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Die Zukunft auf der Gabel

23.08.2022 Seite 12
RAE Ausgabe 9/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2022

Seite 12

Großflächige intensive Monokulturen, industrielle Viehzucht und die damit einhergehende Entwaldung verursachen nach UN-Angaben 29 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen. Um die Ziele der Vereinten Nationen für eine Nachhaltige Entwicklung sowie die im Pariser Klimaabkommen verankerten Ziele zu erreichen, ist ein „Weiter so“ bei Produktion und Konsum von Lebensmitteln für viele Wissenschaftler keine Option mehr, sie drängen auf eine langfristige Ernährungswende. 

von Sabine Schindler-Marlow

Obwohl weltweit so viele Nahrungsmittel wie nie zuvor produziert werden, kann sich mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung laut Welternährungsbericht 2021 keine gesunde Ernährung leisten. Als Folge davon ist einer von zehn Menschen unterernährt und einer von vier übergewichtig. Diese „doppelte Last von Fehlernährung“ grundsätzlich zu verbessern, gehört zu den drängendsten Zukunftsaufgaben. Denn eine gute Ernährung ist entscheidend für Wohlbefinden, Gesundheit, Teilhabe und Leistungsfähigkeit von Menschen und Gesellschaften.

Den Hunger weltweit zu beenden und Ernährungssicherheit zu erreichen, wurde 2015 als zentrales Ziel in die international vereinbarte Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung aufgenommen. Doch laut Schätzungen des UN-Welternährungsberichts sind derzeit weltweit bis zu 828 Millionen Menschen von Hunger bedroht. Hauptursachen für die aktuelle Ernährungsunsicherheit sind neben der Coronapandemie, die Folgen des Klimawandels, Kriege und bewaffnete Konflikte. So ist die Weltgemeinschaft von dem Ziel, bis 2030 keinen Menschen mehr hungern zu lassen, weit entfernt. 

Spirale abwärts?

Eine wachsende Weltbevölkerung macht es erforderlich, dass immer mehr Nahrung produziert werden muss mit weiteren gravierenden Folgen für das Klima. Denn Ackerbau und Viehzucht sind mit die wichtigsten Verursacher der Erderwärmung, sie sind die Quelle von mehr Treibhausgasen als der gesamte Verkehr. 

Fast die Hälfte der Emissionen aus dem Agrarsektor resultieren aus Landnutzungsänderungen durch die Umwandlung von Wäldern zu Acker- und Weideland sowie aus der Trockenlegung von Mooren und dem Verbrennen von Biomasse. Die andere Hälfte stammt aus der Landwirtschaft. Extrem klimawirksame Treibhausgase wie Lachgas entstehen durch Mineraldünger, während Methan beim Nassreisanbau oder durch Verdauungsprozesse von Wiederkäuern in der Tierhaltung freigesetzt wird.
 

Auf das Konto der intensiven Landwirtschaft geht auch ein großer Teil des Verlustes an ökologisch wichtiger Artenvielfalt. Denn durch die Rodung von Grünflächen und Waldgebieten zur Gewinnung von Ackerland werden viele unersetzbare Lebensräume vernichtet und damit das Aussterben wildlebender Tiere und Pflanzen beschleunigt.

Schon heute stellt vor allem die konventionelle und intensive Landwirtschaft einschließlich der Massentierhaltung den Umweltschutz vor große Herausforderungen – und diese werden mit dem weltweit steigenden Nahrungsbedarf zunehmen. Bis Mitte 2050 sind vermutlich fast zehn Milliarden Menschen zu versorgen, das sind zwei Milliarden Menschen mehr als heute. Neben dem Bevölkerungszuwachs trägt auch der wachsende Wohlstand in vielen Teilen der Welt zu einem höheren Nahrungsbedarf bei. Besonders in China und Indien wächst die Nachfrage nach Fleisch, Eiern und Milchprodukten. Um diese Ansprüche befriedigen zu können, müsste die Agrarproduktion bis 2050 um rund zwei Drittel gesteigert werden. Dazu müssten insbesondere Wasser, fruchtbare Böden und die Artenvielfalt intelligenter – vor allem effektiver – genutzt und erhalten werden. Doch bislang passiert das Gegenteil. Weltweit gehen jährlich rund zwölf Millionen Hektar Agrarfläche verloren – durch Überweidung, ungeeignete Anbaumethoden, Erdabtragung oder durch Straßen- und Städtebau. Zudem wirken sich Wasserknappheit und große Hitze schädlich auf Anbau und Ernte von Weizen und anderen Kulturpflanzen aus. Setzt sich dieser Trend ungebremst fort, werden die Ernten in den nächsten 25 Jahren, statt zu steigen, um bis zu zwölf Prozent sinken, schätzen Experten. Die Auswirkungen davon wären eine Zunahme von Hunger, von Flucht und bewaffneten Konflikten.

Vor diesem Hintergrund hat Mathias Mogge, Generalsekretär und Vorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe im Vorfeld des G7-Gipfels in Elmau Ende Juni gefordert, das globale Ernährungssystem so umzugestalten, dass alle Menschen Zugang zu einer gesunden und ausreichenden Ernährung bekommen. 

Lösung in Sicht?

Eine weltweite Ernährungsweise, die sowohl die Gesundheit der Menschen als auch den Planeten Erde gleichermaßen schützt, beschreibt die sogenannte Planetary Health Diet (PHD). Entwickelt wurde sie im Jahr 2019 von der EAT-Lancet Commission on Food, Planet, Health, einer Kommission internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen, mit dem Ziel, weltweit sowohl den Energie- und Nährstoffbedarf der Menschen zu decken, aber auch ernährungsassoziierte Krankheiten und die Gesamtsterblichkeit zu reduzieren. Die konsequente Umsetzung der PHD könnte, so die Kommission, dazu beitragen, eine schwerwiegende Umweltzerstörung zu vermeiden und jährlich etwa elf Millionen vorzeitige Todesfälle bei Erwachsenen zu verhindern.

Eine Ernährungsweise nach der PHD zeichnet sich durch reichlich Obst und Gemüse, Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte, Nüsse und ungesättigte Fettsäuren aus. „Pflanzenbasiert“ muss dabei nicht immer den kompletten Verzicht auf tierische Produkte bedeuten. So gibt es zahlreiche Speisepläne im Einklang mit der PHD (z.B. Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Healthy Eating-Index, Mediterrane Kost), die keinen strikten Fleischverzicht oder den kompletten Verzicht auf tierische Produkte fordern, sondern einfach einen anderen Schwerpunkt setzen. Welche dieser Ernährungsmuster bevorzugt werden, ist eine Frage der persönlichen Präferenz. 

Die Initiative „Ernährungswende anpacken“, die auch von vielen ärztlichen Organisationen und Verbänden getragen wird, hat im Juli dieses Jahres Eckpunkte einer zukunftsweisenden Ernährungsstrategie für Deutschland vorgelegt. Gefordert werden eine Überprüfung der Lebensmittelbesteuerung sowie die Unterstützung einer pflanzenbasierten Ernährung mit dem Ziel, den Konsum tierischer Produkte zu reduzieren. Zu den Eckpunkten gehören darüber hinaus auch eine Stärkung der Ernährungsbildung, Ernährungsberatung und Ernährungstherapie sowie die Förderung von Ernährungskompetenz bei Kindern und Jugendlichen in Kita und Schule mit dem Ziel der Primärprävention. Ähnliche Forderungen hat der Deutsche Ärztetag in Bremen aufgestellt.

„Wir wissen, dass eine ausgewogenere und stärker pflanzenbasierte Ernährung sowohl unserer Gesundheit wie auch unserem Planeten zugutekommt. Das ist doch erst einmal eine gute Nachricht, die es auch in unseren Praxen zu vermitteln gilt“, sagt Dr. Oliver Funken, Vorsitzender des Ausschusses Prävention und Gesundheitsförderung der Ärztekammer Nordrhein. „Im Sinne der nachfolgenden Generationen muss es unser gemeinsames Ziel sein, ein Ernährungssystem zu etablieren, von dem Menschen weltweit profitieren können. Dabei müssen wir deutlich machen, dass es bei einer nachhaltigen Ernährung natürlich um sehr viel mehr als nur um die Reduktion tierischer Produkte geht. Es geht auch darum, dass wir Lebensmittelverschwendung vermeiden, mehr lokale und saisonale Lebensmittel verzehren und nachhaltigere Verpackungen wählen. Wichtig ist, dass eine Ernährungswende für alle Bevölkerungsgruppen realisierbar ist. Eine ausgewogene, nachhaltige Ernährung darf kein Privileg für einkommensstarke Haushalte sein. Hier ist die Politik gefordert.“ In der Praxis habe man bei zahlreichen Präventionsanlässen die Möglichkeit, für eine nachhaltigere Ernährung zu werben, so Funken.
 

Nachhaltige Ernährung in der Praxis

Auf Plastik verzichten, lieber zum Bioapfel greifen und Kleidung länger tragen: Vielen jungen Menschen sind diese Dinge wichtig. Fast 80 Prozent der 14- bis 22-Jährigen in Deutschland denken, dass sich das Leben für zukünftige Generationen verschlechtert, wenn Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit ausbleiben. 

So ist es auch kein Wunder, dass vor allem junge Leute zwischen 15 und 29 Jahren zunehmend auf tierische Produkte verzichten. Das zeigt eine repräsentative Umfrage der Heinrich-Böll-Stiftung für den „Fleischatlas 2021“. Junge Menschen ernähren sich doppelt so oft vegetarisch und vegan wie der Durchschnitt der gesamten Bevölkerung. Frauen machen dabei 70 Prozent aus.  Auch in der kinder- und jugendärztlichen Praxis wird der Verzicht auf tierische Produkte zunehmend zum Thema in der Ernährungsberatung, berichtet Christiane Thiele, Landesvorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Nordrhein, und rät: „Jugendliche, die sich für eine vegane Lebensführung entscheiden, sollten darüber mit ihrer Kinder- und Jugendärztin sprechen, um Eisen- und Vitaminmangel zu vermeiden. Auch Eltern, die ihre Kinder vegan oder vegetarisch ernähren möchten, sollten sich bei uns Rat holen, damit die Kinder keine Mangelerscheinungen entwickeln.“ Je einseitiger die Ernährungsweise und je jünger das Kind sei, so Thiele, desto größer sei das Risiko für einen Nährstoffmangel. „So sehr wir es begrüßen, dass eine bewusstere Ernährung auch mit einer Reduktion tierischer Produkte einhergeht, so raten wir dennoch von einer veganen Ernährung für Kleinkinder aufgrund der damit verbundenen deutlichen Risiken ab. Viel wichtiger als eine um tierische Produkte komplett reduzierte Diät ist jedoch, dass Eltern und Kinder verstehen, was sie zu sich nehmen und möglichst auf Fertigprodukte verzichten. Gesunde und nachhaltige Ernährung fängt bei bewusstem Einkauf regionaler und saisonaler Produkte und deren Zubereitung an, nicht bei Diäten, die zu Mangelerscheinungen führen können.“

„Schon der 125. Deutsche Ärztetag hat von den Klinikträgern verstärkte Klimaschutzmaßnahmen eingefordert. So wurde gefordert, dass Kliniken Anreize für klimafreundliches Handeln ihrer Angestellten und Patientinnen und Patienten setzen sollten. Ich fände es gut, wenn auch bei der Verpflegung der Patientinnen und Patienten und der Klinikangestellten Kriterien einer gesunden und ökologischen Ernährung erfüllt würden. Die Berücksichtigung der PHD stellt dabei eine mögliche Option dar“, so Professor Dr. Michael Koldehoff, Internist am Universitätsklinikum Essen und Mitglied im Ausschuss Prävention und Gesundheitsförderung.

„Über unseren Präventionsausschuss erfahren wir, dass das Thema der „nachhaltigen Ernährung“ in den Praxen und Kliniken angekommen ist und Ärztinnen und Ärzte hier als Beraterinnen und Berater gefragt sind. Wir haben daher auf unserer Homepage www.aekno.de Materialien und Literatur zusammengestellt, mit deren Hilfe das Thema in den Praxen angesprochen werden kann“, sagt Funken. „Und auch in unserem Programm Gesund macht Schule www.gesundmachtschule.de fließen jetzt Aspekte einer nachhaltigen Ernährung ein.“