Die Zusammenhänge zwischen seelischem Wohlbefinden und körperlicher Erkrankung sind zunehmend wissenschaftlich belegt. Experten fordern deshalb, psychosomatische Kompetenz in allen medizinischen Fächern mit Patientenkontakt zu verankern, zumal von einer guten Arzt-Patienten-Kommunikation beide Seiten profitierten. Bei einem Online-Symposium der Ärztekammer Nordrhein diskutierten die Teilnehmenden den Nutzen der Psychosomatik und formulierten Anforderungen für eine gute Umsetzung im Alltag.
von Heike Korzilius
Kopf- und Bauchschmerz, Ohrgeräusche, Schwindel, Reizdarmsyndrom, Neurodermitis: Auf die Frage „Was assoziieren Sie mit psychosomatischen Erkrankungen?“ waren dies die am häufigsten genannten Beispiele beim Online-Symposium der Ärztekammer Nordrhein. Mehr als 900 Ärztinnen und Ärzte mit überwiegend somatischer Ausrichtung hatten sich am 8. Juni für eine Teilnahme an der Fortbildungsveranstaltung „Ausgesprochen gut – Wie psychosomatische Kompetenz Patienten und Ärzten hilft“ registriert – für Kammerpräsident Rudolf Henke ein klares Zeichen dafür, dass sich im Ansehen von Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik etwas gewandelt hat.
„Die Kolleginnen und Kollegen wollen den ganzen Menschen behandeln“, betonte Henke zu Beginn der Veranstaltung. Medizin sei nicht nur die Wissenschaft von Krankheit, sondern auch die Sorge um die Seele des leidenden Menschen. Physiologische Wirkungen sozialer und kommunikativer Prozesse zum Beispiel auf immunologische Parameter, den Stoffwechsel, die Inflammation, die Metastasierung oder die Wundheilung seien inzwischen wissenschaftlich belegt. „Das sollten wir als Ärztinnen und Ärzte in allen Fachbereichen ernst nehmen“, sagte der Kammerpräsident.
Die Ärztekammer Nordrhein setzt sich Henke zufolge dafür ein, die psychischen und psychosomatischen Kompetenzen in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung zu fördern und den 80-Stunden-Kurs psychosomatische Grundversorgung für sämtliche Fächer der unmittelbaren Patientenversorgung vorzuschreiben. Zurzeit ist die Zusatzqualifikation neben den P-Fächern nur für Hausärztinnen und Hausärzte sowie Gynäkologen verpflichtend.
Ärztegesundheit im Blick
Henke erinnerte daran, dass sowohl die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein im März als auch der 126. Deutsche Ärztetag im Mai die Etablierung von berufsbegleitenden Team- und Einzelsupervisionen für Ärztinnen und Ärzte sowie von Balintgruppen gefordert hatten. Denn gutes kommunikatives Handeln verbessere nicht nur die Patientenversorgung, sondern auch die Berufszufriedenheit und die Gesundheit der Ärzte.
Wie eine gelungene Kommunikation im Rahmen psychosomatischer Konsile zur Genesung beitragen kann, zeigten Dr. Maike Monhof-Führer, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Wipperfürth, und Chirurg Stefan Luther, Ärztlicher Direktor der Helios Klinik Wipperführt, anhand eines Fallbeispiels aus der eigenen Klinik: Ein 56-jähriger Patient entwickelt nach einer laparoskopischen Appendektomie und chronischem Platzbauch eine Dünndarmfistel. Es folgen 32 Operationen zwischen März und Juli 2021. Die Behandlung sei hoch anspruchsvoll und belastend gewesen – nicht nur für den Patienten, sondern auch für die Chirurgen, sagte Luther. Beide Seiten mussten immer wieder Rückschläge verkraften, „ein sehr frustraner Zustand“. Dabei werde von den Ärztinnen und Ärzten stets eine professionelle Haltung erwartet. „Man darf den Patienten ja nicht hängen lassen“, meinte Luther. Dem stehe oft der enorme Zeitdruck im Klinikalltag entgegen. „Die durchschnittliche Visite in der Chirurgie dauert 22 Sekunden“, kritisierte er.
Phantasiereisen geben Auftrieb
Der Patient selbst leidet erheblich unter seinem Zustand, liegt ständig in seinem Dünndarmstuhl. „Zum Schluss hatte ich keine Lust mehr und hätte mich am liebsten vor den Zug geschmissen“, schildert er seine düstersten Tage in einem eingespielten Video. Die begleitende psychosomatische Betreuung durch Monhof-Führer empfindet er als Rettung. Besonderen Auftrieb geben ihm die Phantasiereisen, die die Therapeutin anregt. Dabei stellt er sich vor, dass er wieder mit seinen Enkeln in den Wald gehen wird. „Früher hätte ich gesagt, so einen Quatsch brauche ich nicht“, spricht der Patient in die Kamera. Doch Dank der psychotherapeutischen Begleitung und der flankierenden Therapie mit Antidepressiva kann er am Ende seiner letztlich erfolgreichen chirurgischen Behandlung sagen: „Ich fühle mich gut. Alle haben das hier super gemacht.“
Ärzte sind in ihrem Beruf nicht nur fachlich gefordert
Dieser Fall belege die Nützlichkeit des Sprechens, sagte Dr. Norbert Hartkamp, M.SC.: „Psychosomatik ist kein Schmankerl obendrauf.“ Dem Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie aus Solingen ging es beim Online-Symposium darum zu zeigen, dass Ärztinnen und Ärzte in ihrem Beruf nicht nur fachlich gefordert sind. Notwendig sei auch die kompetente Kommunikation mit Patienten, Angehörigen und Kollegen, damit eine Behandlung gelinge. Als Negativbeispiel schilderte er den Fall einer gynäkologischen Weiterbildungsassistentin. Diese hatte aus einem Gefühl der Unsicherheit und Angst heraus ihre 45-jährige Patientin nicht darüber aufgeklärt, dass sie an einem inoperablen Cervix-Carcinom leidet. Den Chefarzt hatte die Ärztin zudem nicht über den Wissensstand der Patientin informiert, sodass dieser bei der Visite bemerkte: „Sie wissen schon, dass Sie daran sterben werden?!“ Hier sei die Kommunikation zwischen allen Parteien gescheitert, so Hartkamp. Entsetzen, Entfremdung, Schuldgefühle waren die Folgen.
Patientenzentrierte Versorgung und Kommunikation seien mehr als nur ein Wohlfühlfaktor, betonte auch André Karger, Stellvertretender Leiter des Klinischen Instituts für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Sie trügen zentral zur Qualitätsverbesserung der medizinischen Versorgung bei. „Die Art zu sprechen, kann das Schmerzempfinden beeinflussen“, erklärte Karger. Die gute Vermittlung behandlungsbezogener Informationen fördere die Behandlungstreue. „Kommunikation ist nicht nur eine Fertigkeit, sondern eine Haltung, die man im Sinne des lebenslangen Lernens weiterentwickeln sollte“, so Karger. Dafür benötige man allerdings ein verpflichtendes Curriculum.
„Es hat sich inzwischen eingebrannt, dass Stress Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Dennoch werden nur wenige Patienten aus psychosomatischer Perspektive mitbetreut“, stellte Professorin Dr. Eva Peters, Leiterin des Psychoneuroimmunologie Labors an der Justus-Liebig-Universität Gießen, fest. Das sei offenbar noch immer mit einem Stigma behaftet. Häufig fehle in medizinischen Einrichtungen aber auch das Angebot beispielsweise eines Konsiliardienstes oder eigener Sprechstunden. Anhand wissenschaftlicher Studien belegte Peters den negativen Effekt von chronischem Stress auf den Körper. Dieser könne Virusinfektionen aktivieren oder verschlimmern, Entzündungsprozesse und das Tumorwachstum anregen oder auch die Barrierefunktion der menschlichen Haut stören. Zugleich belegten wissenschaftliche Untersuchungen, dass eine Psychotherapie die Immunantwort des Körpers normalisieren könne.
Droge Arzt wirksam einsetzen
Um diese Art der „Beziehungsmedizin“ zu verstehen, warb Privatdozent Dr. Guido Flatten, Ärztlicher Leiter des Euregio-Instituts für Psychosomatik und Psychotraumatologie in Aachen, für die Teilnahme an Balintgruppen. Die Arbeit dort vermittle Ärztinnen und Ärzten nicht nur, wie sie die „Droge Arzt“ in der Behandlung wirksam einsetzen könnten. Die „patientenbezogene Selbsterfahrung“ könne Ärztinnen und Ärzten auch dabei helfen, eigene emotionale Belastungen besser zu verarbeiten. Immerhin seien 20 Prozent von ihnen Burn-out gefährdet.
Eine Balintgruppe besteht Flatten zufolge in der Regel aus acht bis zwölf Teilnehmenden und dauert 60 bis 90 Minuten. Es gebe einen Gruppenleiter und eine Teilnehmerin oder einen Teilnehmer, der einen Fall vorstelle. „Man muss nicht vorbereitet kommen“, sagte Flatten. Es gehe darum, ein Ereignis zu schildern, „das einem nicht aus dem Kopf geht“. Im Anschluss daran seien alle Gruppenmitglieder aufgerufen zu erzählen, was der Fall bei ihnen emotional auslöst. „In einer guten Balintgruppe entfaltet die Fallgeschichte eine Dynamik. Es treten Spiegelungseffekte auf. Man erkennt eigene, unbewusste Teile seiner Persönlichkeit, während der Fallvorsteller sich das Geschehen sozusagen ,von oben‘ noch einmal anschauen kann“, so Flatten. Eine Balintgruppe helfe bei der Entwicklung emotionaler Kompetenz und sei damit eine hocheffektive Burnout-Prophylaxe, sozusagen ein „Waschlappen für die Seele“, meinte der Psychotraumatologe.
Nicht die Krankheit, sondern den Mensch behandeln
Man müsse Medizin weiterdenken, forderte Melissa Camara Romero. „In unserem Gesundheitssystem steht zunächst einmal die Erkrankung im Mittelpunkt. Wir wollen nach Leitlinien therapieren. Aber wir können uns nicht immer nach dem Kochrezept richten. Ich behandle nicht die Krankheit, sondern den Menschen“, stellte die Oberärztin der Abteilung Hämatologie und Onkologie am St. Antonius-Hospital in Eschweiler das alltägliche Spannungsfeld dar. Patientinnen und Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen seien oft Überdiagnostik ausgesetzt, die insbesondere juristischen Anforderungen geschuldet sei. Dieser Druck müsse abgebaut werden. Zugleich müsse die sprechende Medizin aufgewertet und endlich angemessen vergütet werden, so Camara Romero. Außerdem benötigten junge Ärztinnen und Ärzte mehr Raum für das Erlernen kommunikativer Kompetenzen in der Weiterbildung – auch im Alltag, nicht nur im Kurs.
Das Online-Symposium zur Psychosomatik konzipierte der Ad-hoc-Ausschuss „Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik“ der Ärztekammer Nordrhein unter der Leitung von Christa Bartels, Ärztliche Psychotherapeutin und Fachärztin für Nervenheilkunde.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Professorin Dr. Susanne Schwalen, Geschäftsführende Ärztin der Ärztekammer Nordrhein.
Maike Monhof-Führer, Norbert Hartkamp und André Karger sind Mitglieder im Ad-hoc-Ausschuss, Melissa Camara Romero ist Mitglied im Vorstand der Ärztekammer Nordrhein.