Vorlesen
Gesundheits- und Sozialpolitik

Mehr als eine Frage der Gerechtigkeit

22.07.2021 Seite 19
RAE Ausgabe 8/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 8/2021

Seite 19

„No one is safe, until everybody is safe“: Niemand ist sicher, bis alle sicher sind. Diesem Leitspruch folgt auch die internationale Impfallianz Gavi: Der gleichberechtigte Zugang zu Corona-Impfstoffen für alle Menschen sei nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, so Gavi. Er mache auch epidemiologisch Sinn. Nur so könnten die Ausbreitung des Virus eingedämmt und weitere Mutationen verhindert werden. Was nach einem guten Plan klingt, scheint jedoch in der Realität schwer umsetzbar. Denn auch wenn inzwischen weltweit mehr als jeder Fünfte gegen das Coronavirus geimpft ist, hat in den ärmeren Ländern nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung eine Impfdosis erhalten. 

von Jocelyne Naujoks

Ende Juni war bereits über die Hälfte der Menschen in Deutschland einmal gegen das Corona-Virus geimpft. Knapp ein Drittel hatte bereits die zweite Impfung erhalten. In Deutschland atmet man derzeit vorsichtig auf und hofft, dass die Pandemie langsam ihrem Ende entgegengeht. Auch Experten zeigen sich verhalten optimistisch. Anders sieht die Lage in anderen Teilen der Welt aus: Ende Juni hatten rund 4,5 Prozent der Menschen in Südafrika eine Impfdosis erhalten, in Indien waren es knapp 18 Prozent. In vielen afrikanischen Ländern wie Mali, dem Sudan oder Kenia waren noch weniger als zwei Prozent der Bevölkerung gegen das Coronavirus geimpft.
 
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)spricht von einer „two-track pandemic“, einer zweigleisigen Pandemie, und meint damit auf der einen Seite die Länder, die Zugang zu Impfstoffen haben, und auf der anderen Seite diejenigen, bei denen das nur eingeschränkt der Fall ist. Laut der Online-Datenbank „Our World in Data“ der Universität Oxford sind bis Ende Juni weltweit 2,84 Millarden Impfdosen verabreicht worden. Knapp 0,3 Prozent der Dosen gingen dabei an Länder mit geringem Einkommen. Länder mit hohem und höherem mittleren Einkommen erhielten im Vergleich etwa 85 Prozent der weltweit verfügbaren Impfdosen gegen das Coronavirus. Laut der Fachzeitschrift The Lancet beklagte UN-Generalsekretär António Guterres Anfang Juni, dass zehn Länder drei Viertel der weltweit verfügbaren Dosen verimpft haben.

Der Markt ist leer gekauft

Dabei war der Plan ein anderer. Über die Initiative Covax sollte Impfstoff weltweit gerecht verteilt und damit gleichermaßen reichen wie ärmeren Ländern zur Verfügung gestellt werden. Doch daraus wurde bis jetzt nichts. Einige reiche Länder wie die USA, Großbritannien oder die Europäische Union schlossen bilaterale Verträge mit den Impfstoffherstellern. „Sie haben sich den Großteil der Impfstoffe gesichert, den Markt quasi leergekauft, und damit blieb nur wenig bis gar nichts für die ärmeren Länder übrig“, sagt Elisabeth Massute, politische Referentin in der Medikamentenkampagne von „Ärzte ohne Grenzen“.
 
Ziel von Covax, das von der WHO, Unicef, der Impfallianz Gavi sowie der Impf-Initiative Cepi getragen wird, war es, bis Ende 2021 zwei Milliarden Dosen Impfstoff bereitzustellen. Bisher habe Covax nur 88 Millionen Dosen verteilt, sagt Massute. Dabei habe man ursprünglich bis Ende Juni rund 337 Millionen Dosen verteilen wollen. Ärzte ohne Grenzen fordert daher, den Patentschutz für Corona-Impfstoffe zeitweilig aufzuheben und einen schnellen Technologietransfer voranzutreiben: „Dabei geht es um den schnellen Aufbau von Produktionsketten und -abläufen, aber auch um die Schulung von Personal. Es geht um das Teilen von Technologien und Know-how, das nicht durch eine Patentaussetzung automatisch freigegeben wird“, so Massute. Reiche Länder wie Deutschland müssten außerdem kurzfristig Impfstoffkontingente über Covax für ärmere Länder zur Verfügung stellen. 
Während die Vereinigten Staaten mittlerweile einer Patentaussetzung zugestimmt haben, schlagen die Europäische Union und Deutschland freiwillige Lizenzverträge vor. Diese seien meist mit Mengenbeschränkungen und territorialen Verkaufsbeschränkungen durch die lizenzgebenden Unternehmen belegt, kritisiert Ärzte ohne Grenzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel verteidigte ihren Standpunkt zuletzt in ihrer Regierungserklärung vor dem EU-Gipfel Ende Juni. Man sei auch zukünftig auf die Entwicklung neuer Impfstoffe angewiesen. Dies gelinge nur, wenn der Schutz geistigen Eigentums gewahrt bleibe, so Merkel.
 
Arzneimittelexpertin Massute zeigt sich dennoch überzeugt, dass auch Deutschland letztendlich einer Aussetzung des Patentschutzes zustimmen werde. „Man kann sich nicht auf die falsche Seite der Geschichte stellen.“ Anfang Juni habe sich bereits das Europäische Parlament für eine Aussetzung der Patente ausgesprochen. Auch der französische Präsident Emanuel Macron habe dies befürwortet, so Massute. „Deutschland gerät mehr und mehr ins Abseits mit seiner Haltung.“

Das Virus kann weiter mutieren

Bis mehr Impfdosen auch in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen ankommen, werde sich die ungleiche Verteilung der Corona-Impfstoffe in der Welt nur verschärfen, sagt ein Sprecher der Impfallianz Gavi. Das seien nicht nur schlechte Nachrichten für die Länder, denen kein Impfstoff zur Verfügung steht, sondern auch für die Länder, die nicht schnell genug an Impfstoff kommen. Dennn es bedeute, dass das Virus auch weiterhin wüte und mutiere, so Gavi.
 
Covax brauche Hersteller, die liefern, und Länder, die ihre Versprechen halten, Impfstoff an ärmere Länder abzugeben, erklärt Gavi. Zuletzt hatten die G7-Staaten auf ihrem Gipfel Mitte Juni angekündigt, 870 Millionen Dosen Impfstoff an Covax zu liefern, die Hälfte davon bis Ende 2021. Die Vereinigten Staaten gaben Anfang Juni bekannt, 500 Millionen Impfdosen über Covax zu spenden.

Laut WHO verfolgt Covax das Ziel, bis Ende des Jahres eine Milliarde Dosen Corona-Impfstoff zu liefern. Doch schon für August drohen erneut nur begrenzte Lieferungen.

Zahlen zu Corona-Impfungen

Die aktuellen Zahlen zu Corona-Impfungen weltweit finden sich auf https://ourworldindata.org/covid-vaccinations.