Vorlesen
Praxis - Arzt und Recht - Folge 114

Recht der Angehörigen auf Einsichtnahme in die Patientenakten eines Verstorbenen

20.11.2019 Seite 20
RAE Ausgabe 12/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 12/2019

Seite 20

Angehörige haben nicht das Recht, gegen den erklärten oder mutmaßlichen Willen des Verstorbenen Einsicht in die Behandlungsunterlagen zu nehmen – auch nicht aufgrund einer Vorsorgevollmacht, wie jüngst das OLG Karlsruhe urteilte (Urt. v. 14.08.2019 – 7 U 238/18).

von Dirk Schulenburg und Katharina Eibl

Geklagt hatte die Mutter einer verstorbenen Patientin auf Einsicht in die psychotherapeutische Patientenakte. Das LG Karlsruhe wies die Klage ab. Dem schloss sich das OLG Karlsruhe an. Nach Angaben des Arztes hatte die Patientin einer solchen Einsichtnahme zu Lebzeiten widersprochen. Andererseits hatten sich 2009 die Patientin und ihre Mutter gegenseitig in ihren Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen als Bevollmächtigte benannt. Zukünftig behandelnde Ärzte wurden von der Schweigepflicht entbunden und der jeweiligen Bevollmächtigten wurde das Recht eingeräumt, die Krankenunterlagen der anderen einzusehen. Die Vollmacht sollte auch über den Tod hinauswirken.

Die Patientin begann im Jahr 2016 eine psychotherapeutische Behandlung, in deren Verlauf sie den Kontakt zu ihrer Mutter verringerte und schließlich Suizid beging. Nach dem Tod der Tochter ersuchte die Mutter um Einsicht in die Patientenakte. Dieses Ersuchen lehnte der behandelnde Arzt mit der Begründung ab, die Patientin habe klar zu erkennen gegeben, dass Informationen, die das Verhältnis zu ihrer Familie, insbesondere zu ihrer Mutter betreffen, nicht weitergegeben werden sollten.

Einsichtsrecht des Patienten

Das Einsichtsrecht des Patienten in seine Krankenunterlagen ist hinlänglich bekannt. Es ergibt sich aus dem verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht des Patienten und ist sowohl in der Berufsordnung (§ 10 der Berufsordnung der nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte) als auch im Patientenrechtegesetz (§ 630 g BGB) ausformuliert.

Recht der Erben und Angehörigen und Wille des Patienten

Verstirbt ein Patient, können dessen Erben und nächste Angehörige Einsicht in die Patientenakte verlangen (§ 630 g Abs. 3 BGB). Dieses Einsichtsrecht kann aber mit der ärztlichen Schweigepflicht kollidieren, die über den Tod des Patienten hinaus Wirkung entfaltet (§ 203 Abs. 5 StGB). Ein Recht zur Einsichtnahme ist daher ausgeschlossen, soweit der ausdrückliche oder mutmaßliche Wille des Patienten entgegensteht (§ 630 g Abs. 3 S. 3 BGB).

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) obliegt dem behandelnden Arzt die Prüfung des Patientenwillens. Ihm steht dabei ein Ermessen zu, das nur begrenzt gerichtlich überprüfbar ist. Der Arzt muss allerdings gegebenenfalls darlegen, unter welchen allgemeinen Gesichtspunkten er sich durch die Schweigepflicht an der Offenlegung der Unterlagen gehindert sieht. Er muss nachvollziehbar vortragen, dass sich seine Weigerung auf konkrete oder mutmaßliche Belange des Verstorbenen und nicht auf sachfremde Gesichtspunkte stützt (BGH, Urteil vom 26.02.2013, Az. VI ZR 359/11).

In dem vom OLG Karlsruhe entschiedenen Fall trug der Arzt vor, der Patientin sei es darauf angekommen, dass die Mutter nicht erfahren sollte, was sie in den therapeutischen Gesprächen über die Familie geäußert habe. Es sei, so das Gericht, naheliegend, dass die Patientin intime Details nur preisgegeben habe in der Erwartung, dass Dritte davon nichts erfahren würden.

Vorrang des Patientenwillens gegenüber Vorsorgevollmacht

Dies gilt hiernach auch dann, wenn der Verstorbene, wie hier dem Angehörigen in der Vergangenheit, in einer Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung ein Recht auf Einsichtnahme eingeräumt hat.

Ein der Einsichtnahme entgegenstehender ausdrücklicher oder mutmaßlicher Patientenwille werde nicht durch eine anderslautende Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung überlagert. Der ausdrückliche Wille der Patientin stünde im vorliegenden Fall dem Akteneinsichtsrecht entgegen.

Das Einsichtsrecht aus der Vorsorgevollmacht stünde, wie auch bei anderen Regelungen in Vorsorgevollmachten, unter dem Vorbehalt, dass die Regelungen noch mit der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation zu vereinbaren sind (§ 1901a Abs. 1 S. 1, Abs. 5 BGB). Aus diesem Grund könne der zeitlich deutlich nach Erstellung der Vollmacht und der Patientenverfügung erklärte Wille, keine Gesprächsinhalte bezüglich der familiären Beziehung bekanntzugeben, nicht von der Vollmacht umfasst sein. Auch könne aufgrund einer Vollmacht nur das verlangt werden, was im Rahmen des Behandlungsvertrages zulässig sei. Bei widersprechenden Erklärungen ginge der eigene Wille des Patienten vor.

Ausschluss des Einsichtsrechts

Die Patientin hatte klar zu erkennen gegeben, dass die Mutter keine Kenntnis von Inhalten erlangen sollte, die das Verhältnis zur Klägerin betrafen. Wegen anderer Inhalte hatte der Arzt die Einsichtnahme auch nicht verweigert. In der Praxis wird der Arzt also prüfen müssen, ob er, wenn er nur Teile der Dokumentation zurückhält, seiner Schweigepflicht gegenüber den Patienten Genüge tut. Wenn dies so ist, wird er die übrige Dokumentation den Erben zur  Verfügung stellen müssen.

Dies entspricht der Situation, wenn der Einsichtnahme durch den Patienten selbst therapeutische Gründe, Rechte Dritter oder Rechte des Arztes entgegenstehen. Auch in solchen Fällen kann der Arzt die Einsichtnahme nicht generell verweigern, sondern nur die relevanten Teile der Dokumentation streichen und muss dies begründen.

Dr. iur. Dirk Schulenburg, MBA, MHMM, ist Justiziar der Ärztekammer Nordrhein, Katharina Eibl, Fachanwältin für Medizinrecht, ist Referentin der Rechtsabteilung.