf Türkisch.
20 Jahre Gesund macht Schule
Das Programm wird in Nordrhein und Hamburg umgesetzt. Projektpartner sind die Ärztekammern sowie die AOK Rheinland/Hamburg.
Ziel ist es, Prävention und Gesundheitskompetenz in der Lebenswelt „Schule“ zu verankern und durch die Zusammenarbeit mit den Eltern auch in die Familien zu tragen.
Das Programm hat sechs Bausteine:
- Schulpatenschaften von Ärztinnen und Ärzten
- Unterrichtsmaterialien
- Elternarbeit
- Fortbildung der Lehrkräfte und der Mitarbeiter im Offenen Ganztag
- Regionale Treffen von Schulen, Patenärzten und Programmkoordinatoren
- Einbeziehung des Offenen Ganztags (Koch-, Bewegungs- und Körper-AGs)
In Nordrhein läuft das Programm seit über 20 Jahren. Innerhalb dieser Zeit wurden eine Million Grundschüler erreicht. Zurzeit beteiligen sich 304 Grundschulen und 136 Patenärzte an Gesund macht Schule.
Kontakt: Snezana.Marijan(at)aekno.de
www.gesundmachtschule.de