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Wissenschaft und Fortbildung – Aus der Arbeit der Gutachterkommission – Folge 125

Erosio corneae nach Operation: Beherrschbares Risiko oder nicht vermeidbare Komplikation?

21.04.2021 Seite 30
RAE Ausgabe 5/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2021

Seite 30

Im Zusammenhang mit einer Allgemeinanästhesie auftretende Verletzungen der Cornea gelten allgemein als sehr selten und werden häufig als Bagatellkomplikation betrachtet. In aller Regel heilt eine Erosio corneae innerhalb weniger Tage folgenlos aus, die Patienten  verspüren jedoch wegen der starken Schmerzen und des vorübergehend eingeschränkten Visus einen erheblichen Leidensdruck. 

von Ludwig Brandt, Johannes Riedel und Sigrid Schramm  

Patienten empfinden eine Hornhautverletzung wegen der immer damit verbundenen Angst vor einer Visuseinschränkung oder gar einem Visusverlust als besonders bedrohlich. In einer retrospektiven Analyse aus dem Jahr 1996, die 60.965 Allgemeinanästhesien für nicht augenchirurgische Eingriffe umfasste, fand Roth bei 34 Patienten (0,056%) postoperativ ophthalmologische Auffälligkeiten. Als häufigste Komplikation (21 Patienten oder 0,034%) wurde eine Erosio corneae diagnostiziert. Andere Verletzungsmuster waren Konjunktivitis, verschwommenes Sehen, rote Augen, chemische Reizung, direktes Trauma und Blindheit. Im Zusammenhang mit augenchirurgischen Eingriffen spielen direkte Traumata infolge unwillkürlicher Bewegungen des Patienten während der Manipulation am Auge eine wesentliche Rolle und führen häufig zum Sehverlust. Andere Ursachen für eine postoperativ auftretende Blindheit sind ischämische Neuropathien, eine Thrombose der Arteria centralis retinae oder corticale Ereignisse. Eine sehr seltene, bisher nur in wenigen Fallberichten dokumentierte und in der Regel vollständig reversible Komplikation stellt die Valsalva-Retinopathie dar. 

Übereinstimmend wird in der anästhesiologischen Literatur die Corneaerosion als häufigste ophthalmologische Komplikation bei nichtophthalmologischen Eingriffen genannt. Wie häufig das Problem jedoch tatsächlich auftritt, ist nicht bekannt. Die Zahlen liegen, abhängig von der Art, ob und wie die Augen vor Verletzungen geschützt werden, weit auseinander. In der Literatur genannt wird eine Inzidenz von 0,0–0,05 % bis 12,77 % unter Verwendung verschiedener Prophylaxemaßnahmen und von 44 % bei ungeschützten Augen.

Trotz der Divergenz zeigen diese Zahlen, dass Maßnahmen zum Schutz der Augen die Inzidenz einer Cornealschädigung zumindest senken. Es erscheint spekulativ, aus den divergierenden Angaben in der Literatur, die auf unterschiedlichen Protektionsmaßnahmen beruhen, eine auch nur näherungsweise zutreffende Inzidenz von Hornhautschäden belegen zu können. Das Royal College of Anaesthetists of Great Britain (RCoA) hat dennoch versucht, eine Wahrscheinlichkeit zu definieren, und stuft die Komplikation einer „Corneal abrasion (scratch on eye)“ in ihrer Patienteninformation, nahe an der von Roth beschriebenen Häufigkeit, mit einer Rate von 0,036 % als „Rare – between 1 in 1.000 and 1 in 10.000“ ein.

In Deutschland werden schätzungsweise acht Millionen Allgemeinanästhesien pro Jahr durchgeführt, genaue Zahlen existieren nicht. Legt man die von der RCoA akzeptierte Häufigkeit zugrunde, so kommt man spekulativ auf eine jährliche Zahl von 2.880 Hornhautschädigungen nach Anästhesie und Operation – mehr als zehn Ereignisse pro Tag. Dies zeigt, dass das Problem eventuell doch größer sein könnte als allgemein angenommen. Geht man der Frage nach, ob beziehungsweise wie die Thematik in deutschsprachigen Lehrbüchern abgehandelt wird, so findet man keine oder allenfalls kursorische Anmerkungen zu Häufigkeit, Ursachen und Prophylaxe. 

Entstehung und Vermeidung


Ob es während Anästhesie und Operation zu einer Hornhauterosion gekommen ist, wird immer frühestens im Aufwachraum erkennbar werden. Die betroffenen Patienten klagen bei tränendem und gerötetem Auge über stechende und brennende Schmerzen, Lichtempfindlichkeit sowie ein Fremdkörpergefühl, wodurch ein reflektorischer Verschluss des Auges ausgelöst wird. Der Nachweis einer Läsion geschieht durch Anfärben des Defektes mit Fluoreszein.

Die auslösenden Ursachen lassen sich in den meisten Fällen nicht eindeutig klären. Als begünstigende Faktoren werden in der Literatur benannt:

  • verminderte Tränenproduktion während der Anästhesie,
  • unzureichender Verschluss der Augenlider (Lagophthalmus),
  • Ausschaltung des Bell’schen Phänomens während der Anästhesie,
  • mechanische Irritation durch die Gesichtsmaske oder anderes Instrumentarium,
  • chemische Reizung,
  • reflektorisches Reiben der Augen durch den Patienten in der Aufwachphase.

Zu den gebräuchlichen Maßnahmen zur Vermeidung zählen:

  • das passive Verschließen der Augenlider,
  • das Zukleben der Augenlider mit Pflasterstreifen, 
  • die Anwendung von Augensalben.

Andere in der Fachliteratur erwähnte, in der Regel jedoch nur in Einzelfällen, zum Beispiel bei speziellen Lagerungen, angewandte Maßnahmen sind:

  • die Applikation von Uhrglasverbänden oder Okklusivverbänden,
  • die Applikation von Schutzbrillen oder Kontaktlinsen,
  • die Tarsoraphie (Vernähen der Augenlider).

Einige Autoren empfehlen die kombinierte Anwendung mehrerer Maßnahmen. Wichtigste protektive Maßnahme ist jedoch die engmaschige Kontrolle eines vollständigen Lidschlusses, wenn die Lagerung des Patienten dies zulässt. Über die Gefahr einer Selbstverletzung in der unmittelbar postoperativen Phase können die Patienten präoperativ aufgeklärt und nach Möglichkeit zu entsprechendem Verhalten aufgefordert werden. Während von White das Zukleben der Augen mit einem Pflasterverband für die beste Methode im Verantwortungsbereich des Anästhesisten gehalten wird, fand Segal paradoxerweise in seiner 2014 veröffentlichten retrospektiven Studie bei den Patienten, deren Augen mit Pflaster verklebt waren, mehr Cornealabrasionen als bei den Patienten, deren Augen nicht zugeklebt worden waren. Als Ursache vermutete er ein unsensibles Anbringen oder Entfernen des Pflasters oder ein vermehrtes Reiben der Augen durch die Patienten im Aufwachraum.

Demgegenüber vertreten einige Autoren die Meinung, dass Augenschäden mit ausreichender Übung und geeigneter Technik vermeidbar seien. Aus medizinisch-anästhesiologischer Sicht ist dieser Standpunkt vor dem Hintergrund der zuvor angeführten Literatur nicht teilbar. Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage sind Hornhautschäden nach Anästhesie und Operation auch bei Anwendung aller prophylaktischen Maßnahmen und engmaschiger Beobachtung nicht sicher vermeidbar und ihre Ursachen nicht immer zu klären. Mit anderen Worten: Die Vermeidung von Corneaschädigungen kann nicht dem sicher beherrschbaren Bereich zugerechnet werden.

Die Gutachterkommission Nordrhein hatte in jüngster Zeit über einen Fall einer Erosio corneae zu befinden, wobei den beteiligten Gutachtern und Juristen vor allem die erheblich divergierenden Angaben zur Inzidenz der Komplikation in der deutschsprachigen und internationalen anästhesiologischen Literatur auffiel.

Fallbericht


Eine knapp 60 Jahre alte schlanke Patientin musste sich einer rechtsseitigen Schultergelenksoperation in Allgemeinanästhesie und Beach-Chair-Position unterziehen. Die anästhesiologische Aufklärung der Patientin erfolgte unter Verwendung eines handelsüblichen Aufklärungssystems. Dort werden unter der Überschrift „Risiken und mögliche Komplikationen der Betäubungsverfahren“ mögliche ophthalmologische Komplikationen nicht erwähnt. 
Im Anästhesieprotokoll war in der Spalte „Augenschutz“ das Stichwort „Pflaster“ eingetragen worden. Die Anästhesiezeit betrug 110 Minuten, der Anästhesieverlauf war unauffällig.

Unmittelbar postoperativ im Aufwachraum beklagte die Patientin Schmerzen im geröteten linken Auge. Bei der Aufnahme auf die weiterbehandelnde Station wurde das Auge als gerötet und geschwollen beschrieben. Eine augenärztliche Kontrolluntersuchung am darauffolgenden Tag erbrachte bei leicht geminderten Schmerzen als Diagnose eine „apikale Epithelstippung“ des Auges. Der Augenarzt verordnete Lacrimal O.K. Augentropfen® und eine Nachuntersuchung nach drei Tagen, die eine noch bestehende lineare Epithelläsion zeigte. Drei Monate später wies das schmerzfreie Auge nur noch eine temporäre Bindehautinjektion auf. Bei einer Kontrolle fünf Monate nach dem Eingriff waren am Auge keine Auffälligkeiten im Hornhautbereich mehr erkennbar.

In ihrem Antrag an die Gutachterkommission beklagte die Patientin, bei der Anästhesie sei ganz offensichtlich ihr linkes Auge nicht hinreichend geschützt worden, sodass es zu einer Schädigung der Hornhaut gekommen sei. Dieses Geschehen sei jedoch den voll beherrschbaren Risiken zuzuordnen. Darüber hinaus sei sie nicht über die Möglichkeit einer Augenschädigung bei der Anästhesie aufgeklärt worden.

Die Gutachterkommission kam zu der folgenden Beurteilung:


Soweit die Patientin rügt, dass über das Risiko der Schädigung der Augen nicht aufgeklärt worden sei, ist zunächst davon auszugehen, dass der behandelnde Arzt gemäß § 630 e Abs. 1 BGB den Patienten über alle wesentlichen Umstände, insbesondere zu erwartende Folgen und Risiken der Behandlungsmaßnahme aufzuklären hat. Entscheidend ist dabei, ob das fragliche Risiko der konkreten Behandlung spezifisch anhaftet. Nicht aufklären muss der Arzt über Gefahren, deren Kenntnis für den Entschluss des Patienten, ob er einwilligt, offensichtlich keine Bedeutung haben kann.
In keinem der in Deutschland verwendeten Aufklärungsbögen wird das Risiko einer Hornhautverletzung expressis verbis erwähnt. Zudem ergaben Nachfragen bei klinisch tätigen Anästhesisten, dass Patienten in aller Regel nicht über die Komplikation einer Hornhautschädigung aufgeklärt werden. Angesichts dieser weit verbreiteten Praxis kann nach Auffassung der Gutachterkommission ein medizinischer Standard, dass insoweit ein aufklärungspflichtiges Risiko bestehe, nicht festgestellt werden. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht kann daher nicht bejaht werden.

Jedenfalls kann bei dieser Sachlage ein schuldhafter Aufklärungsfehler nicht festgestellt werden. Da die medizinische Wissenschaft das Risiko, welches sich im vorliegenden Fall (bei dokumentiert korrektem Vorgehen) verwirklicht hat, nicht für relevant und damit nicht für aufklärungspflichtig ansieht, kann den Anästhesisten aus der unterlassenen Aufklärung hierzu kein Vorwurf gemacht werden. Sie haben sich verhalten wie die Mehrzahl der Fachvertreter. Eine mögliche Pflichtverletzung in Bezug auf die Aufklärung haben die Anästhesisten nach Auffassung der Gutachterkommission nicht zu vertreten (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB).

Unabhängig von den vorstehenden Überlegungen ist die Gutachterkommission im Übrigen der Auffassung gewesen, dass die Patientin, wäre sie über das Risiko einer nicht sicher vermeidbaren Hornhautschädigung aufgeklärt worden, ihre Einwilligung in die Operation und Anästhesie nicht verweigert hätte. Das Risiko, welches sich vorliegend verwirklicht hat, wog weitaus geringer als der Nutzen, der mit der geplanten und offenbar indizierten Schulteroperation angestrebt und auch erreicht worden ist. Dass die Patientin sich bei entsprechendem Hinweis in einem Entscheidungskonflikt befunden hätte, den sie im Sinne weiterer Hinnahme von Schulterbeschwerden zur Vermeidung vorübergehender Hornhautschäden gelöst hätte, kann nicht angenommen werden. Nach Auffassung der Gutachterkommission kann daher die Ursächlichkeit einer (möglichen) Verletzung der Aufklärungspflicht nicht bejaht werden (vgl. zum Zusammenhang von Aufklärungsmängeln und der Verwirklichung nicht aufklärungspflichtiger Risiken zuletzt BGH v. 28.05.2019 – VI ZR 27/17 – NJW 2019, 2320 f.). 

Fehlerhaftes Vorgehen


Soweit die Patientin ein fehlerhaftes Vorgehen im Rahmen der Anästhesie beanstandet, ist nach der Behandlungsdokumentation, insbesondere dem Narkoseprotokoll, davon auszugehen, dass ein Augenschutz angebracht wurde. Im Narkoseprotokoll findet sich in der Rubrik „Augenschutz“ der handschriftliche Eintrag „Pflaster“. Die damit dokumentierten Vorkehrungen sind als ausreichend zu bewerten.

Die Komplikation verwirklichte sich trotz ausreichend durchgeführter Augenschutzmaßnahmen. Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage sind Hornhautschäden nach Anästhesie und Operation auch bei Anwendung aller prophylaktischen Maßnahmen und engmaschiger Beobachtung nicht sicher vermeidbar und ihre Ursache nicht immer zu klären. Die Vermeidung von Hornhautschäden kann nicht dem sicher beherrschbaren Bereich zugerechnet werden. In diesem Fall war ein Behandlungsfehler zu verneinen. 

Professor Dr. med. Ludwig Brandt und Dr. med. Sigrid Schramm sind stellvertretende geschäftsführende Kommissionsmitglieder und Oberlandesgerichtspräsident a. D. Johannes Riedel ist Vorsitzender der Gutachterkommission Nordrhein. Der Beitrag mit Literaturverzeichnis erschien bereits in der Zeitschrift Anästh Intensivmed 2021;62:128–133.