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Praxis

Long COVID – oft hilft nur zuhören

22.02.2022 Seite 23
RAE Ausgabe 3/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2022

Seite 23

Der Leidensdruck ist enorm: Meist bleibt den behandelnden Ärzten nichts anderes übrig, als den Betroffenen zuzuhören, da es derzeit weder Medikamente noch spezielle Behandlungsmethoden oder -konzepte gegen Long COVID gibt. © MIA_Studio | AdobeStock
Die Diagnostik bei Long COVID ist schwierig, die Symptome sind vielfältig, ein Medikament, das Heilung verspricht, gibt es bisher nicht – und immer mehr Menschen sind von der Krankheit betroffen. Wie ist die Situation in den nordrheinischen Praxen? Und braucht es möglicherweise neue Strukturen in der ambulanten Versorgung? Ein Überblick.

von Jana Meyer und Miguel Tamayo Korte

Plötzlich und völlig unerwartet verschlechtert sich der Allgemeinzustand, die Leistungsfähigkeit nimmt rapide ab. Betroffene klagen über Halsschmerzen, Erschöpfung, Kurzatmigkeit, Muskelschmerzen oder leiden unter kognitiven Einschränkungen. Die Symptome von Long COVID sind vielfältig, ihre Intensität und Quantität ganz unterschiedlich ausgeprägt. Die Zahl der Betroffenen steigt – und die hohen Infektionszahlen durch die Omikron-Welle könnten für ein heftiges Long-COVID-Nachbeben sorgen. Der Seismograf verzeichnet bereits die ersten Ausschläge in den nordrheinischen Praxen. Dr. Matthias Schlochtermeier behandelt mittlerweile diverse Betroffene, Tendenz steigend. „Wenn man davon ausgeht, dass ein paar Prozent der COVID-Patienten danach an Long COVID leiden, sind das schon erhebliche Zahlen, die auf uns zukommen“, sagt der Hausarzt aus Hürth-Efferen, „und die Hauptlast werden die Haus- und Fachärzte tragen.“

40- bis 64-Jährige am stärksten betroffen

Je nach Definition der Symptome, der Studienpopulation und der Studiendesigns werden nach aktuellem Stand Prävalenzen zwischen zwei und zehn Prozent geschätzt. Das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (Zi) wertet regelmäßig die Abrechnungsdiagnosen und andere Routinedaten mit Blick auf Long COVID aus. Die aktuellen Zahlen stammen aus dem zweiten Quartal 2021, in dem die Praxen bereits mit deutlichen Auswirkungen der zweiten und dritten Infektionswelle konfrontiert wurden. Insgesamt dokumentierten nordrheinische Praxen 18.659 Patienten mit einem Post-COVID-Zustand (ICD-Code U09.9!). Das sind 47 Prozent mehr als im ersten Quartal, darunter deutlich mehr Frauen als Männer. 40- bis 64-Jährige waren am stärksten betroffen: zwischen 3,2 und 4,3 Prozent der weiblichen und zwischen 2,7 und 3,5 Prozent der männlichen Versicherten. Die durch eine hohe Impfquote geschützte Altersgruppe der Über-80-Jährigen kam nur auf rund 0,1 Prozent der Versicherten, und mit 0,03 Prozent wurden Kinder bis 14 Jahre am seltensten diagnostiziert.

Das zunehmende Problem durch Long COVID spürt auch Dr. Andreas Kleemann in seiner Ratinger Praxis. Der Kardiologe hat es immer häufiger mit einem anderen Patientenklientel als üblich zu tun: Statt der 70-Jährigen kommen jetzt auch jüngere Menschen um die 40 Jahre. „Die Patienten leiden unter starker Erschöpfung, klagen über Luftnot – selbst bei leichter körperlicher Belastung – und sind teilweise im Alltag extrem eingeschränkt“, erklärt er. Ein Phänomen, das er auch bei vormals sportlichen Menschen beobachtet. „Ein paar Wochen nach der COVID-Erkrankung fällt auf, dass sie nicht mehr an ihre Belastungsgrenze herankommen“, berichtet Kleemann. Seine Patienten leiden in der Regel unter schwereren Long-COVID-Verläufen mit komplexen Beschwerden – die laut Zi-Auswertung in der ambulanten Versorgung in Nordrhein hingegen in der Minderheit sind.

In den Behandlungsdiagnosen treten die Post-COVID-Leitsymptome der Betroffenen deutlich hervor, angeführt von Kurzatmigkeit, Ermüdung und Halsschmerzen respektive Heiserkeit mit je 17 Prozent der Fälle. Jeweils acht Prozent der Patienten hatten Kopfschmerzen, Husten oder eine Schlafstörung. Weniger häufig (bis drei Prozent) wurden Brust- beziehungsweise Bauchschmerzen, Geruchs- und Geschmacksstörungen oder Durchfall diagnostiziert. Rund 87 Prozent weisen nicht mehr als zwei Symptome auf, etwa zwei von drei Patienten genau ein Symptom. Die große Mehrheit (70 Prozent) löste im Beobachtungsquartal nur einen Arztfall (ein Patient bei einem Arzt in einem Quartal) aus. Über drei Viertel der Patienten konnten hausärztlich versorgt werden. Die meisten fachärztlichen Kontakte fanden – wenig überraschend – mit Pneumologen statt, zudem waren Radiologen, Kardiologen und HNO-Praxen in nennenswertem Maße an der Versorgung der Post-COVID-Patienten beteiligt. 

„Sprechende Medizin“ besonders gefragt

Kann die Vertragsärzteschaft also angesichts der überwiegend milden Verläufe vermelden, dass der neu entstandene Behandlungsbedarf durch das System in Gänze aufgefangen worden ist? Andreas Kleemann schüttelt den Kopf: „Wir behandeln wesentlich mehr Akutfälle, was sich natürlich als Mehrbelastung in den Praxisabläufen niederschlägt.“ Er hält kurz inne und spricht dann einen weiteren zentralen Aspekt an: „Die Patienten kommen mit massiven Symptomen, die sie teilweise arbeitsunfähig machen, doch es gibt oft trotz umfangreicher kardialer Diagnostik keine pathologischen Befunde“, beschreibt er die Situation. Damit kann Kleemann auch keine adäquate Therapie verordnen. Doch die Probleme bleiben und die Verunsicherung wächst. „Das führt dazu, dass die Betroffenen einen viel höheren Gesprächsbedarf haben – das nimmt bei uns Fachärzten normalerweise einen eher geringen Raum ein“, sagt der Kardiologe. Beim näheren Blick auf die hausärztlichen Abrechnungsdaten des Zi zeigt sich bei fast vier von fünf Patienten ein erhöhter zusätzlicher Gesprächsaufwand (GOP 03230). 13 Prozent aller Patienten erhielten zusätzliche telefonische Beratungen. Möglicherweise ist der Bedarf noch höher, da beide Leistungen budgetiert sind. Von einem erhöhten Gesprächsbedarf ist auch bei den beteiligten fachärztlichen Praxen auszugehen – wie die Erfahrungen des Kardiologen zeigen. Dies lässt sich anhand der Zi-Auswertung allerdings nicht belegen, da Fachärzten dafür keine Abrechnungsziffer zur Verfügung steht. Experten stimmen überein, dass bei diesem aufwendig zu diagnostizierenden Krankheitsbild, das aufgrund der gesamten pandemischen Lage für viel Verunsicherung bei den Patienten sorgt, die „sprechende Medizin“ besonders gefragt ist. 
Das kann auch Matthias Schlochtermeier bestätigten. „Es gibt zurzeit weder Medikamente noch spezielle Behandlungsmethoden oder Behandlungskonzepte. Ich habe keine Möglichkeit, das Leid aktiv zu beeinflussen“, so der Allgemeinmediziner, „es ist alles nur Hüftschwung und Wellenschlag.“ Ein Dilemma, das auch schon mal für Frust sorgt. „Ich nehme das Wort Long COVID in den Mund und weiß, dass ich mit nichts in der Hand dastehe“, erzählt er. Trotzdem will er den Patienten helfen. Und da bleibt dann oftmals nur eins: Zuhören. „Ich gebe den Patienten Raum zum Reden. Sie dürfen ihrer Verzweiflung und Frustration Luft machen. Ich gebe ihnen das Gefühl, ernst genommen und gehört zu werden“, so Schlochtermeier. Er weiß, wie gute Kommunikation funktioniert, bietet im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der Uni Köln in diesem Bereich Schulungen für Medizinstudierende an. „Ich kann nur jeder Kollegin und jedem Kollegen eine Kommunikationsschulung empfehlen. Dieses Wissen hilft im Praxisalltag sehr.“

Herausforderung für den Reha-Sektor

Doch was macht er, wenn Long-COVID-Patienten ein einfaches Gespräch in der Praxis nicht ausreicht und der Leidensweg immer länger und schwerer wird? Bei andauernden Symptomen bleibt dem Hausarzt nur der Weg über die Verordnung eines Erholungsurlaubs von mindestens drei Wochen bis hin zu rehabilitativen Maßnahmen. Beim Zugang zur Reha eröffnet sich eine weitere Baustelle: Die Zi-Auswertung für Nordrhein zeigt, dass 130 Post-COVID-Patienten bis Ende Juni 2021 eine Reha-Verordnung erhielten, für weitere 500 wurde die GOP 01622 abgerechnet (Erstellung eines Kurplans, eines Plans zur beruflichen Wiedereingliederung, eines Eltern-Kind-Kurplans oder Beantwortung Anfrage Krankenkasse). Hier wird sich der Sektor der stationären und ambulanten Reha der Herausforderung stellen müssen, für eine wachsende Anzahl Erkrankter aus den jüngsten Infektionswellen im Herbst und Winter ein adäquates Angebot zu schaffen.

Long COVID gibt noch viele Rätsel auf. Ein wichtiger Schritt zur besseren Versorgung kann es sein, wenn sich Haus- und Fachärzte zur Behandlung von Long-COVID-Patienten vernetzen. „Es müssen mit den beteiligten Berufsgruppen Konzepte erarbeitet und in strukturierte Behandlungspläne überführt werden“, sagt Kleemann. Dabei muss es auch um die Frage gehen, wer was macht. Er könnte sich dabei die Hausärzte als Lotsen vorstellen, bei denen alle Fäden zusammenlaufen. Auch Schlochtermeier sieht diese in einer zentralen Rolle: „Wir sind in der Regel die erste Anlaufstelle, wenn es den Menschen schlecht geht.“ Die quantitative Herausforderung durch Long-COVID-Fälle könne nur in den Praxen gestemmt werden. „Es ist unausweichlich, dass die Qualität der sprechenden Medizin erkannt und geschätzt wird. Folglich muss sie dringend besser bezahlt werden“, fordert der Arzt aus Hürth-Efferen. Von der Idee der Politik, in Kliniken sogenannte Long-COVID-Ambulanzen als zentrale Anlaufstellen für Betroffene zu etablieren, halten weder der Allgemeinmediziner noch der Kardiologe etwas. „Darüber können nur die schweren Fälle abgedeckt werden,“ bewertet Schlochtermeier. Wie heftig das Long-COVID-Nachbeben infolge der Omikron-Welle ausfallen wird, ist schwer zu prognostizieren – umso wichtiger ist es, dass die Praxen schnellstmöglich für den nächsten Ausschlag des Seismografen gewappnet sind. 

Jana Meyer ist Redakteurin und Miguel Tamayo Korte ist Abteilungsleiter Strategische Datenanalysen und Gesundheitspolitik NRW bei der KV Nordrhein.