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Die schlummernde Kraft: Placebo in der Medizin


Wer Placebo-Wirkungen ungenutzt lässt, verschenkt womöglich gute therapeutische Optionen. Die Vermeidung von Nocebo-Effekten erspart Unheil, so Festredner Professor Dr. Robert Jütte bei der 10. Begrüßungsveranstaltung der Ärztekammer Nordrhein.

von Horst Schumacher

Dr. Anja Mitrenga-Theusinger (1. Reihe, 4. von rechts) begrüßte die frisch approbierten Kolleginnen und Kollegen im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf-Golzheim. Festredner Professor Dr. Robert Jütte (1. Reihe, 2. von rechts) berichtete in seinem Festvortrag über die erstaunliche Wirkung von Placebo-Behandlungen. Foto: Studio Rolfes

Es war ein kleines Jubiläum: Zum 10. Mal hatte die Ärztekammer Nordrhein ihre neuen Mitglieder kürzlich ins Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft eingeladen, um sie in einer Festveranstaltung willkommen zu heißen. Ein frühzeitiger Kontakt soll die neuen Kolleginnen und Kollegen dazu anregen, Informationen und Beratung ihrer Kammer in Anspruch zu nehmen – etwa in Weiterbildungsfragen. „Wir wollen Sie auf dem Weg zur Facharztprüfung begleiten“, sagte die Vorsitzende des Vorstands-Ausschusses „Junge Ärztinnen und Ärzte, ärztliche Arbeitsbedingungen“, Dr. Anja Mitrenga-Theusinger.

Sie erläuterte den Neumitgliedern Struktur und Aufgaben der Ärztekammer Nordrhein: Als öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungskörperschaft nimmt diese nach dem Heilberufsgesetz des Landes die beruflichen Belange aller mehr als 57.000 Ärztinnen und Ärzte im Landesteil wahr, etwa durch Kontakte mit der Landesregierung, dem Landtag und den Medien. Die Kammer ist zum Beispiel unmittelbar an der Krankenhausplanung des Landes beteiligt und bringt nach Mitrenga-Theusingers Worten hier die übergreifende Sicht der Klinikärzte und der niedergelassenen Ärzte ein.
Die Ärztekammer ist jedoch keine reine Interessenvertretung wie die ärztlichen Verbände, sondern gesetzlich auf die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben verpflichtet. Sie versteht sich auch als Service-Institution, die ihre Mitglieder in allen Belangen rund um die ärztliche Berufsausübung unterstützt. Ihre Aufgaben erledigt die Kammer ganz überwiegend in Selbstverwaltung. In kleinerem Umfang erfüllt sie, dann weisungsgebunden, auch staatliche Aufgaben.
Wesentliche Selbstverwaltungsaufgaben sind beispielsweise die ärztliche Weiterbildung, die ärztliche Fortbildung und die Qualitätssicherung. Zu den Kernaufgaben gehört auch die Berufsaufsicht. Die Kammer definiert in der Berufsordnung die ethischen Anforderungen an das ärztliche Handeln und sanktioniert Verstöße gegen das Berufsrecht.

Bei Behandlungsfehler-Vorwürfen schlichtet die bei der Kammer eingerichtete unabhängige Gutachterkommission, wie Mitrenga-Theusinger erläuterte. Auch bei Streitigkeiten über privatärztliche Honorarforderungen bietet die Ärztekammer eine Schlichtung an. Die Patientenberatung und die Kooperationsstelle für Selbsthilfegruppen und Ärzte stehen Bürgern und Ärzten mit Auskünften zur Verfügung. Zur Alterssicherung ihrer Ärztinnen und Ärzte hat die Kammer die Nordrheinische Ärzteversorgung eingerichtet.

Die Pflichtmitgliedschaft in der Kammer ist verbunden mit - nach Einkommen gestaffelten - Pflichtbeiträgen. Die Mitglieder ihrerseits können die Entscheidungen der Kammer auf demokratischem Wege mitgestalten, etwa mit ihrer Stimme bei den Wahlen zur Kammerversammlung. Dieses „ärztliche Landesparlament“, dem 121 Mitglieder angehören, hat beispielsweise bei der Weiterbildungsordnung und der Berufsordnung das letzte Wort.

Ein Höhepunkt der Begrüßungsveranstaltung, die seit dem Jahr 2009 und inzwischen zweimal jährlich stattfindet, ist das Ärztliche Gelöbnis, das die jungen Ärztinnen und Ärzte gemeinsam ablegen. Anschließend können sie mit ihren Unterschriften bekräftigen, dass sie sich auf die Grundwerte ihres Berufes verpflichten.

Gelöbnis

Für jede Ärztin und jeden Arzt gilt folgendes Gelöbnis:

„Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.

Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben.

Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patientinnen und Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.

Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod meiner Patientinnen und Patienten hinaus wahren.

Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten und bei der Ausübung meiner ärztlichen Pflichten keinen Unterschied machen weder nach Geschlecht, Religion,
Nationalität, Rasse noch nach Parteizugehörigkeit oder sozialer Stellung.

Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden.

Ich werde allen, die mich den ärztlichen Beruf gelehrt haben, sowie Kolleginnen und Kollegen die schuldige Achtung erweisen. Dies alles verspreche ich auf meine Ehre.”

Die Kammerversammlung als höchstes Organ wählt den ehrenamtlich tätigen 18-köpfigen Vorstand, der die Geschäfte der Kammer führt, einschließlich des Präsidenten, der ebenfalls ein gesetzliches Organ ist, sowie des Vizepräsidenten als dessen Vertreter. Die Organe werden alle fünf Jahre neu gewählt, ebenso die 27 Kreisstellenvorstände und die acht Bezirksstellenausschüsse. Über 300 ehrenamtlich ­tätige Mitglieder gestalten in zahlreichen Ausschüssen und Kommissionen die Aktivitäten ihrer Kammer mit. „Das ist es, was unsere Arbeit eigentlich ausmacht“, sagte Mitrenga-Theusinger, „und alle haben die Gelegenheit zur Teilnahme.“

Erstaunliche Erfolge

„Ich möchte Ihnen heute nichts Theoretisches mitgeben, sondern etwas Praktisches“, sagte Professor Dr. Robert Jütte, Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung – und sprach in seinem Festvortrag über die heilsame Wirkung von Placebos und die schädlichen Folgen von Nocebos in der Medizin.

Der Begriff des Placebos ist den meis­ten Ärztinnen und Ärzten bekannt aus ­klinischen Studien, in denen eine Probandengruppe ein wirkstoffhaltiges Medikament erhält und die Kontrollgruppe ein Scheinmedikament, das zum Beispiel aus Milchzucker besteht. Auch aus der Chirurgie, der Psychotherapie oder der Akupunktur sind Scheinmaßnahmen bekannt – zum Beispiel eine Akupunktur ­mit Nadeln, die gar nicht in die Haut eindringen.

Laut Studien ist diese Placeboprozedur ähnlich erfolgreich in der Reduktion von Kopfschmerzen und Migräne wie die traditionelle chinesische Medizin, so Robert Jütte. Auch Schein-Operationen etwa des Knies bei Arthrose, bei denen Probanden die Operation nicht wie angenommen des eigenen, sondern in Wahrheit eines fremden Knies auf dem Bildschirm gezeigt wurde, schnitten hinsichtlich der Symptomreduktion gleich gut ab wie wirkliche Operationen.

Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Placebo“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer erweiterte den Placebobegriff um den Einfluss des Behandlungsumfeldes, die Erwartungen des Patienten und des Arztes sowie die Patient-Arzt-Kommunikation. Unter der Federführung von Robert Jütte durchforstete diese Arbeitsgruppe die internationale Placeboforschung und fand zahlreiche Belege für den therapeutischen Nutzen von Placebos. Die ausführliche Stellungnahme der Arbeitsgruppe hat die Bundesärztekammer als Buch herausgegeben (Placebo in der
Medizin, Deutscher Ärzte-Verlag 2011, auch im Internet verfügbar auf der Homepage der Bundesärztekammer www.baek.de).

Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts ist die Wirkung von Placebos – auch mit Hilfe moderner bildgebender Verfahren – verstärkt naturwissenschaftlich untersucht worden, wie Robert Jütte in Düsseldorf berichtete. So führen sie bei Schmerzen nachweislich zu einer erhöhten Ausschüttung an Endorphinen. Auch erhöhen Placebos die Dopamin-Ausschüttung und aktivieren ähnliche Hirnregionen wie Psychopharmaka. Placeboeffekte lassen sich laut Jütte anhand von Laborparametern mitunter eindeutiger messen als durch Befragung der Patienten.

Kaum nachweisbar ist ein Placeboeffekt zum Beispiel bei chronisch-obstruktiven Atemwegserkrankungen, Osteoporose und pulmonaler Hypertonie. Dagegen schneidet das Placebo nach Jüttes Worten bei arterieller Hypertonie, Morbus Parkinson, partieller Epilepsie und rheumatoider Arthritis im Vergleich zu wirkstoffhaltigen Medikamenten beachtlich ­ab – „und könnte daher bei der Therapie durchaus in die Medikationsentscheidung miteinbezogen werden“.

Jüttes Fazit zu Placeboanwendungen in der therapeutischen Praxis: Wenn keine geprüfte Therapie vorhanden ist, es sich um relativ geringe Beschwerden handelt und Erfolgsaussicht besteht, kann es der Arzt mit einer Placebo-Behandlung versuchen. Selbstverständlich muss der Patient aufgeklärt werden, was nach Jüttes Worten den Placeboeffekt nicht konterkarieren muss. Hier kommt es ganz besonders auf das Vertrauensverhältnis und eine gelungene Arzt-Patient-Kommunikation an (siehe auch Kapitel 9 des Buches „Placebo in der Medizin“): „Der Arzt hat es in der Hand, den Placebo-Effekt zu verstärken oder in sein Gegenteil zu verkehren“, sagte Jütte.

Der Erfolg des Placebos hängt davon ab, ob der Arzt dem Patienten zum Beispiel seine Wertschätzung und eine positive Erwartungshaltung vermitteln kann. Weckt der Arzt dagegen eine negative Erwartungshaltung, indem er Befürchtungen des Patienten verstärkt oder gar selber hervorruft, so tritt der böse Bruder des Placebo in Aktion: der Nocebo, der krank ­machen kann.