Im Februar 2020 kippte das Bundesverfassungsgericht das Verbot des assistierten Suizids unter anderem durch Sterbehilfevereine und begründete dies mit dem Recht eines jeden Menschen auf selbstbestimmtes Sterben. Die Entscheidung rief bei vielen Ärztinnen und Ärzten Bestürzung hervor. Die Sorge, dass mehr Menschen als zuvor durch Suizid sterben, ist groß. Umso wichtiger sei es daher, die Suizidprävention auszubauen, ist sich die deutsche Ärzteschaft einig.
von Jocelyne Naujoks
„Wir möchten über Suizid reden“, sagt Professor Dr. Annette Erlangsen, Leiterin des Dänischen Forschungsinstituts für Suizidprävention (DRISP), und spricht damit ein grundlegendes Problem in der Suizidprävention an: Menschen mit Suizidgedanken müssten wissen, dass sie Hilfe brauchen und auch bekommen können. „Suizid kann man verhindern!“ Mit diesem Appell richtete sich Erlangsen an die rund 450 Teilnehmer einer Online-Veranstaltung der Ärztekammer Nordrhein (ÄkNo) zum Thema „Suizidprävention aus ärztlicher Sicht“ Anfang Mai. Internationale Studien zeigten, dass Suizidgedanken und -handlungen nicht selten seien, jedoch im Alltag kaum thematisiert würden, so Erlangsen.
Mit der Veranstaltung – ein erstes Symposium zum Thema fand im September 2021 statt (RÄ, Heft 11, 2021) – reagiert die ÄkNo auf das Urteil des Bundeverfassungsgerichts vom Februar 2020, dass jedem Menschen das Recht auf selbstbestimmtes Sterben auch mithilfe Dritter zusichert. Die Karlsruher Richter hatten damit das seit 2015 geltende „Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ aufgehoben, dem Gesetzgeber aber zugleich Handlungsspielraum eingeräumt, um zu verhindern, dass der assistierte Suizid zum Normalfall wird oder sozialer Druck auf Menschen ausgeübt wird, sich das Leben zu nehmen, um anderen nicht zur Last zu fallen (siehe Kasten). In ihrer Kammerversammlung im März 2021 hatte die nordrheinische Ärzteschaft angesichts der Entscheidung des Gerichts gefordert, die Suizidprävention zu stärken. Durch die Legalisierung der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe könnte sich die Zahl der Suizide im Laufe der Jahre verdoppeln, befürchtete damals der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke. „Aus ärztlicher Sicht haben Menschen mit existenziellen Leiden einen Anspruch auf eine Kultur der Zuwendung, des Gesprächs und auch auf ein Angebot der bestmöglichen Medizin und das auch in als aussichtlos empfundenen Situationen“, so der Kammerpräsident jetzt beim Symposium. Die ärztliche Frage bleibe die nach der wirksamsten Suizidprävention. Die Diskussion um die Suizidassistenz lasse sich nur im Lichte einer erfolgsversprechenden Suizidprävention richtig einordnen und behandeln, betont Henke.
Menschen mit Suizidgedanken aufspüren
Wer wirksame Suizidprävention leisten will, der muss vor allen Dingen aktiv nachfragen und die Menschen in ihren Lebenswelten aufsuchen, weiß Erlangsen, die auch dem internationalen wissenschaftlichen Beirat des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland (NaSPro) vorsitzt. „Wir müssen Menschen mit Suizidgedanken aufspüren, denn nicht alle werden selbst nach Hilfe suchen.“ Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfehle in ihrem Leitfaden für nationale Suizidprävention, Menschen mit Suizidgedanken so früh wie möglich zu identifizieren und ihnen Hilfe anzubieten. Den Zugang zu Suizidmitteln zu begrenzen und eine verantwortungsvolle Berichterstattung über das Thema Suizid in den Medien, gehörten ebenfalls zu den Suizidpräventionsstrategien der WHO. Insbesondere jüngeren Menschen Informationen und Bewältigungsstrategien für Krisen an die Hand zu geben und so ihre sozialen und emotionalen Kompetenzen zu stärken, habe auch auf längere Sicht Einfluss auf die Suizidprävention, so Erlangsen.
„Wie frei ist der freie Wille?“ Diese Frage warf Professor Dr. phil. Martin Teising auf. Als Arzt erlebe er immer wieder, in welch großer seelischer Not und Verzweiflung sich ein suizidaler Mensch befinde. „Diese Zustände können gerade nicht als frei bezeichnet werden“, meint Teising, der als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalyse sowie Facharzt für Psychosomatische Medizin in freier Praxis tätig ist. Ärztinnen und Ärzte kämen immer wieder in Situationen, in denen es notwendig erscheine, den Wünschen einer Patientin oder eines Patienten nicht unmittelbar zu folgen, um deren Leben und damit auch deren Autonomie zu erhalten. „Wenn Autonomie wertvoll ist, kann wohlmeinender Paternalismus gerechtfertigt sein, um die Selbstbestimmung eines Menschen zu ermöglichen, zu erhalten und zu erweitern“, sagt Teising. Werde stattdessen dem Suizidenten mit dem Verweis auf seine freie Entscheidung als autonomes Individuum die Hilfe zum Leben vorenthalten, werde Selbstbestimmung zu oberflächlich und verkürzt verstanden.
„Sprechen Sie mit Ihren Patienten, die sich in ihrer Not an Sie wenden“, fordert Teising Ärztinnen und Ärzte auf. Ein suizidaler Patient, der sich mit dem Wunsch nach Suizidassistenz an seinen Arzt wende, wisse, dass es die primäre Aufgabe des Arztes sei, Leben zu erhalten. In dieser Bitte steckt laut Teising häufig der Wunsch, verstanden zu werden und über Ängste, insbesondere in einem verzögerten Sterbeprozess, zu sprechen. „Auch bestens aufgeklärte Patienten suchen in lebensbedrohlichen Situationen Schutz und Sicherheit. Sie suchen einen Partner, auf den sie vertrauen und sich verlassen können und der gegebenenfalls auch für sie entscheidet“, sagt Teising. „Ein vertrauensvolles Gespräch über den Wunsch des Patienten, zu sterben oder sein Leben zu beenden, gehört zum Kern der ärztlichen Tätigkeit“, sagt Teising. „In der Begegnung mit einem suizidalen Patienten sollten wir seine Möglichkeit, sich das Leben zu nehmen, akzeptieren und sein Anliegen ernst nehmen.“
Identifikation mit dem Sterbewunsch des Patienten reflektieren
Wichtig sei, die Belastungen des Patienten und seine ganz individuellen Hintergründe des suizidalen Erlebens zu verstehen, um angemessene Hilfsangebote machen zu können. Dazu könne bei Schwerkranken auch eine Therapiebegrenzung bis hin zur palliativen Sedierung gehören. „Bei Behandlungsbegrenzung und Sterbebegleitung handelt es sich um ärztliche Behandlungsentscheidungen, die sich wie andere auch an dem Behandlungsziel, der Indikation und am Patientenwillen auszurichten haben“, betont Teising.
Der Wunsch eines suizidalen Patienten, sein Leben zu beenden, sei für Ärztinnen und Ärzte sehr herausfordernd, erklärt Teising, da dieser Wunsch der originären ärztlichen Aufgabe, Leben zu erhalten, entgegengesetzt sei. Der Arzt sei gegebenenfalls mit schwer erträglichen Ohnmachtsgefühlen und Ängsten konfrontiert, was zur Identifikation mit dem Sterbewunsch des Patienten führen könne. „Diese Prozesse sollte man kennen und reflektieren und nicht vorschnell handeln“, warnt Teising. Er betont in diesem Zusammenhang, dass kein Arzt verpflichtet sei, Hilfe zur Selbsttötung zu leisten. Dies bleibe eine individuelle Entscheidung, die der Arzt mit seinem Gewissen und seinem ärztlichen Selbstverständnis vereinbaren müsse.
Zuhören, verstehen, begleiten
Der Wunsch zu sterben und sein Leben zu beenden, sei in der Regel keine Handlungsaufforderung, sondern ein Kommunikationsversuch, ein Hilferuf, die Frage nach möglichen Alternativen. Das erlebe er in seiner Arbeit immer wieder, sagt Professor Dr. Lukas Radbruch, Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus in Bonn. „Verstehen wir den Sterbewunsch nicht als Handlungsaufforderung, sondern als Ausdruck des Leidens, machen wir bereits Suizidprävention“, meint Radbruch. „Zuhören, verstehen, was vorgeht und Begleitung anbieten“, damit ist seiner Meinung nach schon viel gewonnen. Dafür brauche es allerdings dringend eine bessere Aus- und Fortbildung im Umgang mit Sterbewünschen, fordert er.
Diese Auffassung vertritt bei dem Symposium auch Christa Bartels, Fachärztin für Nervenheilkunde und Ärztliche Psychotherapeutin. Die Vorsitzende des Ad-hoc-Ausschusses Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Ärztekammer Nordrhein weiß um die Schwierigkeiten gerade der jüngeren ärztlichen Kollegen im Umgang mit dem Thema Suizid.
Auch als erfahrener Hausarzt sei es angesichts der hohen Arbeitsbelastung zum Teil schwierig, Patientinnen und Patienten in Lebenskrisen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie benötigten, räumt Dr. Ivo Grebe ein, hausärztlicher Internist aus Aachen. Er wünscht sich mehr niederschwellige Hilfsangebote – eingebettet in die ärztliche Versorgung –, in die er seine Patienten vertrauensvoll übergeben kann. Das gelte auch für Hinterbliebene, die mit ihren Sorgen in die Praxen kommen. Dazu brauche es mehr Kooperation und Vernetzung mit den niedergelassenen und den psychiatrischen Kollegen in den Kliniken.
„Bei der Suizidprävention geht alles viel zu langsam“, kritisiert Grebe weiter. Bei einem Patienten mit einem akuten Koronarsyndrom sei der Rettungswagen in fünf Minuten da, der Patient in zehn Minuten in der Klinik und in 30 Minuten auf dem Kathetertisch. „Das ist ein Tempo, über das ich mich in der Psychiatrie freuen würde.“
Expertise besser einsetzen
Das Wissen darüber, dass es Hilfsangebote für Menschen mit Suizidgedanken gibt, müsse in der Gesellschaft fest verankert werden, fordert Professor Dr. Barbara Schneider, Chefärztin der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen des LVR-Klinikums Köln. Jeder, der Hilfe brauche, müsse auch Hilfe finden. Nur so kann laut Schneider die Suizidrate in Deutschland gesenkt werden. Hierzulande beruhe ein großer Teil der Suizidprävention auf Projekten und persönlichem Engagement. Expertise sei also da, müsse aber besser eingesetzt werden, betont Schneider.
In der Suizidprävention stehe dabei stets das Angebot und nicht der Zwang zur Hilfe im Vordergrund, so Schneider: „Über die Annahme oder auch die Ablehnung der Hilfe entscheidet letztendlich der Betroffene selbst.“ Menschen, die einen Suizid oder assistierten Suizid in Betracht ziehen, benötigen laut Schneider eine vertrauensvolle, längerfristige psychosoziale und unter Umständen auch therapeutische Begleitung. Gerade die Reflexion der zur Suizidalität führenden Erfahrungen, Einstellungen und psychischen Bedingungen, aber auch die Veränderung von Lebensumständen bedürfen ihr zufolge eines längeren Zeitraums. „Das ist nicht mit einer einmaligen Beratung gemacht“, sagt die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und betont: „Nur durch diese Reflexion können Menschen eine selbstbestimmte Entscheidung treffen.“
Das heutige Verständnis von Suizidalität betone weniger den Krankheitsaspekt, sondern sehe Suizidalität als Ausdruck von Not und Hilfsbedürftigkeit, sagt Professor Dr. Manfred Wolfersdorf, ehemaliger Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Bayreuth und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bayreuth.
Risikogruppen ausmachen
Obwohl die Suizidprävention seit den 1970er- und 1980er-Jahren große Fortschritte gemacht habe, gebe es eine Reihe von Problemen, die gelöst werden müssen. So sei es schwierig, Risikogruppen auszumachen. Gerade bei Migranten stelle die Sprache, aber auch die Kostenübernahme ein großes Problem dar, so Wolfersdorf. Insbesondere Suizide alter Männer seien ein zentrales Problem. „Nur Hausärztinnen und Hausärzte kennen ihre älteren und alten, eventuell verwitweten, vereinsamten, alkoholmissbrauchenden, an Kniearthrose leidenden, im vierten Stock eines Hauses ohne Aufzug lebenden Männer, deren Kinder räumlich weit entfernt berufstätig sind“, sagt Wolfersdorf. Daher komme Suizidprävention in dieser Gruppe nur punktuell an. Hier fehlten die Vernetzung sowie Hinweise auf Beratungsstellen oder Kontakte zu weiterbehandelnden Ärzten, Psychiatern oder Psychotherapeuten. Der erleichterte Zugang zum assistierten Suizid birgt für ihn vor allem das Risiko, dass Menschen in Lebenskrisen oder mit psychischen Erkrankungen diese Alternative statt geeigneter präventiver Maßnahmen angeboten wird.
Suizidprävention und Suizidassistenz – zum Stand der Gesetzgebung
Um die Suizidprävention zu stärken, setzen Bundestagsabgeordnete um den SPD-Politiker Lars Castellucci auf eine gesetzliche Regelung. In einem fraktionsübergreifenden Antrag fordern sie die Bundesregierung auf, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Bei der Suizidprävention sollte nach Auffassung der Abgeordneten der Schwerpunkt auf der „Förderung der seelischen Gesundheit in den Alltagswelten“ liegen. Dazu gehöre es, zum Beispiel Angebote zur Bewältigung beruflicher oder familiärer Krisen auszubauen und einen bundesweiten Suizidpräventionsdienst zu schaffen, der Betroffenen und Angehörigen rund um die Uhr online und telefonisch zur Verfügung steht. Krisenhilfe, Therapie und Selbsthilfe müssten ebenso ausgebaut werden wie die Hospiz- und Palliativversorgung.
Eine gesetzliche Neuregelung der Suizidhilfe nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Februar 2020 steht noch aus. Zurzeit liegen drei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe vor, die den assistierten Suizid grundgesetzkonform neu ausrichten wollen.
Eine Gruppe von Abgeordneten um Lars Castellucci will die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung grundsätzlich wieder unter Strafe stellen. Um das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu gewährleisten, soll es aber Ausnahmen in den Grenzen eines Schutzkonzeptes geben. Um sicherzustellen, dass die Entscheidung für den Suizid freiverantwortlich und frei von sozialem Druck getroffen wurde, sollen sich die Suizidwilligen in der Regel in einem Abstand von drei Monaten zweimal von einer Fachärztin oder einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie untersuchen lassen und sich darüber hinaus einer ergebnisoffenen Beratung bei einem weiteren Arzt oder einer Beratungsstelle unterziehen.
Abgeordnete um Katrin Helling-Plahr (FDP) wollen das Recht auf einen selbstbestimmten Tod mithilfe geeigneter Arzneimittel absichern. Voraussetzung für die Suizidassistenz ist auch in ihrem Gesetzentwurf, dass die Entscheidung, aus dem Leben zu scheiden, frei und eigenverantwortlich getroffen wurde. Deshalb dürfen Ärztinnen und Ärzte Suizidwilligen nur dann Arzneimittel zur Selbsttötung verschreiben, wenn diese sich zuvor in einer staatlich anerkannten Stelle umfassend haben beraten lassen. Die Etablierung rein auf Gewinnstreben ausgerichteter Angebote zum assistierten Suizid soll verhindert werden.
Abgeordnete um Renate Künast (Grüne) wollen Suizidwilligen ebenfalls – flankiert von einem Schutzkonzept – den Zugang zu tödlich wirkenden Betäubungsmitteln sichern. Der Entwurf unterscheidet zwischen Menschen, die sich aufgrund einer schweren Krankheit das Leben nehmen wollen, und denen, die das aus anderen Gründen tun. Bei Krankheit sollen Ärztinnen und Ärzte ein tödliches Mittel verschreiben können, wenn die Sterbewilligen ihre Entscheidung frei getroffen haben und ein unabhängiger zweiter Arzt das Urteil des ersten bestätigt hat. Liegt dem Sterbewunsch keine Krankheit zugrunde, sind die Hürden für den Zugang zu tödlichen Substanzen höher und die Ärzte außen vor. Die Sterbewilligen beantragen die tödliche Substanz dann bei einer für die Erlaubnis zuständigen Landesstelle.
HK