Von Modellen intersektoraler Versorgung bis zum Fachkräftemangel, vom ambulanten Notdienst bis zur Telematikinfrastruktur (TI): Das Themenspektrum des ersten digitalen „KVNO-Talks“ am 1. April war denkbar vielfältig. Gemeinsam sprachen Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO), und sein Stellvertreter, Dr. Carsten König, mit dem Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Andreas Gassen, über aktuelle Trends, Entwicklungen und Herausforderungen der ambulanten Versorgung.
von Thomas Petersdorff
Obwohl die Themen breit aufgestellt waren, in ihrer Bilanz kommen die Diskutanten schnell überein: Zwar werden die Praxen für eine qualitativ hochwertige Versorgung immer wichtiger – politisch wird diese zunehmende Bedeutung der Niedergelassenen bislang allerdings deutlich zu wenig berücksichtigt. Die KV-Vorstände fordern daher: Es braucht ein radikales Umdenken – allem voran bei der Digitalisierung.
Smarte, interoperable Lösungen statt Elektroschrott
Den zunehmenden Frust über die Störanfälligkeit der Telematikinfrastruktur (TI) kann Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO), nur zu gut nachvollziehen: „Wenn man sich vor Augen hält, was über die Jahre passiert ist, kann ich jede Kollegin und jeden Kollegen verstehen, der sagt: Da mache ich nicht mehr mit.“ Heute sei die Situation so, dass Praxen sich gezwungen sehen, technisches Equipment zu beschaffen, das sie aus freien Stücken nie erwerben würden. Bergmann sieht die TI am Scheideweg und plädiert für einen Richtungswechsel: Statt den Niedergelassenen weiterhin unausgereifte Produkte vorzusetzen, müsse erprobte Technik mit einem konkreten Nutzen her – und das nach dem Sachleistungsprinzip, ohne dass Vertragsärztinnen und Vertragsärzte mit Anschaffungskosten für TI-Komponenten behelligt werden, betont Bergmann. Von etwaigen Honorarkürzungen für Praxen, die unverschuldet und nicht rechtzeitig über die technischen Voraussetzungen zur Nutzung der elektronischen Patientenakte (ePA) verfügten, werde man als KVNO auch im vierten Quartal weiterhin absehen. Von den Herstellern verursachte technische Mängel müssen laut Bergmann den sofortigen Stopp von Honorarkürzungen nach sich ziehen.
Der KVNO-Vorsitzende geht in seinen Forderungen an Gesetzgeber und Politik noch weiter: Interoperabilität müsse für alle Niedergelassenen künftig zu einem gängigen Service werden – das heißt der Wechsel von einem Praxisverwaltungssystem (PVS) zu einem anderen müsse jederzeit problemlos vollzogen werden können.
Dem stimmt auch Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, zu. Er bestätigt: „Wir haben es mit einer Struktur zu tun, die in weiten Teilen dysfunktional ist.“ Chancen für eine positive Kehrtwende sieht er ebenfalls beim Gesetzgeber, der den Rahmen für interoperable Schnittstellen nun dringend zu schaffen habe.
Notdienst ist eine originäre Aufgabe der Selbstverwaltung
Zu den weiteren Diskussionsthemen zählt die Organisation des ambulanten Notdienstes. Für den stellvertretenden KVNO-Vorstandsvorsitzenden, Dr. Carsten König, eine nordrheinische Erfolgsgeschichte: „Nicht nur mit Blick auf die Kosten wissen wir, dass die alte, dezentrale Struktur der Notdienstpraxen mit mehreren kleinen Standorten der Realität schlicht und einfach nicht mehr gerecht wird.“ Das arbeitsteilige Modell der Portalpraxis führe zwei Welten an einem gemeinsamen Tresen zusammen, und sorge damit für weitreichende Entlastungen – vor allem in den ländlichen und eher dünnbesiedelten Regionen. Als erfolgreicher Prototyp intersektoralen Miteinanders sei die Portalpraxis damit auch ein klares Bekenntnis der Niedergelassenen für die Zukunft und für die Sicherstellung im ambulanten Notdienst. Ein, wie im Koalitionsvertrag der Bundesregierung formuliert, nochmaliger Ausbau zu Integrierten Notfallzentren (INZ) sei möglich, in Anbetracht des heute durch die Portalpraxen gewährleisteten Versorgungsniveaus aber nicht zwingend notwendig, so König.
Ambulantisierung braucht fairen Wettbewerb
Weit größeren Deutungsspielraum gibt es für die KV-Vorstände bei der sogenannten Ambulantisierung beziehungsweise dem heute politisch verschlagworteten Credo „ambulant vor stationär“ im Rahmen sektorenübergreifender Versorgung. Eine Entwicklung, die KVNO-Chef Bergmann kritisch bewertet, zumal ihm zufolge jeder den Begriff anders auslege. Ausschließen könne man eine Öffnung des stationären Bereichs für ambulante Leistungen – dies insbesondere vor dem Hintergrund begrenzter personeller Kapazitäten in Krankenhäusern. Für Bergmann bedeutet Ambulantisierung darum vielmehr eine Stärkung des niedergelassenen Bereiches. „Da, wo ambulante Behandlung möglich ist, da ist und bleibt das eine Domäne der vertragsärztlichen Versorgung“, stellt er fest. Voraussetzung sei die erforderliche Rückendeckung der Politik, analog zum Krankenhauszukunftsgesetz im stationären Bereich. So sieht es auch der KBV-Vorstandsvorsitzende, der im Sinne fairen Wettbewerbs einheitliche Regeln für alle fordert. Es sei nicht zu rechtfertigen, dass für eine Leistung zwei Preise veranschlagt würden – und das bei gleicher Qualität. Gassen ist sich sicher: „Wenn wir die Rahmensetzung gleich hinbekommen, wird das Leistungsangebot dort entstehen, wo auch die Kompetenz dafür sitzt“ – bei den Vertragsärztinnen und Vertragsärzten.
Bessere Fördermöglichkeiten für MFA bieten
Ganz ähnlich stelle sich die Gemengelage derzeit bei der Personalgewinnung dar. Als Visitenkarte einer jeden Praxis seien Medizinische Fachangestellte (MFA) in jeder Hinsicht unersetzlich, sind sich die Vorstände einig. Für die Praxen werde es aber zusehends schwerer, gut ausgebildetes Personal zu halten. Konkurrenz gebe es nicht zuletzt durch die Kliniken, die – auch im Rahmen der Öffnung für ambulante Leistungen – versuchten, entsprechende Kompetenzen im stationären Bereich abzubilden. Den Abwerbungsversuchen stünden die Niedergelassen mit ihren Möglichkeiten zur Refinanzierung ihrer Mitarbeitenden meist machtlos gegenüber, sagt Gassen. Der KBV-Vorstandsvorsitzende sieht den Gesetzgeber in der Pflicht, durch Anpassung der Finanzierungswege für faire Wettbewerbsbedingungen zu sorgen. Nur so könne man eine dynamische Entwicklung, wie sie unlängst noch durch die Pandemie entstanden sei, wieder einfangen. Nachgefasst werden müsse auch mit Blick auf die Weiterbildungsmöglichkeiten, fügte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KVNO König hinzu. Ob in der Terminkoordination, beim Impf- oder Hygienemanagement – im Zuge der Coronapandemie hätten viele MFA einen Qualifikationsschub erfahren, den es nun systematisch zu fördern gelte, so König. „Ich denke, dass es wichtig ist, sich aktiv mit dem Thema zu befassen – denn die Konkurrenz um die besten Köpfe wird härter, dessen sollten wir uns bewusst sein!“
Die vollständige Aufzeichnung des KVNO-Talks mit Dr. Andreas Gassen kann auf der Website der KVNO unter kvno.de eingesehen werden.
Thomas Petersdorff ist Referent im Bereich Presse und Medien der KV Nordrhein.
Positionspapier der KVNO
Auch mit Blick auf die NRW-Landtagswahl waren die im KVNO-Talk besprochenen Themen von zentraler Bedeutung für die Ausrichtung des Gesundheitssystems. In einem Positionspapier hat die KVNO die für die ambulante Versorgung besonders wichtigen Forderungen zusammengefasst. Dabei liegt der Fokus unter anderem auf der Strukturförderung im ländlichen Raum, dem Fachkräftemangel, der ambulanten Notfallversorgung sowie intersektoralen Versorgungsmodellen. Das Positionspapier findet sich auf kvno.de/positionspapier.