Die um sich greifende Verharmlosung der Coronapandemie ist gefährlich, eine beschleunigte Impfkampagne und konsequenter Infektionsschutz sind die Gebote der Stunde.
Wenige Wochen vor der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September bleibt die Coronapandemie das alles beherrschende gesundheitspolitische Thema. Die Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK) hat sich im August dafür ausgesprochen, dass der Deutsche Bundestag die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite über den 11. September hinaus verlängert. Es sei absehbar, dass eine Fortführung von Infektionsschutzmaßnahmen über diesen Termin hinaus notwendig ist, so die GMK.
Was manchem hierzulande angesichts der hochansteckenden Delta-Variante des Virus, die zurzeit 98 Prozent der Infektionen verursacht, selbstverständlich erscheinen mag, ist für andere ein rotes Tuch. Teile der veröffentlichten Meinung und manche Politiker propagieren für Deutschland inzwischen eine Coronapolitik ähnlich wie in Großbritannien, wo der Premierminister den 19. Juli trotz Delta zum „Freedom Day“ erklärte, an dem der Staat alle Anti-Corona-Vorschriften abschaffte.
Zum Beispiel warf die immer noch einflussreiche BILD dem Bundesgesundheitsminster „Panikmache“ vor, als dieser Mitte August von der „vierten Welle“ sprach. Auch beklagt das Blatt regelmäßig angebliche „Angstmacherei“ der Regierung, mit der diese ihre „Gängelei“ der Bevölkerung rechtfertige. Während die Fallzahlen in Deutschland schon seit Anfang Juli wieder steigen, schreibt die Boulevardzeitung die dadurch drohenden gesundheitlichen Gefahren gnadenlos klein: „Trotz der hohen Infektionszahlen liegen in Großbritannien nur 699 Menschen mit Corona in einem Intensivbett und müssen beatmet werden, in Deutschland sind es 192. Bei den Briten werden also nur rund 3,5-mal so viele Menschen beatmet. Auch die Zahl der Toten ist im Vergleich zu den vorigen Corona-Wellen sehr niedrig.“ Das klingt zynisch und ist nur ein Beispiel für eine Verharmlosungstendenz, die inzwischen um sich greift.
Fakt ist, dass die Sieben-Tages-Inzidenz bei Redaktionsschluss Mitte August auf 36,2 gestiegen war. Die vierte Welle hat begonnen, wie der Präsident des Robert Koch-Instituts bereits Ende Juli feststellte. Die Gefahr einer Explosion der Neuinfektionen gerade in den jüngeren Altersgruppen und damit auch einer großen Zahl schwerer Verläufe ist real. Eine Durchseuchung der ungeimpften Bevölkerung in Kauf zu nehmen, erscheint nicht zuletzt angesichts der Gefahren durch Long-Covid fahrlässig.
Gerade in diesem September, an dessen letztem Sonntag die Bundestagswahl stattfinden wird, dürfte den politisch Verantwortlichen sehr bewusst sein, dass ein erneuter Lockdown gesellschaftlich und wirtschaftlich kaum mehr zu verkraften wäre und daher keine Akzeptanz fände. Ungeachtet dessen sollte niemand der Versuchung erliegen, wie Boris Johnson beim Thema Corona mit dem Freiheitsmantra um Zustimmung in der Bevölkerung zu werben.
Noch ist der Anteil der vollständig geimpften Menschen einfach zu gering, um Delta in Schach halten zu können. Maßnahmen wie Abstand halten, Hygieneregeln beachten, Alltag mit Maske, Corona-Warn-App nutzen und Lüften bleiben auch in den kommenden Monaten ebenso unverzichtbare wie zumutbare Einschränkungen der Freiheit zur Infektionsvermeidung. Das A und O ist eine Beschleunigung der aktuell stockenden Impfkampagne. Darauf sollten sich jetzt alle Anstrengungen konzentrieren, damit die vierte Welle möglichst wenige Menschen die Gesundheit oder gar das Leben kostet.
Horst Schumacher, Chefredakteur