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Kinderschutz braucht nicht nur Kinderärzte

22.08.2019 Seite 21
RAE Ausgabe 9/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2019

Seite 21

Anfang dieses Jahres wurde die neue Kinderschutzleitlinie veröffentlicht. Eine Zielsetzung ist die Sensibilisierung von Erwachsenenmedizinern für den Unterstützungsbedarf von Eltern, um so Vernachlässigung von und Gewalt an Kindern und Jugendlichen vorzubeugen.

von Frauke Schwier 

Die neue Kinderschutzleitlinie beinhaltet als S3-Leitlinie der Akademie der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) Handlungsempfehlungen der höchsten Evidenzstufe, die anhand einer strukturierten Konsensusfindung durch ein repräsentatives Gremium verabschiedet wurden. Die Leitlinie bietet sowohl detaillierte diagnostische Schritte für die Abklärung einer Misshandlung, Vernachlässigung oder eines sexuellen Missbrauches als auch Hinweise, in welchen Situationen Ärzte auf eine Gefährdung von Kindern und Jugendlichen aufmerksam werden können.
Anhand von Studien aus den Niederlanden konnte gezeigt werden, dass eine mögliche Erkennung einer Kindeswohlgefährdung über die Wahrnehmung von Belastungen der Eltern gelingen kann. So ergaben Untersuchungen zu Screeningverfahren in Notaufnahmen einen deutlich höheren positiven Vorhersagewert für das Erkennen einer Kindeswohlgefährdung über die Gruppe der Eltern als über die Kinder und Jugendlichen selbst, wenn sich diese akut in einer Notaufnahme vorstellen (siehe Abb.1).


So empfiehlt die Leitlinie, dass bei Erwachsenen, die aufgrund eines Suizidversuches, einer akuten psychischen Belastung oder häuslicher Gewalt in der Notaufnahme vorstellig werden, geklärt werden soll, ob sie verantwortlich für Minderjährige sind. Wenn dies der Fall ist, soll diesen Eltern ein Gespräch mit dem Sozialdienst angeboten werden, um einen möglichen Hilfebedarf zu klären und Unterstützung anzubieten.
Aktuelle Zahlen zeigen, dass 3,8 Millionen Kinder in Deutschland mit einem psychisch erkrankten Elternteil aufwachsen. Das ist etwa jedes sechste Kind. Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen der Eltern. Das Auftreten einer Kindeswohlgefährdung ist keine zwangsläufige Folge, jedoch treten Risikofaktoren für Vernachlässigung und Misshandlung häufiger auf. Zu diesen Faktoren gehören unter anderen Armut, elterliche Überforderung, Konflikte und Stress sowie frühe oder ungewollte Schwangerschaft. Die Gruppe der Säuglinge und Kleinkinder ist dabei besonders vulnerabel, da sie in ihrer Versorgung in völliger Abhängigkeit ihrer Eltern leben. Bei älteren Kindern kommt es häufig zu einer Rollenumkehr, da sie früh Verantwortung übernehmen, wenn es zu Überforderungen kommt und Eltern ihren Versorgungsauftrag nicht erfüllen können. Das Risiko betroffener Kinder, im späteren Leben eine psychische Erkrankung zu entwickeln, ist um ein Drei- bis Vierfaches erhöht. 

Wie können Ärzte konkret mit der Thematik umgehen? Folgende Punkte können Orientierung geben.
1. Aufmerksam werden: Hausärzte, Psychiater, Psychotherapeuten und Gynäkologen sind oft als erste mit psychisch kranken Eltern und Schwangeren in Kontakt. Hier besteht die Chance, Eltern möglichst früh zu erreichen und ihnen und ihren Kindern individuelle Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen anzubieten. 
2. Ansprechen & Enttabuisieren: Der offene Umgang mit familiären Belastungen kann erst zu einer Erkennung des Hilfebedarfes und Annahme von Unterstützung führen. Außerdem ist eine Enttabuisierung vor allem entscheidend für Kinder im Umgang mit den Belastungen wie psychischen Erkrankungen. Durch Aufklärungsarbeit und Wissen wird Schuldgefühlen, Sprachlosigkeit und Ängsten bei Kindern vorgebeugt. 
3. Bedürfnisse des Kindes klären und Situation erörtern: Im Sinne des Kinderschutzes ist die Frage, inwieweit die Voraussetzungen gegeben sind, dass die Bedürfnisse des Kindes erfüllt werden oder ob es Änderungen oder Unterstützung bedarf, die zur Erfüllung dieser Bedürfnisse führen und so das Kindeswohl sicherstellen könnten. Dabei sollen die Lebensumstände des Kindes und die elterlichen Kompetenzen berücksichtigt werden und die Situation mit den Eltern und Kindern erörtert werden. Alle Einschätzungen dazu, also auch die der behandelnden Ärzte, sollen dazu beitragen, eine interprofessionelle Beurteilung einer möglichen Kindeswohlgefährdung vorzunehmen. Die abschließende Einschätzung, ob das Kindeswohl gefährdet ist, obliegt dem Jugendamt. Die Prüfung, ob eine Einschränkung des Sorgerechts erfolgen muss, liegt hingegen beim Familiengericht.
4. Hilfe anbieten und vermitteln: Grundvoraussetzung zur Versorgung der betroffenen Familien ist ein gut abgestimmtes Handeln aller Akteure aus dem Gesundheitswesen, der Kinder- und Jugendhilfe und den Familien selbst sowie anderen involvierten Hilfesystemen wie der Suchthilfe. 

Frauke Schwier arbeitete bis 2017 als Kinderchirurgin an der Universitätsklinik Dresden und seit 2017 an der Unikinderklinik Bonn. Sie ist Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM e.V.). schwier@dgkim.de