Das Arzt-Patienten-Verhältnis im 21. Jahrhundert
Es gilt das gesprochene Wort
I.
Der Medizinhistoriker Hermann Kerschensteiner (1871-1937) schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts über den Arztberuf:
„Der ärztliche Beruf ist wunderlicher Natur, und immer wieder haben geistvolle Köpfe darüber nachgedacht, was eigentlich an diesem Gemisch von Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft das Wesentliche ist.“
Dieser Spruch hat an Aktualität nichts verloren, weil alle fünf Parameter auch in unserer Zeit eine wichtige Rolle spielen.
Mir scheint, dass Wissenschaft und Handwerk an Bedeutung zugenommen haben, Kunst und Liebestätigkeit aber in Politik, Gesellschaft und Medien geringer eingeschätzt werden als früher, während das Geschäft – auch bei manchen Ärzten – einen gewaltigen Bedeutungszuwachs verzeichnen kann.
Nicht von ungefähr sprechen wir heute mehr über Gesundheitswirtschaft als über ein Gesundheitswesen, und die Gesundheitspolitik wird heute nicht mehr so sehr als Sozialpolitik, sondern mehr und mehr als Wirtschaftspolitik verstanden.
II.
Eine kurze Rückblende in das vergangene Jahrhundert macht deutlich, dass bis etwa in die Mitte der achtziger Jahre der einzelne Patient als Individuum gesehen und die Patient-Arzt-Beziehung als eine höchst individuelle Interaktion von Politik und Gesellschaft respektiert wurde.
Die einzige auf diese individuelle Situation gemünzte Vorschrift im Sozialrecht war, dass der Patient Anspruch auf eine ausreichende und zweckmäßige Behandlung habe, dass diese das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfe und dass die Gebote der Wirtschaftlichkeit zu beachten seien. Keinem Patienten sollte das Notwendige vorenthalten werden.
Die Patienten haben ihre Erkrankungen als Schicksal aufgefasst und betrachteten ihre Ärzte als Hoffnungsträger, als Heiler oder zumindest als Helfer und auch als Tröster. Sie vertrauten ihnen, dass sie ihre Versprechen einhalten würden, die Grundsätze der ärztlichen Berufsethik zu beachten.
Diese Grundsätze basierten auf der abendländischen Gesinnungsethik.
Ärzte versprachen, salus aegroti suprema lex zu beachten, das Gebot des primum nil nocere einzuhalten, sich als Anwalt ihrer Patienten zu fühlen, absolute Verschwiegenheit zu üben und keinesfalls persönliche, insbesondere merkantile Motive bei der Betreuung ihrer Patienten zu präferieren. Die Politik kümmerte sich um Daseinsvorsorge im Gesundheitswesen, das heißt, die Einrichtungen für ambulante, stationäre und weitere Versorgung in ausreichendem Umfang vorzuhalten. Ansonsten beschränkte sie sich auf eine die individuelle Patientensituation respektierende Rahmengesetzgebung.
Die Krankenkassen verwalteten die Beitragseinnahmen und bezahlten die durch die Kassenärztlichen Vereinigungen überprüften Leistungen. Sie zollten aber ebenfalls der individuellen Patient-Arzt-Beziehung Respekt.
Die Rechtspflege akzeptierte zumindest bis in die frühen siebziger Jahre den damals bei Patienten und Ärzten selbstverständlichen Grundsatz: salus aegroti suprema lex. Rechtliche Auseinandersetzungen gab es im Wesentlichen nur wegen Behandlungsfehlern und Verletzungen der Sorgfaltspflicht im Rahmen einer ärztlichen Betreuung.
De facto gab es somit ein Spannungsdreieck zwischen der Patient-Arzt-Beziehung, der Politik und der Rechtspflege.
Das bisher Gesagte soll kein nostalgischer Rückblick sein, zumal die meisten heute berufstätigen Ärztinnen und Ärzte diese Zeit ja schon gar nicht mehr miterlebt haben. Ich will nur das enorme Ausmaß der Veränderungen aufzeigen, welches sich in dem relativ kurzen Zeitraum der letzten 25 bis 30 Jahre allein bis heute ereignet hat.
Der Trend dieser Entwicklung und insbesondere das Tempo, mit dem sie sich weiter vollziehen wird, dürfte ungebrochen bleiben und die deutsche Gesundheitslandschaft regelrecht umpflügen.
Hierbei wage ich aber nur eine Prognose bis etwa 2020 / 2025 und keineswegs für das gesamte 21. Jahrhundert, wenn möglicherweise eine ganz andere Population in Westeuropa heimisch geworden sein könnte.
III.
Ich möchte Ihnen jetzt erläutern, weshalb ich glaube, dass aus dem genannten Spannungsdreieck zumindest ein Spannungssechseck entstanden ist, welches sich aber weiterentwickeln dürfte.
Über den unweigerlich stattfindenden medizinischen Fortschritt möchte ich dabei nicht reden, weil es dazu Berufenere gibt. Ich möchte mich vielmehr auf die politisch-gesellschaftliche Dimension konzentrieren.
Die Patient-Arzt-Beziehung wurde meines Erachtens seit den 70er/80er Jahren des vorigen Jahrhunderts durch zwei getrennt voneinander verlaufende Entwicklungen massiv beeinflusst, die Politik der zunehmenden impliziten Rationierung einerseits und die veränderte Rechtsprechung andererseits.
Durch eine Fülle von Gesetzgebungen seit 1976/77 ist eine staatlich verordnete Mittelknappheit eingeführt worden, welche die Finanzierung unseres Gesundheitswesens den steuerfinanzierten Systemen immer ähnlicher macht. Dies geschah zunächst in Form von Kostendämpfungsgesetzen, seit 1987 im ambulanten und 1993 im stationären Bereich durch die gesetzlich festgelegten Budgetierungen der Versorgungsbereiche und geschieht schließlich ab dem nächsten Jahr durch den dann eingerichteten Gesundheitsfonds.
Seit 1993 sind Krankenhäuser übrigens nicht mehr soziale Einrichtungen, die aus der Mildtätigkeit hervorgegangen sind, sondern gesetzlich gewollt Wirtschaftsunternehmen.
Der Öffentlichkeit wurde und wird mitgeteilt, dass erhebliche Rationalisierungsreserven mobilisiert werden müssten, was keineswegs völlig falsch ist. Der Bevölkerung wird aber verschwiegen, dass genauso implizite Rationierung stattfindet, ein Vorgang, welcher mit Formulierungen wie „Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit“ euphemistisch dargestellt wird.
In dieser Phase haben die Patienten implizite Rationierung im Wesentlichen im Arzneiverordnungswesen gespürt. Die Patient-Arzt-Beziehung wurde und wird in diesem Zusammenhang nach wie vor dadurch belastet, dass die Patienten nicht selten den Eindruck haben, ihre Ärztinnen und Ärzte verordneten zur Schonung oder gar Aufbesserung des eigenen Honorars minderwertige Arzneimittel.
Was im früher diesbezüglich unregulierten Gesundheitswesen undenkbar gewesen wäre, ereignet sich in Deutschland seit Beginn dieses Jahrzehnts in der konkreten Patientenversorgung mittels staatlicher Eingriffe, wobei die Operationalisierungen der heute Aufträge erfüllenden Selbstverwaltung, welche früher eine gestaltende Selbstverwaltung gewesen ist, überantwortet wurde: Gemeint sind die durch Rechtsverordnungen implementierten Eingriffe in die Prozeduren der Patientenbehandlung, etwa durch die inhaltlichen Vorgaben bei diagnosebezogenen Fallpauschalen im stationären Sektor und noch viel mehr durch Disease-Management-Programme (wörtlich übersetzt: Krankheitshandhabungsvorschriften), welche die mitwirkenden Ärztinnen und Ärzte bei eingeschriebenen Patientinnen und Patienten mit definierten, zumeist bei chronischen Erkrankungen eins zu eins zu beachten haben.
Dass diese Programme nicht mehr auf das individuell Notwendige abgestellt sind, sondern auf die Diagnose hin, so dass die entsprechenden Patienten nicht mehr Erkrankte mit einer Diagnose sind, sondern standardisierte Besitzer einer Diagnose, ist die völlig natürliche Folge dieser Entwicklung.
Dass diese Programme außerdem nicht nur nach medizinischen Gesichtspunkten, sondern mindestens genauso nach Kriterien der finanziellen Ressourcen ausgestaltet sind, ist die notwendige Konsequenz einer durchaus gewollten Zuteilungspolitik. Von einer freien Patient-Arzt-Beziehung kann da allenfalls noch eingeschränkt die Rede sein.
Als weitere Konsequenz und überhaupt nicht unerheblich ist bezüglich der Patient-Arzt-Beziehung die Einschränkung der bisher gemeinsam ausgeübten Therapiefreiheit, welche zumindest einer Teilentmündigung und auch einer Entindividualisierung der Patient-Arzt-Beziehung gleich kommt.
Damit ist dann aber auch der letzte Respekt vor dem Individuum Patient und der individuellen Patient-Arzt-Beziehung zerstört.
IV.
Der gegenläufige gravierende politische Eingriff des Staates ist der Wechsel von der staatlichen Daseinsvorsorge in eine wettbewerbliche Marktsituation im Bereich der Leistungserbringung, das heißt der eigentlichen Patientenversorgung. Die gesetzlichen Krankenkassen wurden mittlerweile von payern zu playern umgewandelt, welche - selbst im Wettbewerb untereinander stehend - den Auftrag haben, mit in Konkurrenz stehenden im ambulanten und stationären Sektor agierenden Leistungserbringern Verträge zu schließen.
Wohlgemerkt, die zu erbringenden Leistungen (sozusagen Warenkörbe) und die dafür zu zahlenden Preise sind zumindest mittelbar staatlich festgelegt, die Leistungserbringer buhlen heute um Verträge mit den gesetzlichen Krankenkassen, welche wiederum entsprechende Ausschreibungen vornehmen.
Dieses Verfahren muss in logischer Konsequenz eine möglicherweise gar nicht einmal unerhebliche Einschränkung der Wahlfreiheiten von Patientinnen und Patienten mit sich bringen, weil es gut vorkommen kann, dass ihre Krankenkasse mit dem gewünschten Leistungserbringer keinen Vertrag unterhält. Das Krankenkassenmitglied kann nur durch Kassenwechsel noch einen Rest von Wahlfreiheit in Anspruch nehmen.
V.
Die Rechtspflege hat ganz unabhängig aber doch parallel zu dieser politischen Entwicklung eine nahezu gleich bedeutsame Änderung der Patient-Arzt-Beziehung geschaffen, welche die tradierte Funktion des Arztes als Heiler, Helfer und Tröster und auch die des Patientenanwaltes tiefgreifend umgestaltet hat.
Der Wechsel von salus aegroti suprema lex zu voluntas aegroti-suprema lex als führende Verhaltenssteuerung in der Patient-Arzt-Beziehung hat nicht nur für diese Beziehung gravierende Konsequenzen, sondern auch für das Bild des Arztes in der Öffentlichkeit insofern, als Patienten mehr und mehr den Eindruck haben, ihren Ärztinnen und Ärzten Aufträge zu erteilen, welche von diesen auch erfüllt werden müssten. Ärzte sind so zum Dienstleister am Patienten degradiert worden.
Viele Patienten empfinden ihre Erkrankungen längst nicht mehr nur als Schicksal, sondern weit mehr als Schaden - auch im versicherungsrechtlichen Sinne -, der gefälligst von ihren Ärzten zu beseitigen oder zumindest zu lindern sei.
Eine gewisse Werkvertrags-Mentalität hat sich eingeschlichen, wobei die Meinung herrscht, dass die Nichterreichung des Vertragszieles einer Schlechterfüllung des Vertrages gleichkomme, woraus sich Schadenersatzansprüche ergäben.
Chronisch kranke Patienten sind bekanntlich häufig Experten ihrer eigenen Krankheit und haben sehr genaue Vorstellungen von dem, was sie von ihren Ärztinnen und Ärzten erwarten dürfen. Patienten mit akuten, so genannten Episoden-Erkrankungen informieren sich nicht selten über die Bedeutung der selbst festgestellten Symptome und kommen mit mehr oder weniger fertigen Diagnosen in die Sprechstunde des Arztes, um die entsprechenden Aufträge zu erteilen. Das kann manchmal hilfreich sein, aber nicht immer. Der Aufwand, gelegentlich Internet-Unsinn aus den Köpfen mancher Patienten zu vertreiben, kann durchaus erheblich sein.
Zurück zur Rechtspflege: Notwendige Konsequenz der Betonung von Patientenautonomie, die wir natürlich uneingeschränkt respektieren, sind sorgfältige Aufklärung und Dokumentation darüber. Schwer nachzuvollziehen ist aber für uns Ärztinnen und Ärzte die Spruchpraxis, dass trotz Mittelknappheit für uns die Verpflichtung besteht, das Notwendige im Sinne des Standes der medizinischen Wissenschaft zu applizieren, obwohl nur das Finanzierbare vergütet wird, so dass nicht selten - insbesondere für aufwändige Leistungen - Defizite entstehen.
VI.
Nun noch ein paar Sätze zur Zukunft der Struktur der ärztlichen Versorgung, wie sie einerseits durch den Gesetzgeber, andererseits auch durch die Überantwortung der Patientenversorgung in einen wettwerblich agierenden Markt ergeben werden:
Der Wunsch der Politik ist es, die hausärztliche Versorgung zu stärken, also etwa 60 bis 70 Prozent der ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte als Hausärzte agieren zu lassen, um eine Breiten-Grundversorgung sicherzustellen. Nach Aussagen der WHO bereits im Jahre 2000, der Gesundheitsministerkonferenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2005 und der Koalitionsvereinbarung der amtierenden Bundesregierung ebenfalls im Jahre 2005 besteht die Vorstellung, dass bisher unter Arztvorbehalt stehende Verrichtungen aus diesem Arztvorbehalt herausgelöst und auch anderen nicht ärztlichen Berufen erlaubt werden sollen.
Auch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz aus dem Jahre 2007 sieht schon vor, dass beispielsweise die Verordnung von Pflegerbedarfsartikeln auch durch Pflegende vorgenommen werden darf. Diese Entwicklung soll weitergehen. So plädiert die Weltgesundheitsorganisation, die primär allerdings eher an Entwicklungsländer als an Industrienationen denkt, für ein erweitertes Pflege-Berufsbild.
In der Bundesrepublik Deutschland ist eine entsprechende Entwicklung ebenfalls im Gange zum Beispiel in Form eines Curriculum Community Medicine Nursing an der Universität Greifswald und der Fachhochschule Neubrandenburg. Es gibt auch viele andere Beispiele. Die dort ausgebildeten Pflegekräfte sollen als „verlängerter Arm von Hausärztinnen und Hausärzten“ zum Beispiel telemedizinische Verlaufskontrollen vornehmen, Hausbesuche und präventive Maßnahmen, beispielsweise Sturzprophylaxe bei älteren Menschen, durchführen.
Die Bundesärztekammer favorisiert allerdings die Weiterqualifikation der früheren Arzthelferin, jetzt Medizinische Fachangestellte genannt, welche durch entsprechende Fortbildungscurricula in den Stand gesetzt werden soll, Patientenbegleitung und Koordination der Patientenbetreuung durchzuführen, Prävention im Kindes- und Jugendalter aber auch bei Erwachsenen zu betreiben sowie besondere Kenntnisse in der Ernährungsmedizin zu erlangen, um auf diesem Wege Beratungen durchzuführen.
Außerdem gehen die Vorstellungen in die Richtung eines verstärkten Einsatzes in der geriatrischen Versorgung. Dies alles würde aber in ärztlicher Verantwortung geschehen. Auf diesem Wege soll eine Konzentration des Arztes auf seine Kernkompetenzen erreicht werden und ihm insbesondere mehr Zeit für das Gespräch mit Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen.
Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e. V. hat vor einigen Monaten ein Positionspapier verabschiedet zu dem Thema: Kooperation und Kompetenz - Zukunftsorientierte Zusammenarbeit in der Patientenversorgung. Unsere jungen Kolleginnen und Kollegen gehen von vornherein davon aus, dass sie als eine Profession - der ärztlichen nämlich - in multiprofessionellen Teams die koordinierte Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe erleben werden und fordern wörtlich: „Im Rahmen einer solchen Umstrukturierung ist die Schaffung klarer rechtlicher Rahmenbedingungen zur Abschaffung momentaner und Veränderung zukünftiger rechtlicher Grauzonen essentiell.“
Teilung der Verantwortung soll somit ein wichtiger Tatbestand sein und zur Qualitätsverbesserung in der Versorgung und zur Patientensicherheit beitragen. Dies ist zweifellos ein Paradigmenwechsel im Selbstverständnis vom Arztberuf.
VII.
Die spezialistische ärztliche Versorgung wird sich zunehmend in von unterschiedlichen Trägern unterhaltene Institutionen verlagern. Hier konkurrieren Ärzte als Freiberufler zum Beispiel in Praxisnetzen mit gemeinnützigen Einrichtungen, mit Non-Profit-Unternehmen wie zum Beispiel kommunalen Krankenhäusern und natürlich auch mit profitorientierten Betreibern, die nicht einmal unbedingt aus dem Gesundheitswesen stammen müssen, sondern durchaus auch als Investoren in der Gesundheitswirtschaft auftreten können.
Sie alle werden entweder Ärzte sein oder Ärzte brauchen, wobei darauf zu achten ist, dass die gestärkte Patientenautonomie einhergeht mit einer entsprechenden Arztautomomie, hier unter anderem gemeint als eine Autonomie gegenüber den allfälligen Betreibern von Gesundheitseinrichtungen, so dass dem gegenwärtigen Zustand der Einmischung Dritter in die individuelle Patient-Arzt-Beziehung ein Ende bereitet werden muss.
Als ärztliche Selbstverwaltung haben wir die Aufgabe, dazu die Freiberuflichkeit des Arztberufes zeitgemäß zu definieren.
VIII.
Ärztinnen und Ärzte behandeln Individuen und sind deswegen auch individual-ethisch eingestellt; eine alleinige und ausschließliche sozial-ethische Denkweise ist den Angehörigen dieses Berufes und deren Patienten nicht zuzumuten.
Hier befinden wir uns derzeit aber auf einem sehr gefährlichen Wege, weil Ärztinnen und Ärzte ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich Heiler, Helfer, Tröster und Berater zu sein statt nur Schadensbeseitiger, kaum noch nachkommen können.
Vielmehr müssen sie als Budgeteinhalter, Allokationsjongleure und - zu meinem großen Leidwesen - auch als Geschäftsleute, zum Beispiel bei IGeL, Vertrauen zerstörende oder zumindest gefährdende Verhaltensweisen an den Tag legen.
In einer neueren Umfrage haben 4.500 Ärztinnen und Ärzte zu ihrer Rolle heute und in 25 Jahren Stellung genommen, und Patienten sind gefragt worden, welchen Arzt sie in Zukunft erwarten oder befürchten.
Auf die Frage: „Welche Rolle spielen Sie heute als Arzt und was für eine Rolle wird der Arzt in 25 Jahren haben?“ antworteten knapp 90 Prozent mit Therapeut, 66 Prozent mit Seelsorger, 34 Prozent Heiler und 82 Prozent mit Berater. 29 Prozent empfanden sich als Krankschreiber, 42 Prozent als Gesundheitsmanager, 13 Prozent als Gesundheitstechniker und 58 Prozent als Gesundheitsbürokraten.
Die Frage, wie das Ganze in 25 Jahren wohl aussehen dürfte, wurde wie folgt beantwortet: Dieselben Ärzte meinten, zu 55 Prozent seien die dann agierenden Ärztinnen und Ärzte Therapeuten, zu 32 Prozent Seelsorger, zu 20 Prozent Heiler, zu 47 Prozent Berater und zu 20 Prozent Krankschreiber, aber 64 Prozent werden sich als Gesundheitsmanager, 32 Prozent als Gesundheitstechniker und 59 Prozent als Gesundheitsbürokraten fühlen.
Patienten fürchten, dass Ärzte im Jahre 2020 mehr Techniker und weniger Therapeuten seien. 90 Prozent wünschten sich aber eine Beraterfunktion, 73 Prozent die Funktion des Therapeuten und jeweils etwa 50 Prozent wünschten sich den Arzt als Heiler und Seelsorger. Die Patienten glauben aber nicht, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen. Vielmehr glauben sie, dass 2020 66 Prozent als Berater aufträten, 55 Prozent als Therapeuten, 37 Prozent als Heiler, aber 48 Prozent als Gesundheitsmanager und 42 Prozent als Gesundheitsökonomen sowie 48 Prozent als Medizintechniker.
Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, dass unsere Bevölkerung den Arztberuf in den sechziger Jahren am meisten assoziierte mit geistlichen und künstlerischen Berufen, in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts aber schon mit dem Ingenieurberuf und mit Bänkern.
IX.
An dieser Stelle möchte ich Ihnen zum Schluss mein Spannungssechseck (gegenüber dem Spannungsdreieck der achziger Jahre des vorigen Jahrhunderts) benennen: Es besteht aus den Begriffen Patient (als autonomes Wesen) – Arzt in verschiedenen Funktionen – Politik als direkter Gestalter des Gesundheitswesens – Auftragsselbstverwaltung als Rationierungsinstitution – im Wettbewerb stehende Leistungserbringer – Rechtspflege.
Ich bin sicher, wir befinden uns heute in einem Durchgangsstadium zu einem neuen Gesundheitswesen, welches starke Ähnlichkeiten aufweisen wird mit den Gesundheitswesen in den skandinavischen Ländern, mit kleineren Anleihen aus unserem Nachbarland, den Niederlanden, und mit wettbewerblichen Ideen aus den Vereinigten Staaten von Amerika.
Bezüglich der Patient-Arzt-Beziehung wird sich aber das in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelte Gefüge weiter ausdifferenzieren.
- Schwerkranke Patienten, die durch ihre Erkrankung stark bedroht sind, werden ihre Ärztinnen und Ärzte als fürsorgliche Partner und Hoffnungsträger sehen,
- Patienten mit chronischen Erkrankungen und solche mit nicht lebensbedrohlichen Episodenerkrankungen werden in ihrem Arzt den Partner als Berater suchen und
- Patienten, die nicht krank sind, sondern lediglich Wünsche nach ärztlichen Verrichtungen äußern, die bezüglich ihrer Durchführung unter Arztvorbehalt stehen, zum Beispiel plastische Operationen zur Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes, werden ihren Arzt als Auftragnehmer und sich selbst als Kunden betrachten.
Auf welche Ärztinnen und Ärzte aber werden die Patienten treffen?
Von nicht unerheblicher Bedeutung werden auch die Einstellung und Haltung der künftigen Ärztinnen und Ärzte sein. Dabei spielt die Zulassungsmethode zum Studium der Medizin eine zentrale Rolle. Die Dominanz der Abiturnote hat sich nicht als beste Lösung erwiesen, was ein wichtiger Grund für den Ausstieg mancher Ärztinnen und Ärzte aus der Patientenversorgung sein dürfte. Soziale Einstellung und Empathie sollten höher bewertet werden.
Ebenfalls bedeutsam ist für Einstellung und Haltung der künftigen Ärzteschaft die Vorbildfunktion der heutigen Ärztinnen und Ärzte, besonders der in der Lehre tätigen. Hier haben Medizinische Fakultäten und die in den Ärztekammern verfasste Ärzteschaft zentrale Aufgaben mit enormer Verantwortung.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.