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Meinung

Suizidprävention stärken

25.05.2022 Seite 3
RAE Ausgabe 6/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 6/2022

Seite 3

Rudolf Henke © Jochen Rolfes
Noch in diesem Jahr soll im Bundestag über einen Gesetzentwurf entschieden werden, der den assistierten Suizid in Deutschland grundgesetzkonform regelt. Für den 18. Mai war darüber eine zweite Orientierungsdebatte angesetzt. Derzeit liegen drei fraktionsüber-greifende Gesetzentwürfe vor, die sich in unterschiedlichen Graden auf unser ärztliches Handeln und unseren gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Suizid auswirken werden.

Vor gut zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht das strafrechtliche Verbot der geschäftsmäßigen Förderung des assistierten Suizids für verfassungswidrig erklärt. In der Urteilsbegründung heißt es, dass das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ die Freiheit einschließe, „sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen“. Und die Karlsruher Richter urteilten obendrein, dass in Deutschland jeder Mensch, ganz gleich, ob schwerkrank oder nicht, das Recht hat, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden. Dem Gesetzgeber räumten sie jedoch Handlungsspielraum ein, um zu verhindern, dass der assistierte Suizid zum Normalfall wird und sich Menschen dazu genötigt fühlen, um anderen nicht zur Last zu fallen. 

Als eine Konsequenz aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil hat der 124. Deutsche Ärztetag im Mai 2021 beschlossen, das Verbot des ärztlich assistierten Suizids aus § 16 der (Muster-)Berufsordnung zu streichen. Er stellte jedoch zugleich klar, dass die Mitwirkung von Ärztinnen und Ärzten bei der Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe ist und Suizidprävention und Suizidforschung flankierend ausgebaut werden müssen.

Seitdem hat sich unsere Kammer auf Initiative des Ausschusses „Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik“ auf zwei Kammersymposien (siehe Berichterstattung Seite 12 ff.) mit den Konsequenzen des Karlsruher Urteils beschäftigt. Mit großer Sorge nimmt die nordrheinische Ärzteschaft dabei wahr, dass die aktuellen Debatten mehr davon geprägt werden, wie selbstbestimmtes Sterben ermöglicht werden kann, als davon, wie man Menschen in Krankheit, Einsamkeit und Verzweiflung helfen kann, neue Lebensperspektiven zu finden. Allein die Tatsache, dass es so viele Suizidwünsche gibt, muss als gesellschaftlicher Auftrag verstanden werden, mehr in Suizidprävention zu investieren.

In Deutschland nehmen sich jedes Jahr mehr als 9.000 Menschen das Leben. Der überwiegende Teil der Suizide findet im Kontext psychischer Erkrankungen statt. Viele Angehörige benötigen nach einem solchen Geschehen oft selbst Hilfe, können diese aber derzeit nur selten und oft zeitlich sehr verzögert finden. 

Erfahrungswerte aus anderen Ländern deuten darauf hin, dass mit dem Angebot der Suizidassistenz auch die Nachfrage steigt. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Und deshalb brauchen wir möglichst noch vor einem Gesetz, das den assistierten Suizid regelt, ein Gesetz, das die Suizidprävention, die Angehörigenbegleitung und die Suizidforschung nachhaltig stärkt.

Denn wir möchten nicht erleben, dass flächendeckend staatlich gut ausfinanzierte Beratungsstellen entstehen, in denen sich Menschen in Not über Fragen der Suizidhilfe beraten lassen können und gleichzeitig Gelder für aufsuchende Hilfen, psychosoziale Beratungsstellen, Hotlines sowie für ausreichende psychotherapeutische und psychiatrische Einrichtungen fehlen, die solche Notlagen im Vorfeld verhindern könnten.

Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein