Immer wieder versorgen Ärztinnen und Ärzte in Kliniken und Praxen Kinder, bei denen der Verdacht besteht, dass sie misshandelt wurden. Der Lockdown zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat die Lage vieler gefährdeter Kinder verschärft, weil Kontakte außerhalb der Familie entfallen. Für Ärztinnen und Ärzte bedeutet dies: genauer hinsehen und Hilfsstrukturen nutzen.
von Martina Levartz und Sabine Mewes
Es ist Montagmorgen. Eine Mutter kommt mit ihrer neunjährigen Tochter in die Praxis. Das Mädchen klagt seit einigen Wochen immer wieder über Bauchschmerzen. Zudem wirkt es sehr bedrückt. Bei der Untersuchung weigert sich das Mädchen, sich auszuziehen. Es kommt das Gefühl auf, dass hier ganz andere Gründe als eine organische Erkrankung zu den Bauchschmerzen führen.
Die meisten Fälle von Kindeswohlgefährdung werden zufällig entdeckt, sagt Dr. Monica Naujoks, niedergelassene Kinder- und Jugendärztin in Düsseldorf. „Die Patientinnen und Patienten werden in der Regel aus anderen Gründen bei uns vorgestellt.“ Gerade deshalb sei es wichtig, Ärztinnen und Ärzte für das Thema zu sensibilisieren. „Wir müssen aktiv hinschauen“, sagt Naujoks. Die Ärzte benötigten feine Antennen, um familiäre Spannungen sowie Nöte und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen. Aktiv nach „Kummer in der Familie“ oder besonderen Belastungen zu fragen, könne dabei oft Türen öffnen.
Im Team austauschen und Rat suchen
Haus- und Kinderärzte seien für viele Betroffene die ersten Ansprechpartner. Das zeige sich insbesondere während der Corona-Pandemie, in der Kindertagesstätten und Schulen für Monate geschlossen blieben und Jugendämter nur eingeschränkt arbeiten könnten. Der Lockdown zur Eindämmung der Pandemie erhöhe die Gefahr, dass Gewalt gegen Kinder zunehme und unentdeckt bleibe.
Experten raten Ärztinnen und Ärzten, bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung zunächst das Gespräch mit den Betroffenen zu suchen. In den meisten Fällen sei keine akute Intervention notwendig. Damit bleibe Zeit, sich im Team auszutauschen und sich gegebenenfalls professionelle Hilfe zu holen, zum Beispiel beim Kompetenzzentrum Kinderschutz im Gesundheitswesen NRW (KKG) oder im Rahmen einer anonymisierten Fallberatung bei der medizinischen Kinderschutzhotline (siehe Kasten). Auch im Kinderschutz erfahrene Fachkräfte böten anonymisierte Fallberatungen an, zum Beispiel über das Jugendamt oder bei einem freien Träger nach § 8b SGB VIII. Hilfreich sei es, wenn Praxisteams sich eine Übersicht mit regional wichtigen Telefonnummern anlegten, damit sie sich bei Bedarf rasch mit Mitarbeitern des Jugendamts oder der Kinderschutzambulanz in Verbindung setzen könnten (ein Vordruck findet sich zum Beispiel unter www.kkg-nrw.de).
Die Experten betonten zudem, dass es bei der Anamneseerhebung und im Gespräch mit Betroffenen nicht darum gehen sollte, „Täter zu überführen“. Vielmehr solle durch Fragen nach Belastungen und möglichen Ressourcen eine Bereitschaft der Betroffenen herbeigeführt werden, Hilfen anzunehmen. In der Sprechstunde fänden solche Gespräche oft unter großem Zeitdruck statt. Dennoch sei eine objektive Beurteilung der Situation notwendig. Dafür sei es wichtig, kurz innezuhalten, die eigene emotionale Betroffenheit wahrzunehmen und dann objektiv zu beurteilen, welche Anhaltspunkte man für eine Kindeswohlgefährdung sehe und mit welcher Dringlichkeit gehandelt werden müsse.
Gebe es klare Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung, müssten Verantwortlichkeiten geklärt werden. Wenn sich die Sorgeberechtigten kooperativ zeigten, könne zunächst auf regionale Hilfsmöglichkeiten und Beratungsstellen verwiesen werden. Voraussetzung sei, dass die Praxismitarbeiter den entsprechenden Überblick haben. Die Verantwortung für den Fall bleibe damit zunächst in der Praxis. Um die Wirksamkeit der Hilfen zu überprüfen, solle zeitnah ein Wiedervorstellungstermin vereinbart werden. Auch sollten alle Überlegungen und Entscheidungsgrundlagen in der Patientenakte dokumentiert werden. Das sei gerade in Gemeinschaftspraxen wichtig, wo möglicherweise verschiedene Ärzte betroffene Familien sehen. „Bei Fragen zu dem gesamten Themenkomplex stehen die Mitarbeiterinnen des Kompetenzzentrums Kinderschutz im Gesundheitswesen gerne als Gesprächspartner bereit“, sagt Professorin Dr. Sibylle Banaschak, Rechtsmedizinerin und Leiterin des KKG.
Einrichtung/ Institution | Homepage | Wichtige Tel.-Nr. oder E-Mails |
Kompetenzzentrum Kinderschutz im Gesundheitswesen NRW (KKG) | https://www.kkg-nrw.de/ | |
Medizinische Kinderschutzhotline | https://www.kinderschutzhotline.de | |
RISKID: Informationsaustausch zwischen Ärzten | https://www.riskid.de | info(at)riskid.de |
Kinderschutz-Zentren | https://www.kinderschutz-zentren.org/ zentren-vor-ort | |
Standortfinder des Kinderschutzbundes | https://www.kinderschutz-in-nrw.de/ standortfinder/ |
Bei fehlender Kooperation und dringlichem Handlungsbedarf rät das KKG, den Fall möglichst schriftlich an das zuständige Jugendamt zu melden (einen Meldevordruck gibt es zum Beispiel unter www.kkg-nrw.de). Die Sorgeberechtigten sollten möglichst vorher über den Schritt informiert werden und die Ärztin oder den Arzt von der Schweigepflicht entbinden. Dieses Vorgehen setze voraus, dass der Schutz des Kindes dadurch nicht gefährdet werde.
Eine weitere Möglichkeit einzugreifen sei die Einweisung in eine Kinderklinik, wobei sichergestellt werden müsse, dass das Kind dort auch sicher ankomme. Dieses Vorgehen sei zur weiteren Diagnostik bei Verletzungen ohne plausible Erklärung angezeigt.
Im Lockdown fehlen familienunabhängige Kontakte
Die Coronaschutzmaßnahmen bergen für gefährdete Kinder und Jugendliche zusätzliche Risiken, weil Kontakte außerhalb der Familie reduziert sind. Jugendliche können nach Ansicht der Kinderschutzexperten zumindest theoretisch über Online-Hilfsangebote erreicht werden, falls sie einen Internetzugang haben. Diese Möglichkeit entfalle bei jüngeren Kindern. Sie blieben im Extremfall ohne familienunabhängige Kontakte, die sonst in Schule und Tageseinrichtung stattfinden.
Für Ärztinnen und Ärzte bedeute das, gerade kleinere Kinder, wenn möglich, bei einer Vorstellung am ganzen Körper zu untersuchen. Auch an eine Untersuchung der „versteckten“ Körperstellen (hinter den Ohren, Mundschleimhaut) sei zu denken. Zudem sollten sie die Begleitpersonen in jedem Fall fragen, wie es der Familie derzeit geht und ob Probleme bestehen. Anknüpfungspunkt könne die coronabedingt schwierige Situation von Familien sein, die in den Medien immer wieder thematisiert werde.
Institut für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN)
Das Institut für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN) bietet Ärztinnen und Ärzten sowie Medizinischen Fachangestellten und anderen an der Thematik interessierten Gesundheitsberufen Fortbildungen zum Thema Kindeswohlgefährdung an. Künftig werden auch Informationsmaterialien oder Checklisten für den täglichen Gebrauch in der Praxis oder Klinik zur Verfügung stehen. Damit wolle man die Gesundheitsberufe für den Kinderschutz sensibilisieren und in ihrer Arbeit unterstützen, so das IQN.
„Kinderschutz ist eine interdisziplinäre Aufgabe“, betonte Professor Dr. Bernhard Hemming, Allgemeinmediziner in Duisburg und Studiengangsleiter Physician Assistant, M.Sc. an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. Kinderärzte sähen in ihren Praxen überwiegend die Opfer von Gewalt. Hausärzte betreuten dagegen häufig ganze Familien, also in manchen Fällen Täter und Opfer. Deshalb sei es wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte eng miteinander und mit anderen Gesundheitsfachberufen kooperierten. Nur so könnten Gefahren rechtzeitig erkannt und Ressourcen optimal genutzt werden. Damit könne man auch dem „Ärzte-Hopping“ entgegentreten, dem häufigen Wechsel des Arztes, den Täterinnen und Täter unternähmen, um ihre Taten zu verschleiern.
Eine Möglichkeit für den ärztlichen Informationsaustausch bietet das digitale Informationssystem RISKID (www.riskid.de), sagte der Kinder- und Jugendarzt Dr. Ralf Kownatzki, der Vorsitzender von RISKID ist. Es stehe bundesweit allen Ärzten kostenlos zur Verfügung. Hier können sich Ärzte, die gemeinsam ein gefährdetes Kind behandeln, konsiliarisch über Befunde und Diagnosen austauschen. Denn Kindesmissbrauch, Misshandlungen und Vernachlässigungen verliefen oft chronisch über einen längeren Zeitraum. Ziel von RISKID sei es, Misshandlungen sicherer und frühzeitiger zu erkennen und gleichzeitig Eltern vor falschem Verdacht zu schützen.
Auch die gemeinsame Selbstverwaltung ist in Sachen Kinderschutz aktiv. Im Sommer 2020 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) seine Qualitätsmanagement-Richtlinie um Vorgaben zu Schutzkonzepten für Kinder und Jugendliche in medizinischen Einrichtungen ergänzt. Die Schutzkonzepte sollen Teil des Qualitätsmanagements in Kliniken und Praxen werden. Ziel ist es dem G-BA zufolge, „Missbrauch und Gewalt insbesondere gegenüber Kindern und Jugendlichen oder hilfsbedürftigen Personen in medizinischen Einrichtungen vorzubeugen, zu erkennen, adäquat darauf zu reagieren und zu verhindern“. Wichtig ist auch dem G-BA die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten, Gesundheitsfachberufen und stationären Einrichtungen.
Dr. Martina Levartz, MPH, ist Geschäftsführerin des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein, IQN. Dr. Sabine Mewes ist ärztliche Referentin im IQN.
Veranstaltungshinweis
Das IQN lädt zu einer Fortbildungsreihe zum Thema „Gewalt gegen Kinder und Jugendliche erkennen und richtig handeln – Was muss der Arzt wissen?“ ein. Die erste der insgesamt vier Veranstaltungen findet am Freitag, 28. Mai 2021 um 15.00 Uhr statt, die zweite am Mittwoch, 09. Juni 2021 ab 15.30 Uhr. Das Programm und weitere Informationen auf www.iqn.de.