Keinen Schritt zurück bei der Patientenversorgung – unter diesem Motto veranstaltete die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) am 7. September einen Aktionstag, um auf die desaströsen Auswirkungen des geplanten GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes aufmerksam zu machen. Vertreterinnen und Vertreter verschiedener medizinischer Fachgruppen richteten eine klare Botschaft in Richtung Berlin: Leistungskürzungen auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten werden die Praxen nicht akzeptieren.
von Jana Meyer, Thomas Lillig und Thomas Petersdorff
Mit seinem Gesetzesvorhaben zur Stabilisierung der gesetzlichen Krankenkassen hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach unter den Niedergelassenen für einen Sturm der Entrüstung gesorgt: Bewährte Verbesserungen in der ambulanten Versorgung, die erst 2019 mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) eingeführt wurden, sollen dem Spardiktat des Ministers zum Opfer fallen. Konkret geht es um die Neupatientenregelung, mit der die schnellere Vergabe von Behandlungsterminen erreicht worden ist, und von der GKV-Versicherte demnach in den letzten Jahren in hohem Maße nachweislich profitiert haben. Geht es nach dem Gesundheitsminister, ist das bald wieder passé.
Gelbe Karte für Berlin
Diese Rolle rückwärts wollen die Vertragsärztinnen und -ärzte sowie die Psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Nordrhein nicht zulassen. Die KVNO hatte darum am 7. September zu einer zweistündigen Praxispause im Rahmen eines Aktionstages aufgerufen. Rund 5.000 Niedergelassene unterstützten die Aktion, mit der den verantwortlichen Politikern in Berlin die gelbe Karte gezeigt und ein starkes Zeichen im Auftrag guter Versorgung gesetzt werden sollte. „Unserem sehr guten Gesundheitssystem – einem der stärksten weltweit – droht mit dem Wegfall der Neupatientenregelung eine empfindliche Schwächung“, warnte der Vorstandsvorsitzende der KVNO, Dr. Frank Bergmann, zu Beginn einer Infoveranstaltung über die Hintergründe der politischen Kürzungspläne. Die vorgelegten Vorschläge der Regierungskoalition seien zu kurz gedacht und lösten kein Finanzierungsproblem. „Im Gegenteil“, so Bergmann weiter, „es werden Versorgungsprobleme geschaffen.“ Dabei sei es Lauterbach selbst gewesen, der als Abgeordneter vor gut drei Jahren das TSVG noch befürwortet und gerade die Neupatientenregelung maßgeblich mit vorangetrieben habe – auch breche er sein Versprechen, dass es unter seiner Ägide zu keinen Leistungskürzungen kommen werde. Sollte sich der Minister mit seinen Sparplänen durchsetzen, was bei Redaktionsschluss noch offen war, würde dies das Aus für die extrabudgetäre Vergütung der im Zuge des TSVG neu geschaffenen Leistungen bedeuten.
Niveau der Kassenfinanzierung ist Minutenmedizin
Wut und Entsetzen in den Praxen sind groß, wie die Wortmeldungen von Vertreterinnen und Vertretern verschiedener medizinischer Fachgruppen deutlich machten. Im Vertrauen auf den Bestand gesetzlicher Regelungen haben die Praxen trotz größter Belastungen ihr Terminangebot ausgebaut und dafür auch investiert. Dr. Manfred Weisweiler, Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie, sagte, dass er zwei neue Vollzeit-Stellen geschaffen habe. Ohne eine entsprechende Gegenfinanzierung dieser Investitionen könne er sein Leistungsangebot nicht länger aufrechterhalten – mit absehbaren Folgen: Patientinnen und Patienten müssten aufgrund reduzierter Kapazitäten dann wieder teils deutlich längere Wartezeiten in Kauf nehmen. „Versorgung auf einem derartigen Niveau der Kassenfinanzierung ist Minutenmedizin, die keine Zeit zum Atmen lässt“, betonte der Chirurg mit Praxis in Geilenkirchen. Seinen Fachbereich treffe die geplante Gesetzesänderung besonders. „In chirurgischen Praxen sind etwa 40 Prozent der Patientinnen und Patienten Neupatienten“, so Weisweiler.
Dass die geplante Kürzungsmaßnahme im GKV-Finanzierungsgesetz auch für die Medizinischen Fachangestellten (MFA) nicht ohne Folgen bleiben würde, bestätigte Hannelore König, Präsidentin des Verbands medizinischer Fachberufe: „In der Tat haben Praxen ihren Personalbestand bei den MFA wegen des erweiterten Sprechstundenangebots aufgestockt. Schlimmstenfalls fallen diese Stellen, die zur Verstärkung eingestellt worden sind, wieder weg. Das wäre wegen der immensen Belastungssituation in den Praxen für die verbleibenden Teams hochdramatisch.“
Solidarisches Unterhaken
Zwar haben die im TSVG beschlossenen Maßnahmen in erster Linie den fachärztlichen Bereich entlastet, der mit Abstand die meisten Neupatientinnen und -patienten verzeichnet, doch die positiven Auswirkungen sind ebenso bei der Hausärzteschaft angekommen. „Die zusätzlichen Facharzttermine sind auch eine Erleichterung für die Hausärztinnen und Hausärzte“, führte Dr. Carsten König, stellvertretender Vorsitzender der KVNO und selbst praktizierender Hausarzt, aus. „Auch wir haben dadurch mehr Zeit gewonnen, um unsere Patientinnen und Patienten angemessen und ohne permanenten Planungs- und Zeitdruck behandeln zu können. Haus- und Fachärzte in Nordrhein stehen deshalb in dieser Frage solidarisch und fachgruppenübergreifend zusammen“, so König. Die Pläne des Bundesgesundheitsministers dürften so niemals im geplanten Gesetz umgesetzt werden. Mit deutlichen Worten appellierte König an Lauterbach: „Herr Bundesminister, unterlassen Sie diesen Unsinn.“
Konsequenz: Mehr stationäre Einweisungen
An konkreten Beispielen stellten Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Fachgruppen heraus, was die Abschaffung der Neupatientenregelung für Patientinnen und Patienten bedeuten würde. Dr. Joachim Wichmann, Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, berichtete, dass insbesondere jungen Patientinnen und Patienten Nachteile drohten: „Bei Kindern ist es elementar, dass beispielsweise Auffälligkeiten im Neugeborenen-Hörscreening zeitnah abgeklärt werden. Wenn Probleme zu spät erkannt werden, können die Kinder den Entwicklungsrückstand nicht mehr aufholen.“ Und ein Ausweichen auf eine spezialfachärztliche Versorgung in den Unikliniken sei keine Alternative. „Die Wartezeiten betragen dort zurzeit gut drei Monate“, so Wichmann.
Vor negativen Folgen für die Patientensteuerung warnte Dr. Matthias Schlochtermeier, Hausarzt in Hürth-Efferen: „Der Wegfall der Neupatientenregelung führt dazu, dass die Zahl stationär Versorgter wieder steigt. Denn was soll ich machen, wenn eine Patientin oder ein Patient möglicherweise unterversorgt bleibt, weil es keine Kapazitäten in einer fachärztlichen Praxis gibt?“ Es werde also wieder mehr stationäre Einweisungen geben – mit deutlich höheren Kosten für das Gesundheitssystem.
Konsterniert zeigte sich auch der Berufsverband der Dermatologen: „Rein in die Kartoffeln – raus aus den Kartoffeln. Wir sind es leid. Die Vorgaben, die wir kurzfristig immer wieder erhalten, machen uns eine Kalkulation der Praxisarbeiten unmöglich“, bestätigte Hautarzt Dr. med. Rolf Ostendorf. Dabei seien es gerade die Neupatientinnen und -patienten, die in der Behandlung viel enger betreut werden müssten. Das wiederum koste Zeit und Ressourcen, die mit einer „Flatrate“ im Regelleistungsvolumen nicht zu stemmen seien. Ostendorf sorgte sich um die Zukunft der ambulanten Medizin: „Viele Kolleginnen und Kollegen, gerade die Älteren, befinden sich in einer Ethikfalle und haben meist über ihren Kapazitäten gearbeitet. Ob dies die nächste Generation in gleicher Art und Weise fortführen wird, wage ich zu bezweifeln.“
Wunsch nach evidenzbasierter Politik
Zustimmung kam von Dr. Jens Wasserberg, Hausarzt aus Bedburg, der bei so viel „Flickschusterei“ nur den Kopf schütteln konnte. Die aktuellen Sparpläne konterkarierten das politische Ziel „ambulant vor stationär“ und seien „nichts anderes als eine erhebliche Leistungskürzung“. Wasserberg schlug vor, dass bis Jahresende alle Praxen vier Wochen die Neupatientenregelung aussetzen sollten, um vor Inkrafttreten des Gesetzes zu zeigen, was das konkret bedeuten würde. Seine Forderung an die Politik: „Wir dürfen nicht mehr von der politischen Hand in den Mund leben.“
Dr. Uwe Meier schlug in dieselbe Kerbe: „Ich wünsche mir nichts mehr als eine evidenzbasierte Politik, und wir sind gerne bereit, unser Versorgungswissen – das wir täglich in der Praxis generieren – miteinzubringen“, so der Neurologe. Er forderte nicht nur die Beibehaltung der Neupatientenregelung, sondern mahnte eine generelle Verbesserung der Zugangsstruktur zu medizinischer Versorgung an: „Diese Brille, per Gesetz den Zugang nach dem Versichertenstatus zu steuern, ist ein furchtbar unärztliches Denken.“ Benötigt werde eine Gesetzgebung, die eine Terminvergabe auch nach Dringlichkeit regelt. „Die Wahrscheinlichkeit, dass meine Patientin mit Multiple-Sklerose im Rollstuhl landet, ist deutlich geringer, wenn ich ihren Schub schnellstmöglich behandle“, so Meyer. „Achtet die Politik überhaupt noch auf Patientinnen, Patienten und die Ärzteschaft? Es sieht nicht so aus“, brachte es Armin Rösl, stellvertretender Vorsitzender der deutschen Depressionsliga, auf den Punkt.
Rückgrat der ambulanten Versorgung
Die Äußerungen seiner Kolleginnen und Kollegen hätten nichts mit Jammern oder Klagen zu tun, fasste KVNO-Chef Bergmann in seinem Schlusswort zusammen. „Wir reden hier nicht über Petitessen, sondern über ernstzunehmende Probleme in der Patientenversorgung. Das haben die Kollegen heute eindrucksvoll geschildert.“ Die Neupatientenregelung dürfe nicht fallen, „sie hat Steuerungswirkung“. Der Wegfall wäre eine schwere Fehlentscheidung, die großen Schaden anrichten würde. Nicht zuletzt hätten die Leistungen des niedergelassenen Bereichs in der Corona-Impfkampagne gezeigt, dass Vertragsärztinnen und -ärzte gemeinsam mit den Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten das stabile Rückgrat der ambulanten Versorgung seien. „Eine Politik, die diesem Rückgrat die notwendige Finanzierung entzieht, ist schlichtweg eine verantwortungslose Politik“, sagte Bergmann.
Jana Meyer ist Redakteurin, Thomas Lillig Redakteur und Thomas Petersdorff Referent im Bereich Presse und Medien der KV Nordrhein.