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„Gesundheitswesen hat sich sehr krisenfest gezeigt“

19.06.2020 Seite 14
RAE Ausgabe 7/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2020

Seite 14

Welche berufliche Erfahrung aus der Coronakrise erscheint Ihnen persönlich besonders wichtig, sodass Sie diese mit ihren Kolleginnen und Kollegen teilen möchten? Diese Frage stellte das Rheinische Ärzteblatt Mitgliedern des Redaktionsausschusses, der die redaktionelle Arbeit ärztlicherseits begleitet.

Die schulische Ausbildung der Medizinischen Fachangestellten hatte im März ein abruptes Ende. Obwohl das Berufskolleg in Essen es umgehend ermöglichte, klassenweise mit den Schülerinnen und Schülern in Mailkontakt zu treten, gelang es nur ansatzweise, den Unterricht auf diesem Wege fortzuführen. Es zeigte sich, dass die Schulen weder technisch noch mental auf einen digitalen Unterricht eingestellt sind. Die meisten Auszubildenden mussten während der unterrichtsfreien Zeit in den Praxen arbeiten, sodass sie nur in den Abendstunden lernen konnten.
Obwohl die Abschlussprüfung in den Mai verschoben wurde, war eine Prüfungsvorbereitung im Präsenzunterricht nur sehr eingeschränkt möglich. Den Abiturprüfungen wurde in den Medien eine übergroße Aufmerksamkeit zuteil, während die erschwerten Prüfungsbedingungen bei den Auszubildenden kaum Erwähnung fanden. 
 

Über Ostern hatte ich Rufbereitschaft, und ich erwartete irgendwie einen Tsunami an Corona-Erkrankten, der glücklicherweise ausblieb. Tatsächlich war es einer der ruhigsten Wochenenddienste, die ich je hatte. Mittlerweile ist in vielen Belangen Routine eingekehrt, und wie unser Team die Unbill dieser Zeit am Ende meistert, nötigt mir schon Respekt ab. Man mag zu den Coronamaßnahmen politisch stehen, wie man möchte, manches mag retrospektiv übertrieben sein, aber vergleichen wir unsere Situation mit der in anderen Gesundheitssystemen, so kann nicht alles schlecht sein, was wir gemacht haben. Das Einhalten des Abstands oder der Verzicht aufs Händeschütteln sind immer noch ungewohnt, aber wahrscheinlich gerade in meinem Fachbereich nicht unsinnig. 
Persönlich habe ich zumindest vorübergehend das Streichen vieler Termine abseits der Klinik und der Praxis als sehr wohltuend empfunden. 
 

Am meisten über Covid-19 habe ich gelernt durch die Kolleginnen und Kollegen vor Ort, die selbstdarstellerischen Virologen und der Tierarzt des RKI haben eher genervt. Persönlich hat Covid-19 dazu geführt, dass unsere älteste Tochter ohne Familie mit Nottermin nur mit Standesbeamtin in Berlin heiraten konnte, das hat mich erinnert an die Nottrauung meines verstorbenen Vaters in Kriegszeiten. Eine geschätzte Kollegin, mit der ich drei Jahrzehnte im Literarischen Arbeitskreis Dorsten zusammengewirkt habe und die noch bis Dezember 2019 ihre Praxis betrieben hat, ist an Covid-19 verstorben. Diese beiden Ereignisse haben mich mehr getroffen als alle Restriktionen.

Berührt haben mich besonders die psychosozialen Folgen. Ich erkenne, wie sehr meine Patienten durch  körperliche, psychische und finanzielle Existenzängste belastet sind. Die Menschen werden gezwungen, sich mit den wesentlichen Dingen in ihrem Leben ohne Ablenkung und ohne Entrinnen auseinanderzusetzen. Sie sind auf sich selbst und ihre engsten Beziehungen zurückgeworfen. Das erfordert Wahrhaftigkeit und Toleranz und lässt die Tragfähigkeit der Beziehungen erkennen. Viele erleben den Schmerz und die Gefahr einer erzwungenen Einsamkeit (z.B. Altenheimbewohner, Alleinlebende, Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern). Wer die körperlichen Berührungen vermissen muss, erkennt, welche wesentliche Bedeutung sie für uns haben und dass sie durch nichts ersetzbar sind. 
Positiv erscheint mir, dass die „erzwungene Entschleunigung“ von vielen als wohltuend erlebt wird und dass viele sich wünschen, dies in die Post-Corona-Zeit zu übernehmen.
 

Der Schneeball hieß Corona und flog − ausgestattet mit zahlreichen Spikes aus Angst und Verunsicherung  − über die neue Seidenstraße direkt mitten in das friedlich schlummernde Europa und eroberte von dort das karnevalistische Herz am Westzipfel Deutschlands. Hier angekommen, entwickelte sich eine gewaltige Lawine, die in vielen Regionen, sogar dicht vor unserer Haustür (Heinsberg/Gangelt) nicht nur Kranke, Schwerkranke und Opfer hinterließ, sondern auch dafür sorgte, dass  Angst  und existentielle Bedrohung  exponentiell zunahmen. In den Kliniken wurden Ambulanzen geschlossen, Personalressourcen gebündelt  und in kürzester Zeit Kapazitäten mit Intensivbetten für Infizierte  geschaffen. In den Praxen, insbesondere bei den Fachärzten, blieben die Patienten aus Angst vor Ansteckung zu Hause, von einem auf den anderen Tag waren Termine beim Orthopäden, Radiologen oder Kardiologen frei. Freuen konnte sich darüber niemand richtig, schwebte doch über allem die allgemeine Ungewissheit der nächsten Tage und Wochen. Sorgen wegen Kurzarbeit und Honorarverlusten wechselten sich ab mit der Angst vor einer Infektionskette innerhalb der eigenen Mitarbeiterinnen. 
Während sich die Zahl der Infizierten stetig erhöhte, arbeiteten im Hintergrund kommunale Krisenstäbe im Schulterschluss mit ÖGD, KV und Kammer daran, Abstrichzentren aufzubauen, die Verteilung von Schutzkleidung zu organisieren oder freiwillige Helfer zu koordinieren. Das alles lief nicht ganz reibungslos, am Ende aber siegte die Vernunft und die Kompetenzen waren zur Zufriedenheit aller justiert. Die Verunsicherung wich langsam den sichtbaren Ergebnissen  eines konstruktiven Pragmatismus. Ein großer Erfolg war, dass die Landesregierung NRW nach massiven Protesten auf eine Zwangsrekrutierung von Ärztinnen und Ärzten verzichtete und die Ärzteschaft ihr freiwilliges Engagement eindrucksvoll unter Beweis stellen konnte: allein in Aachen Stadt und Land ließen sich über 50 Kolleginnen und Kollegen in die Listen eintragen. Mein persönliches Fazit: unser immer wieder kritisiertes Gesundheitswesen hat sich als sehr krisenfest gezeigt, das Engagement von Pflegekräften, freiwilligen Helfern und der gesamten Ärzteschaft war und bleibt beeindruckend. Die Kommunikation zwischen öffentlichem Gesundheitsdienst, Kliniken und Vertragsärzteschaft sollte institutionalisiert und verstetigt werden, um bei künftigen Krisen reibungsloser agieren zu können. 

Vor der Krise: 
Vorbereitung der Gefahrenabwehr und Notfallvorsorge 
Um eine effektive Notfallvorsorge und Gefahrenabwehr vorzubereiten, braucht unser öffentlicher Gesundheitsdienst gut abgestimmte Strukturen und vor allem ausreichend gut ausgebildetes und vorbereitetes Fachpersonal. 
In der Krise: 
Kommunikation – Offenheit – Verständnis – Geduld   
Die offene Kommunikation mit allen in dieser Situation der gesundheitlichen Krise beteiligten Personen und Institutionen ist eine der Grundlagen zur Bewältigung der gegenwärtigen Anforderungen. Hierzu gehört auch das Verständnis für die verschiedenen Spezialkenntnisse der Akteure in der Krise und die Geduld,  dass jeder offen seine Meinung darstellen kann − mit dem Ziel, das Beste für die Gesunderhaltung der Bevölkerung zu erkennen und umzusetzen. 
Nach der Krise: 
Stärken – Schwächen – Perspektiven 
Insbesondere ist wichtig, dass nach der Krise die Stärken und Schwächen des stattgefundenen Vorgehens offen und vorurteilsfrei mit den Beteiligten analysiert und optimierte Abläufe für die nächste schwierige kritische Situation erarbeitet werden. Und was auf jeden Fall zu verbessern ist: nicht nur auf das Gehalt kommt es an, sondern auch auf strukturierte Weiterbildung, Attraktivität des Arbeitsplatzes zum Beispiel durch Rotation innerhalb der verschiedenen Arbeitsbereiche eines Amtes oder auch den Austausch beziehungsweise Praktika im Verbund mit anderen Ämtern (best practice) − und vieles mehr, was einen Arbeitsplatz im Öffentlichen Gesundheitsdienst – auch für neue Kollegen - attraktiv werden lässt: Lohnenswerte Perspektiven für die Ärzte und Ärztinnen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes schaffen!
 

Das Gesundheitswesen in Deutschland und die dort Tätigen haben in bemerkenswerter Weise mit Beginn der Pandemie-Zeit ihre Effizienz unter Beweis gestellt. Es hat seinen Ruf untermauert, eines der leistungsfähigsten Systeme weltweit zu sein. 
Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet. Es zeigt sich, dass flexibles Reagieren auf neue Herausforderungen die Stärke einer Selbstverwaltung und -organisation sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich ist. Wobei es erkennbar hilfreich war, dass sinnvolle Maßnahmen nicht von starren Budgetgrenzen eingebremst wurden. 
Die maßvollen und richtungweisenden Beschlüsse der deutschen Ärzteschaft zur Telemedizin in vergangenen Jahren haben auch geholfen, Belastungsspitzen meistern zu können. Theoretiker und branchenfremde Berater waren indes wenig hilfreich. Viele Blütenträume der IT-Industrie sind zerstoben. Es zeigt sich wieder einmal deutlich: Menschen und nicht Algorithmen sind es, die Menschen betreuen, behandeln und letztlich auch heilen können.
 

Die Corona-Krise hat mich einmal mehr die große Verantwortung spüren lassen, die wir in unserem Beruf tragen − medizinisch wie auch gesellschaftlich. Nach meiner zweiwöchigen Quarantäne zu Beginn des Lockdowns fand ich eine andere Welt vor. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich noch mehr als sonst meine eigenen Sorgen und Bedenken ablegen musste, um im Beruf alles geben zu können. Des Weiteren war die Balance zwischen „mit gutem Beispiel voran“ und „keine unnötige Panik schüren“ bisweilen schwierig zu finden. Die Informationsflut sinnvoll zu filtern und valide an verunsicherte Freunde und Angehörige weiterzugeben empfand ich trotz (oder gerade wegen?) meiner Ausbildung als teilweise sehr herausfordernd.
Insgesamt bin ich jedoch überaus dankbar, dass ich mich kraft meines Berufes in der Krise sinnvoll einbringen konnte.