Düsseldorf, 27.6.2016. Am 18. Juni 2016 fand das 5. Kammerkolloquium zur sozialen Situation und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen vor rund 100 Teilnehmern im Haus der Ärzteschaft statt. Auf Basis epidemiologischer Daten zur Kinder- und Jugendgesundheit diskutierten Referenten wie Podium über die zukünftige Ausrichtung der Prävention und welche Möglichkeiten das Präventionsgesetz dabei eröffnet. Die Datenlage, so das Fazit aller Referenten, sei eindeutig: Armut und Krankheit der Eltern wirkten sich erheblich und langfristig auf den Gesundheitszustand und die Bildungschancen von Kindern aus. Doch welche Hilfe, welches Kind an welcher Stelle bedürfe, könne von Kommune zu Kommune, sogar von Schule zu Schule, von Familie zu Familie höchst unterschiedlich sein. Kommunale Daten wie die Schuleingangsuntersuchungen in Kombination mit Daten zur Sozialraumstruktur machten Bedarfe sichtbar und böten Grundlage für ein gutes vernetztes Handeln der Akteure in unterschiedlichen Settings. Ebenso wichtig wie die Berücksichtigung repräsentativer Daten als Planungsgrundlage von Präventionsmaßnahmen seien aber auch die Evaluation der Maßnahmen und deren transparente Darstellung. Nur so könne gute Qualität im Rahmen der Prävention gesichert und Prävention weiter ausgebaut werden.
Daten für Taten
Es war ein kleines Jubiläum: Zum 5. Mal hatte der Ausschuss Öffentliches Gesundheitswesen der Ärztekammer Nordrhein unterschiedliche Professionen ins Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft eingeladen, um über das Thema Kindergesundheit aus unterschiedlichen Perspektiven zu debattieren. „Mit unseren Kolloquien möchten wir dazu beitragen, Präventionsansätze unterschiedlicher Akteure auf Kommunaler-, Landes- und Bundesebene bekannt zu machen, in einen interprofessionellen Dialog einzutreten, um darüber zu einem besseren und vernetzten Arbeiten zu kommen“, sagte Ulrich Langenberg, Geschäftsführender Arzt der Ärztekammer Nordrhein, in seiner Begrüßung.
„In Deutschland sinkt die Kinderarmut trotz guter Konjunktur nicht. In NRW sind über 600.000 Kinder und Jugendliche von Armut betroffen und leben mit ihren Familien unterhalb der Armutsgrenze“, erläuterte Univ. Professor Dr. med. Mayatepek, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), in seinem Grußwort die Ausgangslage, von der Prävention für Kinder aus gedacht werden müsse. Mit der sozialen Lage seien viele Erkrankungen und Entwicklungsstörungen verbunden. Um hier gezielt Prävention planen zu können, brauche es Daten, die die Zusammenhänge und Ursachen für die jeweiligen Gesundheitsstörungen beschrieben.
Diese Daten lieferte für die Bundesebene Professorin Dr. Bärbel-Maria Kurth, Leiterin der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung am Robert-Koch-Institut. Sie stellte Daten aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS), Basiserhebung (2003-2006) und Welle 1 (2009-2011) vor. Daten aus beiden Studien zeigten, dass das Risiko für einen nur mittelmäßigen bis sehr schlechten Gesundheitszustand bei Jungen und Mädchen mit niedrigem sozioökonomischen Status um das 3,4- beziehungsweise 3,7 Fache erhöht ist im Vergleich zu Kindern mit hohem sozioökonomischen Status. So seien Kindern- und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozialen Status öfter von ADHS betroffen, trieben seltener Sport , seien häufiger übergewichtig und nähmen seltener an Vorsorgeuntersuchungen teil. Erwähnenswert sei in diesem Zusammenhang aber auch, dass unterschiedliche Schultypen gesundheitliche Risiken ändern könnten. So zeigten die Daten, dass sich die Gesundheitschancen von Jugendlichen aus Familien mit niedrigem Sozialstatus verbesserten, wenn sie ein Gymnasium besuchten. Hier müssten noch die Wirkmechanismen untersucht werden, um sinnvolle präventive Ableitungen zu ziehen.
Ergänzend zu den KIGGS-Daten steuerte Professor Dr. Matthias Richter, Direktor des Instituts für medizinische Soziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Daten aus der internationalen „Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO“ von 2013/2014 bei. Eines der Ergebnisse dieser Studie sei, dass der Anteil rauchender Jugendlicher zwar in den letzten Jahren deutlich abgenommen habe, dass aber Mädchen und Jungen mit niedrigem familiären Wohlstand etwa doppelt so häufig täglich rauchten wie Jugendlichen mit mittleren oder hohem familiären Wohlstand. Auch variiere der regelmäßige Tabakkonsum je nach Schultyp. Weitere Fakten der HBSC-Studie können in den Faktenblättern unter www.gbe-bund.de eingesehen werden.
„Wir brauchen die unterschiedlichen Daten, um zielgruppenspezifische, qualitätsgesicherte Präventionsmaßnahmen in den einzelnen Settings anbieten zu können“, sagte Dr. med. Heidrun Thaiss, Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. In den Settings Kita und Schule sieht sie die besten Chancen, die ungleichen Gesundheits- und Bildungschancen auszugleichen. Bislang sei es aber so, dass es viele unterschiedliche, zum Teil konkurrierende monothematische Präventionsangebote vor allem von Krankenkassen in den einzelnen Settings gäbe, ohne dass für die Kitas- und Schulen Qualitätsvorteile der einzelnen Angebote sichtbar würden. Auch die Nachhaltigkeit der Angebote würde zu selten geprüft. Aus ihrer Sicht würde das Präventionsgesetz helfen, diese unterschiedlichen Präventionsangebote in den jeweiligen Settings zu einem übergreifenden Konzept zusammenzuführen und die zugrundeliegenden Qualitätskriterien transparent zu machen.
„Auch der Medienkonsum ist stark an den sozioökonomischen Status der Familien geknüpft“, berichtete Professorin Dr. med. Dr. sportwiss. Christine Graf von der Sporthochschule Köln. Sie stellte Ergebnisse einer Kölner Studie aus 2015 zur Bildschirmnutzung im frühen Kindesalter vor. Ergebnisse daraus: Eine Mediennutzungsdauer von 60 Minuten am Tag überschritten 20,9% der 1-bis 6-jährigen Kinder. Hingegen der Empfehlung noch keine Bildschirmmedien zu nutzen, taten dies bereits 55,6 Prozent der ein- und zweijährigen Kinder. Prädiktoren des Medienkonsums von mindestens 60 Minuten waren das Alter, der Schulabschluss der Eltern sowie der Migrationsstatus . Kinder von Eltern mit einem hohen Schulabschluss, nutzten signifikant seltener Medien für mindestens 60 Minuten am Tag als Kinder, deren Eltern keinen hohen Schulabschluss hatten.
Mit zunehmender Nutzung der Bildschirmmedien ginge auch die Alltagsbewegung zurück. Die Empfehlung der Sportwissenschaftlerin: Kinder sollten sich im Alltag täglich mindestens 90 Minuten bewegen und unnötige Sitzzeiten weitestgehend vermeiden.
Volker Kersting, Leiter des Referats V.1. Stadtforschung und Statistik der Stadt Mülheim an der Ruhr, ergänzte die vorgestellten bundesweiten Daten mit Daten aus dem kommunalen Raum. Seine für Mülheim erstellten kombinierten Daten aus Schuleingangsuntersuchungen und Daten zur Sozialraumstruktur zeigten eindrücklich „Nirgendwo ist es so wie im Durchschnitt“ und Präventionsangebote müssten die Flexibilität besitzen, sich an Gegebenheiten vor Ort anzupassen und bestenfalls mit den Akteuren vor Ort gemeinsam ausgewählt und umgesetzt werden. Sein Plädoyer: Primärpräventive Maßnahmen zum Beispiel von Krankenkassen mit der Kommune gemeinsam umsetzen und Sozialraumbezogen weiterentwickeln. Nur so könnten die Zielgruppen tatsächlich überprüfbar erreicht werden. Außerdem plädierte er für eine stärkere Einbeziehung der medizinischen Versorgungsebene, beispielsweise der Kinderärztinnen und Kinderärzte zur besseren Ansprache und Erreichbarkeit von Familien aus prekären Lebenslagen, um möglichst frühzeitig Hilfe anbieten und präventiv wirken zu können.
Einige der Vorträge des Kolloquiums können auf der Homepage abgerufen werden.