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Zertifizierte Kasuistik "Rapide Visusverschlechterung und Kopfschmerzen"

Weiterführende Informationen und Differentialdiagnostik zur Zertifizierten Kasuistik "Rapide Visusverschlechterung und Kopfschmerzen "

 

von Michael Valet

Inhaltsübersicht

Einführung

Definition und Epidemiologie

Klinisches Bild

Diagnostik

Therapie

Epikrise unseres Patienten

Literatur


Einführung

Bei der Erkrankung in der vorliegenden Kasuistik handelt es sich um eine Riesenzellarteriitis (RZA) der A. temporalis. Die Arteriitis temporalis wird auch als M. Horton bezeichnet. Gemäß der ACR-Kriterien (American College of Rheumatology) für das Vorliegen einer RZA erfüllt der Patient 3 der 5 Kriterien (Alter >50 Jahre, BSG > 50 mm/1. Stunde, fronto-temporal betonte neuartige Kopfschmerzen). Zum Ausschluss einer anderweitigen Ursache wurden weitere differentialdiagnostische Untersuchungen durchgeführt.

Bei Sturz auf den Hinterkopf konnte mittels CCT ein Subduralhämatom, eine zerebrale Ischämie im posterioren Stromgebiet beidseits, mittls KM-Gabe entzündliche intra- und extraorbitale Veränderungen sowie ein größerer hypophysärer Tumor ausgeschlossen werden (siehe Abbildungen 1).

cCT nativ

cCT-Nativ

CT-Antiographie

CT-Angiographie

Cct mit KM

cCt mit KM

Quelle: Professor Dr. Malte Ludwig, Benedictus Krankenhaus

Ebenfalls ergab weder die CT-Angiographie (CTA) noch die Farbduplex-Sonographie der extrakraniellen Gefäße einen Befall der großen Gefäße (Aortenbogen opB), eine Gefäßwanddissektion oder eine höhergradige Stenose der Art. carotis interna. Mittels intrakranieller CTA mit venöser Phase wurde eine Sinusvenen- und Sinus cavernosus Thrombose mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen.

Ein erhöhter Liquordruck und damit eine intrakranielle Hypertension alias Pseudotumor cerebri konnte mittels lumbaler Liquorpunktion ausgeschlossen werden (Norm: bis 25 cm H20 in Seitenlage bei adipösen Patienten). Es fanden sich keine Hinweise auf eine infektiöse oder entzündliche Veränderung des Liquors.

Bei vorbekannter Augeninnendruck-Erhöhung ergaben weder die klinische Prüfung (Druck auf die Augenbulbi nicht schmerzhaft, keine Spontanschmerzen im Bereich der Augen) noch die augenärztliche Untersuchung Hinweise auf einen Glaukomanfall.

Mit der farbduplexsonographischen Untersuchung der Arteria temporalis beidseits (Abbildung 2) konnten typische homogene echoarme Arterienwandverdickungen der Art. temporalis beidseits im Längs- und Querschnitt objektiviert werden. In der Abb. 1 ist das rote Farbecho im Lumen dieser Arterie zu erkennen, das von einem typischen breiten echoarmen entzündlichen Wandsaum (Halo) umgeben ist.

 

Abbildung 2

Farbduplexsonographische Untersuchung der A. temporalis rechts

Farbduplexsonographische Untersuchung der A. temporalis rechts

Quelle: Professor Dr. Malte Ludwig, Benedictus Krankenhaus

Diese sonographischen Kriterien sind beweisend für eine Riesenzellarteriitis der Arteria temporalis und haben eine sehr hohe diagnostische Sensitivität. Voraussetzung ist die Verwendung einer 10-MHZ-Sonde.

Mit der Bestimmung der Vaskulitisparameter (RF, ANA, anti-ds-DNA, p/cANCA), die allesamt unauffällig waren, konnte das Vorliegen einer anderweitigen Vaskulitis weitgehend ausgeschlossen werden.

In der Zusammenschau mit den eingangs erwähnten Laborparametern, der klinischen Symptomatik und der Untersuchungsbefunde sind die diagnostischen Kriterien einer Arteriitis temporalis erfüllt.

Definition und Epidemiologie

Die RZA ist die häufigste primär systemische Vaskulitis. Gemäß der revidierten Nomenklatur für Vaskulitiden der Chapel Hill Konsensus Konferenz von 2012 ist sie als Großgefäßvaskulitis definiert. Früher wurde die Erkrankung „Arteriitis temporalis“ genannt. Der Begriff wurde jedoch aufgegeben, da nicht alle Patienten mit Riesenzellarteriitis eine Mitbeteiligung der Art. temporalis aufwiesen. Auch andere Erkrankungen wie die granulomatöse Polyangiitis (Wegnersche Granulomatose) können zu Veränderungen der Art. temporalis führen und eine RZA vortäuschen, so dass eine sorgfältige Differentialdiagnostik notwendig ist.

Die RZA betrifft überwiegend ältere Menschen und nimmt mit höherem Lebensalter zu. Der Erkrankungsgipfel liegt bei 70 Jahren. Die Inzidenz dieser Erkrankung wird mit 3,5 auf 100.000 Einwohner pro Jahr bei über 50 Jährigen angegeben. Frauen sind 2- bis 6-mal häufiger als Männer betroffen, ebenso wird eine familiäre Häufung beschrieben[2].

Bei der RZA handelt es sich um ein autoimmmunologisches T-Zell-abhängiges Geschehen bei genetisch prädisponierten Menschen. Eine Assoziation mit HLA-DR4, einem immungenetischen Risikofaktor wurde beschrieben.

Als Auslöser werden einerseits infektiöse Erreger, z.B. Viren aus der Herpesgruppe, Mycoplasmen, Parvoviren, Chlamydien, andererseits Umweltfaktoren mit nachweislich höheren Inzidenzen in Ballungsräumen diskutiert[3].

Histologisch zeigen sich ein granulomatöser Befall der mittelgroßen und großen Arterien mit Riesenzellen, Makrophagen und Lymphozyten, sowie eine Stenosierung des Lumens durch Epithelproliferation der Intima. Die Erkrankung manifestiert sich im Bereich der Art. carotis externa Äste (A. temporalis, gelegentlich A. occipitalis). In 30 Prozent der Fälle sind die A. ophthalmica und deren okulären Äste die Aa. ciliares betroffen, bei 15 – 30 Prozent große Gefäße wie der Aortenbogen und deren Äste. Sehr selten sind intrakranielle Gefäße, Koronararterien oder Gefäße anderer Organsysteme betroffen[4]. Im vorliegenden Fall waren ausschließlich die Aa. temporales beidseits betroffen.

Klinisches Bild

Das Leitsymptom der Riesenzellarteriitis bei Patienten jenseits des 50. Lebensjahres sind in der Mehrzahl der Fälle neu aufgetretene fronto-temporal betonte Kopfschmerzen stärkerer Intensität.

In 30 Prozent der Fälle besteht auch eine Kauclaudicatio, die gezielt beim Patienten erfragt werden muss. Typischerweise kommt es beim Kauen häufig zu einer Zunahme der Schmerzen im Bereich der Kaumuskulatur/ Schläfe, so dass beim Essen Pausen eingelegt werden müssen.

Eine Überempfindlichkeit der Kopfhaut sowie eine Druckdolenz oder Pulslosigkeit der Arteria temporalis kann ebenfalls auftreten. Gelegentlich wird auch eine B-Symptomatik beobachtet mit subfebrilen Temperaturen, Abgeschlagenheit, allgemeines Krankheitsgefühl, Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme.

Als schwerwiegende Komplikation dieser Erkrankung gilt die meist irreversible Erblindung, die durch den Befall der Ciliararterien zu einer anterioren ischämischen Optikusneuropathie (AION) führen kann.

Eine Assoziation der RZA mit der Polymyalgia rheumatica wurde in 30 - 70 Prozent der Fälle beschrieben. Die Polymyalgia rheumatica geht ähnlich wie die RZA mit einer Erhöhung der Entzündungsparameter einher und ist durch anhaltende Schmerzen im Bereich der Nacken-, Schulter- und Beckenmuskulatur gekennzeichnet. Gelegentlich wird eine Morgensteifigkeit beschrieben.

Neurologische Komplikationen können in seltenen Fällen in Form von zerebralen Ischämien durch den Befall intrakranieller Gefäße oder in Form peripherer Nervenlähmungen (Mononeuritis multiplex) auftreten.

Diagnostik

ACR-Kriterien für die Diagnose der RZA[4]

  • Alter > 50 Jahre
  • neuartige oder neu aufgetretene Kopfschmerzen
  • abnorme Temporalarterien (Druckdolenz, abgeschwächte Pulsation)
  • BSG > 50 mm in der ersten Stunde
  • histologische Veränderungen bei Biopsie der Temporalarterie

Das Erfüllen von 3 der 5 Kriterien geht mit einer hohen Sensitivität und Spezifität in Abgrenzung zu anderen systemischen Vaskulitiden einher[1].

Bildgebende Untersuchungen

Die farbkodierte Duplexsonografie der extrakraniellen Gefäße weist eine hohe Sensitivität für die Diagnose einer RZA auf. Die hohe räumliche Auflösung erlaubt arteriosklerotische Veränderungen der Gefäßwand von einem echoarmen entzündungsbedingten Randsaum, dem sogenannten Halo-Zeichen abzugrenzen (siehe Farbduplexabbildung des Patienten oben).

Die Sensitivität hochauflösender MRT Untersuchungen (vorzugsweise 3 Tesla) mit Nachweis einer entzündlichen Reaktion der extrakraniellen Gefäßwände ist noch unklar.

Nuklearmedizinische Methoden wie die 18F-FDG-PET eignen sich zum Nachweis einer erhöhten metabolischen Aktivität der großen Gefäße, wie die Aorta und ihre abgehenden Hauptstämme.

Biopsie

Im Falle negativer bildgebender Befunde ist eine Biopsie eines leicht zugänglichen extrakraniellen Gefäßes meist der Art. temporalis anzustreben. Im Falle eines negativen Ergebnisses wird eine Biopsie der kontralateralen Seite empfohlen. Dies kann auch unter laufender Kortison-Therapie erfolgen, da entzündliche Gefäßwandveränderungen bis zu 2 - 3 Wochen nachweisbar sind.

Therapie

Prednisolon in einer Dosis von 1 mg/kg Körpergewicht gilt als First-Line-Therapie in der Initialphase. Im Verlauf von 4 Wochen sollte die Dosis auf 30 mg, dann alle 2 Wochen in 2,5 mg Schritte auf 15 mg reduziert werden. In der Regel ist dies nach 3 Monaten erreicht, danach sollte die Dosis monatlich um 1 mg verringert werden bis auf eine Erhaltungsdosis von 2,5-7,5 mg. Voraussetzungen für die Reduktion sind die CRP- und BSG-Normalisierung sowie die Besserung der Schmerzen. Im Falle eines Rezidivs wird eine Erhöhung auf die letzte wirksame Dosis plus 10 mg Prednisolon empfohlen. Nach einer mittleren Therapiedauer von 2 - 3 Jahren kann ein Auslassversuch unternommen werden, teilweise ist eine lebenslange Behandlung notwendig[4].

Nach den EULAR (European League against rheumatism) Empfehlungen von 2012 wird Methotrexat zusätzlich zur Glukokortikoid-Gabe empfohlen. Dies ermöglicht die Einsparung von Glukokortikoiden und senkt das Rezidivrisiko.

Aufgrund der Langzeit-Gabe wird eine Osteoporoseprophylaxe mit Kalzium und Vitamin D, Magenschutz (PPI), sowie die Gabe von ASS 100 mg zur Prophylaxe ischämischer Komplikationen empfohlen.

Epikrise unseres Patienten

Die initiale augenärztliche Untersuchung ergab eine ausgeprägte Visusminderung von 10 Prozent beidseits mit einem rechtsseitigen Zentralskotom und einer randscharfen Pupille.

Aufgrund dieser schwerwiegenden Symptomatik erhielt der Patient hochdosiert 1000 mg Methylprednisolon i.v. über 5 Tage. In der Verlaufskontrolle 4 Tage später zeigte sich die Visusminderung des rechten Auges gering rückläufig (Visus 15 %). Es bestanden weiterhin hochgradige Gesichtsfelddefekte (rechts > links) und beidseits ein blasses Papillenödem (rechts > links). Die Kopfschmerzen waren rückläufig.
Im weiteren Verlauf wurde der Patient körpergewichtsadaptiert auf Prednisolon 90 mg oral umgestellt, mit ASS 100 mg, Magenschutz und Osteoporoseprophylaxe (Vitamin D, Kalzium) entlassen.

Die ambulante Verlaufskontrolle 6 Monate später ergab bedauerlicherweise weiterhin die ausgeprägte Visusminderung beider Augen. Der Patient ist auf kontinuierliche Hilfe seiner Ehefrau angewiesen. Mit einer Erhaltungsdosis von Prednisolon 7,5 mg/d zeigte sich sowohl die BSG mit <10 mm in der 1. Stunde als auch das CRP <0,5 mg/dl unauffällig.

Literatur

  1. Rao JK, Allen NB, Pincus T. Limitations of the 1990 American College of Rheumatology classification criteria in the diagnosis of vasculitis. Ann Intern Med 1998; 129: 345–352
  2. Salvarani C, Cantini F, Hunder GG. Polymyalgia rheumatica and giant cell arteritis. Lancet 2008; 372: 234-45
  3. Ness T, Bley T, Schmidt W, Lamprecht P. Diagnose und Therapie der Riesenzellarteriitis. Dt. Ärzteblatt 2013, 21:376-386
  4. Zerebrale Vaskulitis. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie (ISBN 9783131324153). Herausgeber Diener et al. 5. überarbeitete Auflage 2012, 406-429