Die Corona-Pandemie bringt selbst die Gesundheits- und Wirtschaftssysteme der Industrienationen an ihre Grenzen. Wie aber erleben die Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern diese Krise? Viele dieser Länder hatten bereits vor dem Ausbruch von SARS-CoV-2 mit einer desolaten medizinischen Versorgung und einer schwachen Wirtschaft zu kämpfen.
von Vassiliki Latrovali
Als Dr. Peter Kaup, Hausarzt aus Oberhausen und Vorsitzender der dortigen Kreisstelle der Ärztekammer Nordrhein, mit der Hilfsorganisation I.S.A.R. Germany nach Armenien fliegt, befindet sich Deutschland in der Phase der ersten Lockerungen nach dem Lockdown. Die internationale Presse lobt den deutschen Weg, mit der Pandemie umzugehen. Das Gesundheitssystem gilt als vorbildlich. Im scharfen Kontrast dazu Armenien: Das kleine Land im gebirgigen Kaukasus, zwischen Europa und Asien gelegen, ist wenig entwickelt. Man setzt auf einfache Landwirtschaft, wie den Anbau von Weizen, Gerste und Früchten wie Feigen, Aprikosen und Granatäpfeln. Der Gesundheitssektor ist unterfinanziert und medizinische Ausrüstung kaum vorhanden. Sogenannte Medical Center und Krankenhäuser befinden sich nur in der Hauptstadt Jerewan.
„Zu Beginn schien die Corona-Lage überschaubar, dann wurde das Land allerdings schnell von der Zahl der Neuansteckungen überwältigt“, berichtet Kaup. Die Regierung richtete ein sogenanntes Triage-Center in Jerewan ein, dass nur für Patientinnen und Patienten bestimmt ist, die an COVID-19 erkrankt sind. „Man berichtete uns, dass anfangs alle fünf Minuten Menschen vor der Tür standen, die sich testen lassen wollten. Stationär aufgenommen wurde jeder, der ein positives Testergebnis hatte“, sagt der Allgemeinmediziner. Die Infektionszahlen ließen sich auch in Armenien unter anderem mit einer Maskenpflicht, die ab Verlassen des Hauses gilt, unter Kontrolle bringen. „Das wurde von der Bevölkerung sehr gut aufgenommen, da wurde gar nicht groß diskutiert, obwohl Temperaturen um die 30 Grad Celsius an der Tagesordnung sind“, so Kaup. Eine Erklärung für die große Zustimmung der Menschen zu den Corona-Maßnahmen und ihre Kooperationsbereitschaft sieht Kaup in der Größe des Staates und seiner Einwohnerzahl. „Armenien hat knapp 3 Millionen Einwohner. Hier kennt jeder jeden. Es gibt auch niemanden, der nicht irgendwie mit COVID-19 in Berührung gekommen ist, sei es in der Familie oder bei Freunden. Dieses familiäre System, zu dem oft auch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte gehören, bringt natürlich eine andere Herangehensweise mit sich. Man ist sich seiner Verantwortung bewusst.“
Unterstützung und Teamwork
Während der Pandemie versuchten die Kliniken, sowohl die Versorgung der Patienten als auch die der Ärzte und Pflegekräfte aufrechtzuerhalten. „Mittlerweile gibt es vier solcher Triage-Center in der Hauptstadt. Dafür wurde beispielweise ein altes Militär-Krankenhaus reaktiviert. Das medizinische Personal dort ist während der ersten Welle kaum nach Hause gegangen, hat im Krankenhaus gegessen und geschlafen“, sagt Kaup.
I.S.A.R. Germany kam auf Bitte des armenischen Gesundheitsministers Levon Altunyan nach Jerewan, um die Ärzte an einer Klinik zu unterstützen. „Unsere deutsche Expertise wurde unheimlich wertgeschätzt. Man war sich sicher, die Bundesrepublik hat den Kampf gegen COVID-19 gewonnen“, erklärt Kaup. Obwohl die Voraussetzungen in einem Schwellenland ganz andere seien als in Deutschland, habe man viel voneinander lernen können. „Der Enthusiasmus und der Einsatz des medizinischen Personals vor Ort sind bemerkenswert. Es gibt immer noch 24-Stunden-Schichten, die Kliniken sind außer in den OP-Sälen kaum mit Klimaanlagen ausgestattet. Man trägt die volle Montur an Schutzkleidung bei 35 Grad im Schatten“, erläutert Kaup. Für ihn war der Aufenthalt in Armenien auch eine Art des Innehaltens: „Solche Einsätze holen einen immer auf den Boden der Tatsachen zurück. Besonders in diesen Krisenzeiten ist das unheimlich wichtig. Man realisiert, bei allem was im Moment passiert, uns in Deutschland geht es wirklich gut.“
Zwischen Virus und Hunger
„Die Corona-Pandemie zeigt uns auf dramatische Weise, wie ungerecht die Welt ist“, findet auch Dr. Maximilian Gertler, Tropenmediziner und Epidemiologe an der Charité in Berlin, der mehrfach für „Ärzte ohne Grenzen“ gegen Epidemien im Einsatz war. Selbst Quarantäne sei ein absolutes Privileg. Menschen, die in prekären Umständen auf engstem Raum zusammenlebten, hätten bei einem Ausbruch kaum eine Chance, dem Virus zu entkommen, da Quarantäne für sie bedeutet, kein Geld für das Nötigste zu verdienen. Gleichzeitig sei für viele Regierungen, besonders auf dem afrikanischen Kontinent, ein strikter Lockdown eine der wenigen effektiven und möglichen Maßnahmen.
„Die Menschen in den Entwicklungsländern können kaum auf staatliche Hilfen hoffen. Die Krise wirft das humanitäre Engagement in vielen Staaten um Jahrzehnte zurück“, sagt der Ärztliche Leiter der COVID-19-Untersuchungsstelle an der Charité. Kollegen und Freunde von „Ärzte ohne Grenzen“ berichteten aus dem Ost-Kongo, was Helfer während der Ebola-Epidemie in Westafrika bereits gesehen hätten: Viele Menschen trauten sich nicht, zum Arzt zu gehen, da die Angst vor einer Coronainfektion sehr hoch sei. „Wer sich infiziert, darf nicht arbeiten, wer nicht arbeitet, kann seine Familie nicht ernähren. Aber auch andere tödliche Krankheiten wie Tuberkulose oder Malaria werden nun kaum behandelt. Viele Menschen in den Entwicklungsländern werden nicht an COVID-19 versterben, sondern an den Kollateralschäden“, vermutet Gertler. Was man in diesen Ländern aktuell dringend brauche, seien einfach anwendbare und kostengünstige Corona-Schnelltests, medizinisches Knowhow und Schutzmaterial.
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