Was ist das Besondere am Kulturerleben und welche Ressourcen bietet Kultur in ihren verschiedensten Ausprägungen gerade während der Pandemie, die gekennzeichnet ist von Grenzerfahrungen und dem Verlust von Sicherheit und Orientierung? Über diese Fragen diskutierten der Psychiater und Kulturwissenschaftler Professor Dr. Thomas Fuchs und der Schriftsteller und Orientalist Professor Dr. Navid Kermani bei den 25. Euskirchener Gesprächen.
von Vassiliki Temme
Gesundheitliche und gesellschaftliche Grenzerfahrungen, der Umgang mit dem Tod, die Nutzung kultureller Ressourcen in Zeiten der Pandemie: Gewichtige Themen standen bei den 25. Euskirchener Gesprächen zur Diskussion. Der Euskirchener Neurologe und Psychiater Dr. Hubertus Rüber und Dr. Christian Köhne, geschäftsführender Arzt der Ärztekammer Nordrhein, sprachen darüber mit dem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Professor Dr. Navid Kermani, und dem Karl-Jaspers Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg, Dr. Thomas Fuchs. Fast 300 Zuschauer verfolgten das Online-Symposium am 17. November live an den heimischen Bildschirmen und beteiligten sich im Chat rege an der Diskussion.
„Wir wollen heute Abend über die Sicherstellung der körperlichen Versorgung hinausgehen“, leitete Moderator Rüber ein. Ein Ende der Pandemie sei nicht in Sicht und das Gebot der Stunde sei, sich an Gegebenheiten anzupassen, die man nicht ändern könne. „Alles, was wir der Kultur zuordnen, setzt Vorstellungsvermögen und Phantasie voraus“, sagte Rüber. Aktuell sehe man aber auch, was geschehe, wenn sich Fiktion zu weit von der Realität entferne, etwa bei Fake News.
Grenzsituation Pandemie
„Wir dachten, alles würde immer schneller, höher, weiter gehen. Das war ein Irrtum“, zitierte Psychiater Fuchs in seinem Impulsvortrag eine „bemerkenswerte Äußerung“ von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im April 2020, inmitten der ersten Corona-Welle und am Beginn des Lockdowns. Eine Situation, die in solcher Weise die Erwartungen, Annahmen, verlässlichen Gewohnheiten und Gewissheiten durchkreuze, könne man durchaus als eine Grenzsituation bezeichnen. „Der Begriff stammt von Karl Jaspers, und er meint in seinem Verständnis etwas Grundsätzlicheres, existenziell Bedeutsameres als nur eine Ausnahme- oder Extremsituation in dem Sinn, wie der Begriff heute meist gebraucht wird“, erklärte Fuchs. „Es handelt sich um Situationen, in denen ein Mensch mit einem radikalen Bruch seines gewohnten Lebenslaufs und Lebensstils konfrontiert wird.“
Die meisten Menschen lebten in der Annahme, dass sie ihr Leben unter Kontrolle hätten, dass sie belohnt würden, wenn sie sich nur genug anstrengten. „Grenzsituationen, wie eben auch die Pandemie, erschüttern solche Annahmen und konfrontieren uns mit einer anderen, verborgenen Seite der Existenz – einer Seite, die wir einfach nicht berücksichtigt haben“, sagte Fuchs. Den Menschen sei unmissverständlich klar geworden, dass sie eben nicht alles unter Kontrolle haben. „Wir müssen die Unsicherheit ertragen. Oft weiß man erst später, was richtig gewesen wäre. Nicht zuletzt hat die Pandemie uns gezeigt, wie vulnerabel wir sind – zunächst als biologische Wesen, die krankheitsanfällig, sterblich sind; die aber auch in einem ökologischen Zusammenhang leben, der keineswegs immer grün und sonnig ist, sondern seine eigenen, auch unerbittlichen Regeln hat.“
Realität hat Perspektive
Die Coronaleugner, so Fuchs weiter, weigerten sich, die Realität anzuerkennen: „Sie bestehen darauf, dass sie entweder gar nicht existiert – dass das Virus nur eine Medienerfindung ist – oder dass die Pandemie von der mächtigen Elite genutzt wird, um eine Diktatur zu errichten.“ Diese Erfahrung von Kontingenz und Desorientierung – der Zusammenbruch eines Gehäuses – führe zu dem irrationalen Versuch, wieder ein kohärentes Weltbild herzustellen, und zwar durch eine umfassende Umdeutung der Realität.
Die Grenzsituation der Pandemie könne auch neue Perspektiven eröffnen. Dazu müsse die Menschheit Nachhaltigkeit und Gesundheit als Leitlinien für die wirtschaftliche Entwicklung nach der Krise wählen. „Wir können eine neue Beziehung zu den Lebewesen finden, mit denen wir auf der Erde leben, wieder die realen, verkörperten Begegnungen mit anderen suchen und Verantwortung für unser Handeln übernehmen.“
Kultur gibt Halt
Kermani stellte die Bedeutung von Religion während der Pandemie heraus. „Die religiöse Weltanschauung eines jeden Menschen, egal welcher Religion er oder sie sich zugehörig fühlt, kann in solchen Zeiten eine enorme Gelassenheit ermöglichen.“ In den meisten Religionen sei das irdische Leben nur ein Abschnitt, ein weiteres Kapitel. Diese Sinnesart gebe den Menschen die Kraft, schwierige Ereignisse und Veränderungen zu meistern. „Religion ist in der Pandemie sicherlich eine kulturelle Ressource für sehr viele Menschen“, meinte der Schriftsteller. Er hält es für möglich, dass diejenigen, die sich mit ihrer Religion sehr verbunden fühlen, die Pandemie besser ertragen können: „Wenn ich einen Bezug zu den religiösen Ritualen meiner Vorfahren habe, die Verbindung zu den Verstorbenen und dieses etwas andere Verständnis vom Tod – dass es eben nicht nur das Hier und Jetzt gibt – dann denke ich, ist es leichter, sich mit der Realität auseinanderzusetzen“, sagte Kermani.
Ärzte in Coronazeiten
Ärztinnen und Ärzte hätten, wie der Schriftsteller betonte, in ihrem Alltag sehr häufig mit Grenzsituationen zu tun. „Ich glaube, vielen Ärzten ist gar nicht bewusst, dass das, was sie täglich erleben, für die meisten anderen Menschen eine Extremsituation wäre. Eine Geburt, eine Herzoperation oder eine Reanimation sind für Ärztinnen und Ärzte oftmals Routine.“ Menschen, die solche Erfahrungen nicht machten, seien sich meist nicht darüber im Klaren, dass das Leben immer eine Grenzsituation und die Pandemie lediglich als ein weiteres Ereignis zu deuten sei. „Wer im Gesundheitswesen arbeitet, hat gelernt, sich von seinen Emotionen so gut es geht zu distanzieren, man muss professionell bleiben, empathisch, aber auch zurückhaltend“, sagte Kermani. „Während meiner Zeit als Kriegsreporter stand ich auch oft zwischen Emotion und Sachverhalt. Es ist nicht einfach, da eine gesunde Balance zu finden. Man darf sich in seiner Arbeit nicht von Gefühlen überwältigen lassen, aber man muss sie zulassen.“