Ärzten obliegt die Verpflichtung, eingehende Befundberichte, die von ihnen betreute Patientinnen und Patienten betreffen, nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern dafür Sorge zu tragen, dass die Patienten über die daraus resultierende nötige Diagnostik und Therapie informiert und diese Maßnahmen nach Rücksprache mit den Patienten nach deren Maßgabe veranlasst werden (§ 73 Absatz 1 - 3 SGB V und Patientenrechtegesetz § 630c Abs. 2 Satz 1 BGB Informationspflicht zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren – früher Sicherungsaufklärung).
von Werner Jörgenshaus, Margarete Gräfin von Schwerin und Beate Weber
Die Gutachterkommission hatte sich kürzlich in einem Fall mit der wichtigen Frage auseinanderzusetzen, inwieweit einem Hausarzt und/oder seinem tätig gewordenen Vertreter die Verantwortung zukommt, bei Eingang von Patientenbefunden die empfohlene weiterführende Diagnostik und Therapie zu veranlassen.
Sachverhalt
Der im Verfahren belastete Allgemeinmediziner zu 1) wurde Anfang August 2016 in seiner Praxis als Vertreter für den langjährigen Hausarzt zu 2) vom Patienten wegen einer Gehstörung und Bauchschmerzen zweimal innerhalb einer Woche aufgesucht. Er wies den Patienten zur stationären Diagnostik und Behandlung wegen einer Cholezystitis ein. Erst sechs Wochen später wurde der Patient wegen seit drei Jahren bestehender, zunehmender Gleichgewichtsstörung, Gangstörung und Feinmotorikstörung der Hände in einer nicht beschuldigten neurologischen Klinik stationär aufgenommen und die Verdachtsdiagnose auf ein primäres Parkinsonsyndrom gestellt. Von den Neurologen wurde zunächst jedoch eine Cholezystektomie bei Cholezystitis in der Chirurgie veranlasst.
Nach Rückübernahme in die Neurologie am vierten Tag wurden am Folgetag ein Hydrocephalus internus, eine arterio-venöse Malformation und eine unklare hypodense Zone im dritten Ventrikel in einer zerebralen Computertomografie festgestellt. Eine Kontrastmittelgabe wurde zur Abklärung für erforderlich gehalten, vom Patienten jedoch zu diesem Zeitpunkt abgelehnt, sodass eine MRT-Untersuchung des Schädels auswärts in einer Praxis für den 14. Tag veranlasst wurde. Hierüber berichtet ein Arztbrief vom 14. Tag, der an den Allgemeinmediziner zu 1) als Einweiser adressiert wurde und in der Praxis Anfang Oktober, das heißt 23 Tage nach Krankenhausaufnahme, einging. In diesem Bericht wird nach erfolgtem Schädel-MRT die „neuroradiologische Vorstellung zur weiteren angiographischen Diagnostik und angiografisch-interventionellen, neuroradiologischen Therapie“ empfohlen.
Beim Hausarzt zu 2) ging am 21.Tag nach der Krankenhausaufnahme ein
erster – früher erstellter – Arztbrief der Neurologie ohne den oben genannten Hinweis der empfohlenen weiteren neuroradiologischen Abklärung ein, der auch an den Allgemeinmediziner zu 1) adressiert worden war. Berichtet wird über eine erfolgte zerebrale Computertomografie mit dem pathologischen Befund einer „abklärungsbedürftigen, deutlichen Erweiterung des dritten Ventrikels und des Seitenventrikels, dabei im Bereich des dritten Ventrikels eine unregelmäßig konfigurierte leicht hypodense Zone…Kontrolle nach Kontrastmittelgabe empfehlenswert…es erfolgte eine Schädel-MRT-Untersuchung. Der Befund steht noch aus.“
Neun Monate später erfolgte während eines siebenwöchigen stationären Aufenthaltes in einer nicht beschuldigten Klinik eine weiterführende Diagnostik bei sekundärem Parkinsonsyndrom als Folge eines Hydrocephalus occludens bei bestehender Durafistel. Therapeutisch wurde ein Shunt gelegt und eine Embolisation der arterio-venösen Fistel durchgeführt. Nachfolgend zeigte sich eine fast vollständige Regredienz der neurologischen Symptomatik, auch in Bezug auf die Parkinsonsymptomatik mit guter posturaler Stabilität und Gehfähigkeit, sodass die Medikation abgesetzt werden konnte.
Dem Patienten und dem Hausarzt zu 2) war die AV-Malformation im Bereich des dritten Ventrikels und des Seitenventrikels bereits seit 2006 bekannt. Laut eines Befundberichtes nach diagnostischer Angiographie im November 2006 hatten die Neurologen damals mit dem Patienten „ausführlich die verschiedenen Therapiemöglichkeiten und deren Chancen und Risiken besprochen.“
Vorwurf und Stellungnahme
Der Patient beklagte im Verfahren vor der Gutachterkommission die Therapieverzögerung um neun Monate, die seines Erachtens beiden Allgemeinmedizinern anzulasten sei, da sie es im Oktober 2016 versäumt hätten, ihn über die Befunde zu informieren und die weitere Diagnostik und Therapie zu veranlassen. Als die Parkinson-Diagnose durch den behandelnden Neurologen als fehlerhaft erkannt wurde, habe seine Lebensgefährtin sich sofort um eine stationäre Behandlung gekümmert. Da dem Hausarzt ja bereits die vorliegende AV-Malformation bekannt gewesen sei, hätte er schon im Oktober die Aufgabe der Koordination der weiterführenden Diagnostik übernehmen müssen, wie sie durch die Neurologische Klinik empfohlen worden war.
Die Ärzte bestreiten die Patientenvorwürfe. Der Allgemeinmediziner zu 1) gibt in seiner Stellungnahme an, er habe – als Urlaubsvertreter des Hausarztes – nur den zweiten Arztbrief der neurologischen Klinik erhalten und diesen umgehend an den Hausarzt zu 2) weitergeleitet, wie es bei ihm nach Urlaubsvertretungen üblich sei. Er sei von dem Patienten nach der zweiten Konsultation im August 2016 nicht noch einmal aufgesucht worden. Er handhabe es immer so, dass am Ende der Praxisvertretung alle Befunde ausgedruckt und entweder dem Patienten direkt mitgegeben oder zeitnah an die vertretene Praxis weitergeleitet würden.
Der Hausarzt zu 2) gibt in seiner Stellungnahme an, dass der Patient es zunächst versäumt habe, sich nach dem Krankenhausaufenthalt zur Befundbesprechung wieder vorzustellen. Er habe nur den ersten Arztbrief der neurologischen Klinik erhalten und den Patienten nach Besprechung dieses Berichtes umgehend an einen Neurologen verwiesen. Dies wird vom Patienten bestritten. In den Patientenunterlagen des Hausarztes findet sich kein Beleg, der bestätigt, dass der Patient im Oktober 2016 an einen Neurologen überwiesen wurde. Es findet sich nur am Tag des Befundeingangs (23. Tag nach stationärer Aufnahme) in der Karteikarte ein Vermerk „Adresse Neurologe“. Der Hausarzt führt zudem ins Feld, dass der Patient ja erneut Mitte Dezember 2016 für neun Tage in der Neurologischen Klinik stationär betreut wurde. Die weitere Diagnostik des bekannten Hydrocephalus internus hätte also in dieser Zeit erfolgen können, soweit es aus neurologischer Sicht geboten gewesen wäre.
§ 73 Absatz SGB V
- Die vertragsärztliche Versorgung gliedert sich in die hausärztliche und die fachärztliche Versorgung. Die hausärztliche Versorgung beinhaltet insbesondere
- die allgemeine und fortgesetzte ärztliche Betreuung eines Patienten in Diagnostik und Therapie bei Kenntnis seines häuslichen und familiären Umfeldes; Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen sind nicht ausgeschlossen,
- die Koordination diagnostischer, therapeutischer und pflegerischer Maßnahmen einschließlich der Vermittlung eines aus medizinischen Gründen dringend erforderlichen Behandlungstermins bei einem an der fachärztlichen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringer,
- die Dokumentation, insbesondere Zusammenführung, Bewertung und Aufbewahrung der wesentlichen Behandlungsdaten, Befunde und Berichte aus der ambulanten und stationären Versorgung,
- die Einleitung oder Durchführung präventiver und rehabilitativer Maßnahmen sowie die Integration nichtärztlicher Hilfen und flankierender Dienste in die Behandlungsmaßnahmen.
Bewertung
Der Allgemeinmediziner zu 1) wies den Patienten im August 2016 bei „Gehstörung und Cholezystitis“ stationär ein und wurde nach dem stationären Aufenthalt in einem Arztbrief der Neurologen eindeutig Anfang Oktober darüber informiert, dass „eine neuroradiologische Vorstellung zur weiteren angiographischen Diagnostik und angiographisch-interventionellen neurographischen Therapie bei Hydrocephalus internus und AV-Malformation“ erforderlich sei. Ihm oblag es als zuletzt aufgesuchtem, für den Patienten verantwortlichen einweisenden Arzt, dafür Sorge zu tragen, dass die nötigen Untersuchungen und die Therapie veranlasst wurden. Er hätte nach dieser Mitteilung entweder diese Untersuchung selber veranlassen oder Rücksprache mit dem Patienten halten müssen, ob die geforderten Untersuchungen in der Zwischenzeit angeordnet oder durchgeführt wurden, oder er hätte den Hausarzt des Patienten zu 2) zu diesen notwendigen Untersuchungen unmittelbar kontaktieren müssen (therapeutische Sorgfalts- und Hinweispflicht). Dies gilt auch, wenn er den Patienten zuletzt im Rahmen der Einweisung persönlich gesprochen hat und alle Befunde dem Hausarzt übermittelt wurden.
Dem Hausarzt zu 2) lag eigenen Angaben zufolge nur der erste Arztbrief der Neurologen mit noch ausstehender MRT-Untersuchung vor. Auch in diesem Arztbrief wurde der CT-Befund des Schädels angegeben, verbunden mit der eindeutigen Empfehlung zum weiteren Vorgehen „einer Kontrolle nach Kontrastmittelgabe“. Da die vom Hausarzt vermeintlich ausgesprochene, vom Patienten aber bestrittene Überweisung zu einem Neurologen in den Krankenunterlagen nicht belegt ist, ist bis zum Beweis des Gegenteils davon auszugehen, dass eine solche Empfehlung nicht ausgesprochen wurde. Die Gutachterkommission kann hier bei strittigem Sachverhalt nur die Dokumentation des Arztes zugrunde legen.
Beiden Allgemeinmedizinern ist demnach ein Behandlungsfehler vorzuwerfen, da sie medizinische Befunde, die ihnen in zwei verschiedenen Arztbriefen mitgeteilt wurden, nicht weiterverfolgt haben und sich nicht vergewisserten, dass notwendige Untersuchungen und Behandlungen vorgenommen wurden.
Inwieweit dem Patienten selbst eine Mitverantwortung im Behandlungsprozess zukam, insbesondere im Hinblick auf die zuvor in der Neurologischen Klinik abgelehnte ergänzende zerebrale CT-Untersuchung mit Kontrastmittel, vermag die Gutachterkommission nicht zu klären. Gerade weil die AV-Malformation bereits lange Zeit bekannt war, wäre es durch alle beteiligten Ärzte, insbesondere die behandelnden Neurologen, erforderlich gewesen, dem Patienten die Zusammenhänge darzulegen. Ob dem Patienten in der nicht beschuldigten neurologischen Klinik die Folgen der Ablehnung tatsächlich ausreichend vor Augen geführt wurden, kann im Nachhinein von der Gutachterkommission nicht festgestellt werden. Da die nachfolgende Behandlung erfolgreich war, ist dem Patienten – außer durch die Therapieverzögerung – kein bleibender Gesundheitsschaden zugefügt worden, sodass eine abschließende Klärung durch die Gutachterkommission nicht nötig war.
Dr. Werner Jörgenshaus ist stellvertretendes ärztliches Kommissionsmitglied, Margarete Gräfin von Schwerin ist stellvertretende Vorsitzende und Dr. Beate Weber ist die für die Dokumentation und Auswertung zuständige Referentin der Gutachterkommission Nordrhein.