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Stress in der Stadt

22.04.2021 Seite 29
RAE Ausgabe 5/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2021

Seite 29

Macht Stadtleben krank? Die soziale Interaktion ist dort häufig aversiver als auf dem Land. © IRStone/stock.adobe.com
Bessere Gesundheitsversorgung, günstigere sozioökonomische Bedingungen und ein gesundheitsbewusster Lifestyle – körperlich leben Städter oft gesünder als Leute auf dem Land. Doch Städte haben eine dunkle Seite. Deren Bewohner haben statistisch ein deutlich erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen. Macht das Stadtleben stressanfälliger oder sogar krank? Verändert die Großstadt das Gehirn? Antworten auf diese Fragen lieferte das „24. Euskirchener Gespräch“ der Ärztekammer Nordrhein in einem Online-Dialog von Neurowissenschaft und Architektur.

von Ulrike Schaeben

In der Stadt aufgewachsene und dort lebende Menschen haben gegenüber Landbewohnern ein deutlich erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angsterkrankungen, vor allem aber für Schizophrenie. Das belegen Untersuchungen seit den 1930er-Jahren. Dabei deuten die Studiendaten auf eine Kausalbeziehung zwischen dem Stadtleben und dem psychischen Erkrankungsrisiko hin. Diesen alarmierenden Befund stellte Professor Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts (ZI) für Seelische Gesundheit in Mannheim, beim 24. Euskirchener Gespräch vor, das pandemiebedingt online stattfand. Dem Psychiater zufolge gilt dieser Befund global und ist nicht durch die Drift-Hypothese erklärbar, nach der Städte vermehrt psychisch labile Personen anziehen. Eine wesentliche Ursache sieht er wie viele andere Forscher in der sozialen Interaktion, die in der Stadt häufig aversiver und daher schlechter für die psychische Gesundheit sei.

Für diese These haben Meyer-Lindenberg und sein Team versucht, in Studien empirische Evidenz zu gewinnen: Die Art, wie das Gehirn sozialen Stress verarbeite, sei bei Großstädtern in einer Weise verändert, die gut zu Depressionen, Angst und Schizophrenie passe, denn es werde genau ein Hirnareal aktiviert, das als „Gefahrensensor“ fungiere. „Das übererregbare Areal der Amygdala beim Großstädter erscheint als die gemeinsame pathophysiologische Endstrecke für Depression und Angsterkrankungen“, erklärte Meyer-Lindenberg. Auch im Gyrus cinguli, der als regulatorisches Areal die Amygdala hemmt, fanden die Forscher Auswirkungen von Stadtstress. Dieser gut bekannte Schaltkreis habe mit der Regulation negativer Affekte und Umweltrisikofaktoren zu tun.

„Können wir diese neurobiologischen Befunde verwenden, um den Menschen das Leben in der Stadt leichter zu machen und die Resilienz gegenüber dem vielfach nachgewiesenen Risikofaktor Stadt zu erhöhen?“ fragte Meyer-Lindenberg. Dies sieht der Forscher als drängende Frage und globale Herausforderung, denn die Verstädterung schreite rapide fort: Laut den Vereinten Nationen werden bis 2050 zwei Drittel der Menschheit in großen Städten leben.

Das biophile Gehirn

Der Neurowissenschaftler fokussierte in seinem Vortrag auf drei resilienzfördernde Faktoren, die helfen sollen, mit dem aversiven Faktor Stadt besser umzugehen. Nach Auffassung von Meyer-Lindenberg sind das zufriedenstellende Sozialkontakte, Bewegung und Naturexposition.

Die positive Wirkung von Grünflächen wurde in der sogenannten PEZ-Studie des ZI Mannheim zur Wirkung von Umweltfaktoren auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit erstmals im städtischen Alltag bestätigt und auf die Gehirnfunktionen bezogen. Es wurden geoinformatische Methoden eingesetzt und mit der mit dem Smartphone aufgezeichneten Stimmungssituation verknüpft. Eine wichtige Erkenntnis der Studie lautet: Grünflächen können als wichtiger schützender Faktor angesehen werden, denn sie wirken modulierend auf die Psyche. 

Mensch und Maßstab

Paul Böhm, Architekt und ehemaliger Dekan der Hochschule für Architektur in Köln, rundete den Diskurs durch seine Ausführungen zum menschlichen Maßstab ab: Ist die Vereinsamung in der Stadt tatsächlich so groß oder ist das Gefühl der Vereinsamung eher darauf zurückzuführen, dass in den Städten die „Körnung“ der einzelnen Lebensbereiche aufgegeben und Maßstäbe verlassen wurden? Die Größe der Stadt in der Gesamtstruktur sei nicht das Problem, meinte Böhm. Vielmehr bedürfe es einer Strukturierung, die der Mensch noch erfassen könne. Riesige Plätze, begrenzt durch überproportionierte Hochhäuser, riefen Unbehagen und ein Gefühl der Leere hervor, führte der Architekt aus: „Man muss dem menschlichen Auge in der Bewegung durch die Stadt Halt geben und durch die Gliederung von Gebäuden eine Erfassbarkeit und Vergleichbarkeit für den Menschen im Verhältnis zur eigenen Person ermöglichen.“

Das Fazit des Architekten ergänzte das des Neurowissenschaftlers aus einer anderen Perspektive: Es gelte Räume zu schaffen, in denen Menschen in nachbarschaftlicher Nähe arbeiten und soziale Kontakte pflegen könnten, und eine Lebenswelt zu gestalten, die für den Menschen auch in Zukunft lebenswert bleibe. 

Dr. phil. Ulrike Schaeben ist Referentin für die Koordination der Kreisstellen der Ärztekammer Nordrhein.