Düsseldorf, 14.2.2022. Gesundheitsthemen werden in Zukunft einen immer größeren Stellenwert einnehmen. Vor diesem Hintergrund sei es gut und wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte sich überdurchschnittlich für die Gesellschaft engagierten. „Es können aber noch mehr werden“, sagte Professor Dr. Helge Braun, Anästhesist, Mitglied des Deutschen Bundestages und von 2018 bis zum Regierungswechsel im vergangenen Dezember Minister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes. „Die Politik kann ärztlichen Sachverstand gut gebrauchen.“
Braun sprach am 11. Februar im Rahmen der Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung zum Verhältnis zwischen Arztberuf und politischem Engagement. Zu der jährlich stattfindenden Veranstaltung der Ärztekammer Nordrhein, die pandemiebedingt bereits zum zweiten Mal online übertragen wurde, hatten sich fast 700 Zuschauerinnen und Zuschauer angemeldet.
Die Coronapandemie habe ihn in den vergangenen zwei Jahren massiv beschäftigt, erklärte Braun. „Der Chef des Bundeskanzleramts muss immer dahin, wo die Probleme sind, und das war in den letzten zwei Jahren die Pandemie“, so der CDU-Politiker. Seine ärztliche Vorbildung habe ihm im Umgang damit sehr geholfen und auch sein politisches Handeln verändert. „Die erste Coronawelle mit Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen und einer völlig ahnungslosen Bevölkerung – das war ein Punkt, wo ich das Gefühl hatte, wir müssen jetzt erklären, was wir tun und warum wir es tun“, sagte Braun. Er habe deshalb seine relative öffentliche Zurückhaltung aufgegeben und angefangen, die Pandemiepolitik zu erläutern.
Dabei prallten jedoch Grundsätze politischen und medizinisch-wissenschaftlichen Handelns aufeinander. „Glaubwürdigkeit in der Politik besteht immer dann, wenn Sie eine Position ein Leben lang vertreten. Wenn sie eine Position ändern, ist das eine kommunikative Krise“, führte Braun aus. „Und solche kommunikativen Krisen haben wir eine ganze Menge erlebt.“ Beispiel: Die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission zum Coronaimpfstoff von Astra Zeneca. Zunächst habe die Empfehlung für Menschen unter 64 Jahren gegolten, dann – wegen des erhöhten Thromboserisikos bei Jüngeren – nur noch für Menschen über 60 Jahre. „Eine solche Umkehr ist sehr schwer zu vermitteln“, sagte Braun. Einen so dynamischen Wissensfortschritt wie in der Coronapandemie angemessen zu kommunizieren, sei eine Herausforderung.
Man habe aber nicht nur den Erkenntnisfortschritt öffentlich erklären müssen. Auch habe der wissenschaftliche Diskurs in der Pandemie Deutschlands Leitmedien erobert. Wer ärztlich und wissenschaftlich tätig sei, wisse, dass wissenschaftliche Auseinandersetzung notwendig und Triebfeder neuer Erkenntnis sei. Doch schaffe es Verunsicherung, wenn dieser Diskurs öffentlich ausgetragen werde. „Wenn wir als Ärzte, Epidemiologen, Intensivmediziner, als Hausärzte öffentlich unterschiedliche Positionen vertreten, schaltet die Bevölkerung irgendwann ab“, warnte Braun. Er warb deshalb dafür, Ärztekammern, Fachgesellschaften oder auch die Akademie der Wissenschaften Leopoldina als Autoritäten und „Vertrauensinstitutionen“ zu erhalten, von denen auch die Öffentlichkeit wisse, dass sie die Meinung der überwiegenden Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vertreten. „Die Bevölkerung muss eine Chance haben, zwischen Mehrheits- und Randpositionen zu unterscheiden“, forderte Braun.
An die Ärztinnen und Ärzte appellierte er, mehr „Mut zum freien Beruf“ zu haben und weniger nach dem Gesetzgeber zu rufen. Als aktuelles Beispiel führte er die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Triage an. Die Karlsruher Richter hatten Ende Dezember 2021 dem Gesetzgeber aufgetragen sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderung bei der Triage nicht benachteiligt werden dürfen. Man könne das nicht allein ärztlichen Gremien überlassen. „Das ist etwas, das ich mit Sorge betrachte“, sagte Braun. In vielen gesundheitspolitischen Diskussionen, die er in den letzten Jahren geführt habe, hätten immer wieder auch ärztliche Kollegen Regulatorik regelrecht eingefordert.
Der ärztliche Alltag berge Rechtsunsicherheiten, räumte Braun ein. Vor dem Hintergrund seiner eigenen beruflichen Erfahrungen in der Intensivmedizin hielt er dennoch ein Plädoyer für den freien Arztberuf und ermutigte auch die ärztlichen Standesvertreter, „dass wir vielleicht einmal weniger nach dem Gesetzgeber rufen und uns einmal mehr darauf verlassen, dass wir uns in unseren eigenen Selbstverwaltungsgremien Regeln geben, mit denen wir dann am Ende arbeiten können“, sagte er. Man müsse die Rechtsunsicherheit, die dann bleibe, als die Therapiefreiheit begreifen, die Ärztinnen und Ärzten so wichtig sei. Denn es sei extrem schwierig, die komplexen Sachverhalte gerade in der Intensivmedizin gesetzlich so detailliert zu regeln, dass am Ende nicht doch wichtige Fallkonstellationen außen vor gelassen würden. „Mein Gefühl ist, dass das rechtliche Korsett immer enger wird, und wir damit der Vielzahl an Konstellationen, denen wir in unserem ärztlichen Alltag gegenüberstehen, nicht immer den besten Dienst tun“, so Braun.
Die Bezüge des ärztlichen Wirkens in die Gesellschaft hinein seien auch für seinen Vorgänger im Amt und ehemaligen Präsidenten der Bundesärztekammer, Professor Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, besonders wichtig sagte der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke. Neben seinen steten Bemühungen, die ärztliche Freiberuflichkeit sowie die Therapiefreiheit und die Patientenorientierung in das Zentrum der Diskussion zu rücken sei Hoppe auch immer wieder für die ethische Fundierung des Arztberufs und eine professionelle ärztliche Haltung eingetreten. „Wir sehen die Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung daher auch als ein Forum zur Diskussion grundlegender Fragen des ärztlichen Handelns und seiner Bezüge zur Gesellschaft, so Henke.
HK