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Keine Übersterblichkeit im Ruhrgebiet im Jahr 2020

25.06.2021 Seite 23
RAE Ausgabe 7/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2021

Seite 23

Das Robert Koch-Institut (RKI) meldete am 19. April 2021, dass bis zu diesem Datum in Deutschland 80.006 Personen an oder mit COVID-19 verstorben sind. Diese Zahl lässt vermuten, dass es in Deutschland auch eine hohe Übersterblichkeit gegeben haben muss. Eine Auswertung der Sterbedaten aus Dortmund, Bochum und Essen zeigt dagegen, dass es dort im Jahr 2020 eine geringe Untersterblichkeit gab. 

von Bernd Kowall, Karl-Heinz Jöckel und Andreas Stang

Das Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie am Universitätsklinikum Essen hat Daten des Statistischen Landesamts Nordrhein-Westfalen ausgewertet, um zu prüfen, ob es in Dortmund, Bochum und Essen im Jahr 2020 eine Übersterblichkeit gegeben hat. Als Maß für die Sterblichkeit wurde die Standardisierte Mortalitätsratio (SMR) berechnet, die als Quotient aus zwei Zahlen berechnet wird. Im Zähler steht die im Jahr 2020 beobachtete Zahl der Sterbefälle, im Nenner die Zahl der Sterbefälle, die man erwarten würde, wenn das Sterberisiko im Jahr 2020 genauso hoch gewesen wäre wie in den Jahren 2016 bis 2019. Eine SMR von 1,00 bedeutet, dass beobachtete und erwartete Sterblichkeit identisch sind, eine SMR < 1 bedeutet eine Unter-, eine SMR > 1 eine Übersterblichkeit. Bei den Analysen wurde auch die Alterung der Bevölkerung berücksichtigt. So stieg in Essen die Zahl der über 80-Jährigen von 37.978 im Jahr 2016 auf 38.968, 40.279, 41.727 und 42.924 in den Jahren 2017 bis 2020 an. Das heißt, zwischen 2016 und 2020 erhöhte sich die Zahl der Menschen in dieser Altersgruppe um relativ 13 Prozent, sodass auch ohne die Pandemie ein Anstieg der Sterbefälle zu erwarten gewesen wäre.

Grafik 1 zeigt die monatsspezifische SMR für Dortmund und Bochum. Dabei wird der Vergleich der beobachteten und der erwarteten Sterbefälle monatsweise vorgenommen: eine Übersterblichkeit gab es demnach nur in den Monaten August, November und Dezember, und zwar um relativ elf Prozent, neun Prozent und 7,5 Prozent. In allen anderen Monaten wurde eine Untersterblichkeit beobachtet.
 
Grafik 2 zeigt die über die Zeit kumulative SMR für Dortmund und Bochum. Bei der kumulativen SMR für August wird beispielsweise der Vergleich von beobachteter und erwarteter Sterblichkeit für alle Monate von Januar bis August zusammen vorgenommen. Die kumulative SMR für Dezember lässt sich als Vergleich von beobachteter und erwarteter Sterblichkeit für das gesamte Jahr 2020 interpretieren: Sie betrug 0,965 mit einem 95%-Konfidenzintervall von 0,947 – 0,982. Dieses Ergebnis besagt, dass es in Dortmund und Bochum im Jahr 2020 eine Untersterblichkeit von 3,5 Prozent gab. Eine geschlechtsspezifische Auswertung ergab bei Männern eine Untersterblichkeit von 2,5 Prozent (SMR=0,975, 95% Konfidenzintervall 0,950 – 1,000) und bei Frauen von 4,7 Prozent (SMR=0,953, 95% Konfidenzintervall 0,928 – 0,977).

Eine analoge Auswertung mit allerdings nicht monatsgenauen Daten der Stadt Essen ergab für das gesamte Jahr 2020 eine Untersterblichkeit von 1,3 Prozent (SMR=0,987, 95% Konfidenzintervall 0,965 – 1,009).

Die Ergebnisse für das Ruhrgebiet decken sich mit noch nicht publizierten Ergebnissen der Autoren für das gesamte Bundesgebiet, die mit analogen Methoden gewonnen wurden: die SMR für das ganze Jahr 2020 betrug 0,976 (95%-KI: 0,974 – 0,978), was einer Untersterblichkeit von 2,4 Prozent entspricht.
Die Analysen zeigen demnach zweierlei:
 
Es gab in drei großen Ruhrgebietsstädten im Jahr 2020 trotz der Pandemie mit zahlreichen Sterbefällen mit oder an COVID-19 keine Übersterblichkeit, sondern vielmehr eine Untersterblichkeit.
 
Das Mortalitätsgeschehen war im Ruhrgebiet im vergangenen Jahr nicht ungünstiger als im gesamten Bundesgebiet.Zwei Erklärungen für die beobachtete Untersterblichkeit bieten sich an: Zum einen wurde durch das veränderte Verhalten der Bevölkerung (Kontaktreduktion, Abstand halten, Tragen von Masken, Lüften) das Risiko für Influenzainfektionen vermutlich generell verringert. Zum anderen waren viele der an COVID-19 Verstorbenen multimorbid, 89 Prozent waren nach RKI-Daten vom 23. März 2021 mindestens 70 Jahre alt, 77 Prozent waren mindestens 80 Jahre alt, und mindestens 40 Prozent waren Bewohner von Alten- und Pflegeheimen (einem Bericht des Deutschen Ärzteblattes vom 8.3.2021 zufolge mindestens 29.000 der bis dahin etwa 70.000 Verstorbenen). Das bedeutet, dass ein nennenswerter Teil der Verstorbenen eine ohnehin nur noch geringe Lebenserwartung hatte und viele Sterbefälle durch COVID-19 um wenige Wochen oder Monate vorgezogen wurden. Diese Vermutung wird durch aktuelle Berechnungen des Statistischen Bundesamtes bekräftigt, denen zufolge es im März 2021 eine Untersterblichkeit von elf Prozent gegeben hat. Darüber hinaus gilt es zu berücksichtigen, dass auch Nebenfolgen der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung einen Einfluss auf das Sterblichkeitsgeschehen haben können. So ist die Zahl der bei Verkehrsunfällen getöteten Menschen beispielsweise im Vergleichszeitraum März bis Juni 2019 und März bis Juni 2020 um relativ 18 Prozent zurückgegangen, während die verringerte Zahl der Krankenhausaufnahmen wegen Krebs und akutem Herzversagen zu einer höheren Mortalität beigetragen haben kann.
 
Die Ergebnisse bedeuten nicht, dass es keine nennenswerte Zahl an COVID-19 Toten gegeben hat oder dass das Virus nicht ernst zu nehmen ist. Sie sind jedoch ein Anlass, jegliche dramatisierende Darstellung zu versachlichen. Vergleiche von SARS-CoV-2 mit der Pest oder täglichen Flugzeugabstürzen (Markus Söder) erweisen sich vor dem Hintergrund einer Untersterblichkeit als stark überzogen. Derartige Übertreibungen bergen die Gefahr, dass Politiker zu Gefangenen ihrer eigenen Risikokommunikation werden, aus der sie auch dann kaum noch herauskommen, wenn relativierende Daten zu SARS-CoV-2 vorliegen. In jedem Fall bieten Ergebnisse zur Über- und Untersterblichkeit einen anderen Blick auf die Pandemie als die für politische Entscheidungen bislang maßgebend in den Blick genommenen Inzidenzzahlen. Letztere sind unter anderem wegen der Abhängigkeit von der Zahl der durchgeführten Tests sowie deren fehlender Standardisierung (unter anderem kein fester Grenzwert für den Ct-Wert, bis zu dem ein PCR-Test als positiv gilt) als dominierendes Entscheidungskriterium stark in die Kritik geraten.
 
Die beobachtete Untersterblichkeit lenkt den Blick auf eine mögliche Überlastung des Gesundheitssystems, die als Folge von COVID-19 auch dann auftreten kann, wenn die Sterblichkeit nicht erhöht ist. Mit Hilfe moderner statistischer Prognoseverfahren (sogenannter ARIMA-Modelle) lässt sich die Zahl der benötigten Intensivbetten für einen Zeitraum bis zu drei Wochen unter Angabe von Konfidenzintervallen recht zuverlässig vorhersagen. Derartige Prognosemodelle erlauben nach Art eines Ampelsystems, frühzeitig darauf hinzuweisen, ob mit einer Überlastung der Intensivstationen zu rechnen ist. Dies ist ein rationales Vorgehen, bei dem die Pandemierisiken zeit- und zielgenau identifiziert werden. 
Es wäre wünschenswert, solche Prognoseverfahren verstärkt im Rahmen der Pandemiebekämpfung einzusetzen. Sollte eine Überlastung des Gesundheitssystems tatsächlich eintreten, ist es Aufgabe der politisch Verantwortlichen, die Kapazitäten insbesondere zur Versorgung von Intensivpatienten zu erhöhen. 

Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Dr. rer. san. Bernd Kowall ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie der Universitätsklinik Essen, Prof. Dr. rer. nat. Karl-Heinz Jöckel ist stellvertretender Leiter und Prof. Dr. med. Andreas Stang, MPH, Leiter des Instituts.