Entschließungen der Kammerversammlung am 11. März 2023 im Wortlaut
Kritikpunkte am Notfallversorgungskonzept der Regierungskommission
Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein unterstützt die Regierungskommission für die Krankenhausreform in ihrem Anliegen, die Notfallversorgung der einzelnen Sektoren im Gesundheitswesen besser aufeinander abzustimmen und, soweit möglich, integrierte Strukturen zu schaffen. Insbesondere die Etablierung eines einheitlich genutzten, sektorübergreifenden Ersteinschätzungssystems wird unterstützt.
Allerdings werden von der Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein wichtige Aspekte der Stellungnahme der Regierungskommission kritisiert:
- Für die Ausgestaltung des vertragsärztlichen Notdienstes darf keineswegs das Ziel aus dem Auge verloren werden, die Stabilisierung der gesundheitlichen Situation der Patientinnen und Patienten bis zu den nächsten vertragsärztlichen Sprechstundenzeiten zu erreichen. Der vertragsärztliche Not- und Bereitschaftsdienst ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kein Surrogat einer regelmäßigen vertragsärztlichen Behandlung.
- Angebote einer KV-Notdienstpraxis zu Öffnungszeiten der vertragsärztlichen Praxen stehen diesem Grundsatz entgegen und würden zu einer unvertretbaren Mehrbelastung der Ärzteschaft und der nicht ärztlichen Mitarbeitenden führen, was eine weitere Abwanderung aus der Patientenversorgung absehbar werden lässt.
- Der in der Stellungnahme anerkannte Personalmangel in den Notaufnahmen/Bereitschaftspraxen/INZ von Kliniken und KV muss gerade zu einer ressourcenschonenden Beschränkung der Anzahl, der Öffnungszeiten und der erforderlichen Personalausstattung der INZ und KINZ und der telemedizinischen Angebote auf ein entsprechend dem Wirtschaftlichkeitsgebot nach SGB V genanntes Maß führen.
- Telemedizinische Angebote dürfen nur nach einer wissenschaftlichen Prüfung der Umsetzbarkeit und Risikoabwägung und stufenweise eingeführt werden. Dabei sind Videosprechstunden nur dann sinnvoll, wenn sie sowohl gegenüber telefonischen Kontakten einen Mehrwert bieten als auch dadurch bei vielen Patienten eine persönliche Untersuchung vermieden werden kann. Dies wird z.B. für die Fachgebiete HNO-, Augen- und Frauenheilkunde nicht gesehen.
- Ebenso wird ein telemedizinisches allgemein- und kinderärztliches Angebot in integrierten Leitstellen insbesondere zu regulären Praxisöffnungszeiten abgelehnt. Die haus- und kinderärztlichen Praxen kennen die von ihnen betreuten Patientinnen und Patienten und können sie besser und ressourcensparsamer versorgen. Außerdem würden dadurch Ärztinnen und Ärzte und nicht ärztliche Mitarbeitende für die Versorgung in den Praxen fehlen mit entsprechenden Lücken in der Regelversorgung.
- Die gleichzeitige bundesweite Einführung einheitlicher Strukturen in der Notfallversorgung wird als kritisch angesehen. Die Auswirkungen vieler Maßnahmen sind nicht absehbar und mit deren deutlichen Interaktionen keinesfalls evident wissenschaftlich kalkulierbar. Sinnvoller ist es, auf bewährten Strukturen in den Regionen aufzubauen, einzelne Maßnahmen in ausgesuchten Regionen umzusetzen und aus den Erfahrungen der Umsetzung zu lernen. Dadurch könnten aktuelle Änderungen in der Notdienstversorgung wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, wo gerade eine umfassende Reform der KV-Notfallversorgung kurz vor dem Abschluss steht, auch gewürdigt werden und die Erfahrungen in die langfristige Entwicklung eingebracht werden.
- Für die Einführung von Facharztbezeichnungen und die Definition der Weiterbildungsinhalte und -zeiten sind die Ärztekammern zuständig. Die Vorgabe zur Einführung einer neuen Facharztqualifikation z.B. „Notfallmedizin“ durch die Politik und den Gesetzgeber wird ebenso wie die Forderung nach Zusatzqualifikationen durch die KVen abgelehnt. Das bestehende Angebot der ärztlichen Weiter- und Fortbildungen im Bereich der Notfallversorgung wurde unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnis und der medizinischen Erfordernisse in der Ärzteschaft konsentiert und als ausreichend differenziert angesehen.
Reform der Notfallversorgung (Regierungskommission)
Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein stellt fest, dass die Regierungskommission für die Krankenhausreform die tieferen Ursachen für die Fehlinanspruchnahme des Rettungsdienstes und der Krankenhausambulanzen durch ambulant zu versorgende Patienten nicht in den Blick genommen hat, sondern an Symptomen herumkuriert.
Eine spürbare Kostenbeteiligung in sozialverträglicher Ausgestaltung ist der einzig realistische Weg, den Versicherten den Wert der von ihnen beanspruchten Leistungen vor Augen zu führen, in der Höhe gestaffelt nach den Versorgungsstufen. Das würde mittelfristig auch die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung verbessern, denn die mögliche Vermeidung von Kosten ist ein guter Anreiz, sich um Gesundheitskompetenz selbst zu kümmern.
Hausarzt-Facharzt-Vermittlungsfall abschaffen und durch Entbudgetierung ersetzen
Die seit Anfang 2023 geltenden Regelungen zur Terminvermittlung bei Fachärztinnen und -ärzten durch Hausärztinnen und -ärzte und die Terminservicestelle (TSS) belasten die Vertragsärzteschaft mit Mehrarbeit und zusätzlicher Bürokratie. Eine spürbare Verbesserung der Patientenversorgung ist nicht erkennbar.
Die Kammerversammlung fordert daher die Politik auf, diese unsinnige, bürokratische Regelung zu streichen und zeitnah durch gesetzliche Maßnahmen zur Entbudgetierung aller Haus- und Fachärztinnen und -ärzte zu ersetzen.
Digitalisierungsstrategie: Patientenrechte und informationelle Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten müssen gewahrt bleiben
Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein sieht das Opt-out-Prinzip bei der elektronischen Patientenakte (ePA) weiter kritisch. Sie fordert im Hinblick auf die Digitalisierungsstrategie von Gesundheitsminister Lauterbach, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten auch bei der ePA gewahrt bleiben muss.
Zu diesem Zweck ist es erforderlich, dass das geplante Opt-out-Prinzip bei der elektronischen Patientenakte (ePA) einfach und intuitiv wahrzunehmen ist, sofern es digital umgesetzt wird.
Ist zur Wahl des Opt-out-Prinzips bei der ePA kein digitaler Weg vorhanden oder zumutbar, müssen Patienten ihr Wahlrecht auf Opt-out einfach, kostenfrei und bürokratiearm ausüben können.
Nutzer einer elektronischen Patientenakte müssen einfach festlegen können, welcher Arzt oder welcher sonstige Nutzer auf welche Gesundheitsdaten zugreifen darf (granuläre Zugriffsrechte). Ein „Alles oder Nichts“ ist der falsche Weg. Darüber hinaus ist das Recht des Patienten auf Nicht-Aufnahme bestimmter Daten in die ePA zu gewährleisten. Die Existenz einer ePA sowie diesbezügliche Zugriffsrechte müssen vom Patienten jederzeit barrierefrei geändert werden können.
Menschen, die nicht über Smartphones oder Computer verfügen oder mit digitalen Verfahren nicht vertraut sind, dürften bei der gesundheitlichen Versorgung nicht benachteiligt werden. Beispielsweise dürften Patienten, die auch künftig ihren Arzttermin direkt beim Arzt/der Ärztin, oder per Telefon vereinbaren möchten, nicht schlechter gestellt werden als diejenigen, die eine digitale Terminvermittlung nutzen.
Keine Marginalisierung von Ärzten und Ärztinnen
Die Präsidentin des Deutschen Pflegerats Christine Vogler verlautbarte am 21.09.21 in der Ärztezeitung: „Wir müssen weg von der Arztzentrierung" und der Abgeordnete des Landtages NRW und Gesundheitsmanager Serdar Yüksel forderte im Zusammenhang mit der Forderung nach mehr Studienplätzen für Mediziner: „…nicht mehr auf Ärzte zu setzen…“ und „Wir müssen weg von Faktor Arzt.“
Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein fordert daher alle ärztlichen Gremien auf, der Tendenz einer Marginalisierung der Funktion des Arztes im Gesundheitswesen energisch entgegenzutreten.
Einsparung von Porto- und Papierkosten bei der Selbsteinstufung zum Kammerbeitrag
Zur sparsamen Mittelverwendung und zur Förderung der Nachhaltigkeit gehört auch das Einsparen von Porto- und Papierkosten. Die Kammerversammlung fordert den Kammervorstand auf, hier durch eine Werbung für die digitale Selbsteinstufung zum Kammerbeitrag aktiv zu werden. Dadurch ließe sich jährlich Porto in Höhe eines fünfstelligen Eurobetrages einsparen.
Freiheit der ärztlichen Berufsausübung im Hinblick auf ärztliche Fernbehandlung gewährleisten
Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein fordert, dass die Freiheit der ärztlichen Berufsausübung im Hinblick auf die ausschließliche ärztliche Fernbehandlung, wie sie in der Berufsordnung der nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte normiert ist, gewahrt bleiben muss.
Insbesondere ist zu beachten, dass es generell oder im Einzelfall keine Verpflichtung geben darf, ausschließliche ärztliche Fernbehandlung durchführen zu müssen.
Eine solche Verpflichtung wäre ein direkter und tiefer Eingriff in die Art und Weise der Berufsausübung, der mit der Berufsausübungsfreiheit von Ärztinnen und Ärzten nicht vereinbar ist.
Überbordende Bürokratie muss weg
Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein fordert die Politik auf, die Bürokratielast – insbesondere die Abrechnungsbürokratie und oftmals redundante „Qualitätsbürokratie“ drastisch zu reduzieren. Wir Ärzt:innen wollen eine Rückbesinnung auf die eigentlichen ärztlichen Aufgaben und Tätigkeiten: die medizinische Versorgung und ärztliche Betreuung unserer Patienten.
Abbildung digitaler Möglichkeiten zum Kompetenzerwerb in die MWBO
Die Ärztekammer Nordrhein fordert die Gremien der Bundesärztekammer auf, neue Wege zum Kompetenzerwerb in der MWBO, z. B. durch digitale Anwendungen zu beraten und ggf. zu konsentieren.
Weiterbildung in der Schwangerschaft
Die Kammerversammlung fordert die Weiterbildungsbefugten im Kammerbereich auf, die Weiterbildung für schwangere Weiterzubildende möglichst gleichwertig zu nicht schwangeren Kolleginnen und Kollegen fortzuführen.
Studienplatzzahlerhöhung mit auskömmlicher Gegenfinanzierung
Die Kammerversammlung fordert die Landesregierung von NRW auf, die geplante Erhöhung der Medizinstudienplätze in den bestehenden Studiengängen an Hochschulen in NRW auch adäquat gegenzufinanzieren. Ebenso fordert die Kammerversammlung den Bund und die Länder auf im Rahmen der Verhandlungen zur Änderung der Approbationsordnung und deren Finanzierung von realistischen Studienplatzzahlen auszugehen, welche in Zukunft ausreichen, die ärztliche Versorgung flächendeckend in Deutschland zu gewährleisten.
BÄK Kalkulationstool eine einzigartige Chance
Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein begrüßt die Entwicklung des Personalbemessungstools der BÄK und fordert die Krankenhäuser im Lande auf, die Nutzung als Chance für Qualität in der Patientenversorgung mit adäquater, lebensnaher und zeitgerechter Personalausstattung voranzutreiben. Das BÄK Tool läutet einen längst überfälligen Paradigmenwechsel ein, denn bisher werden die Personalkosten nur auf der Basis der nicht repräsentativen Ist-Situation durch das InEK errechnet.
Leistungsgruppen der Krankenhausreform müssen sich an der Weiterbildungsordnung orientieren
Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein fordert die Bundesregierung auf, im Rahmen der aktuell geplanten Krankenhausreform ein System aus Leistungsgruppen einzuführen, das sich in erster Linie an der Weiterbildungsordnung der Ärzteschaft als Maßstab moderner ärztlicher Versorgung der Bevölkerung orientiert. Eine Definition von Leistungsgruppen anhand vorgegebener ICD-10- und OPS-Kodes sollte nur in begründeten Ausnahmen erfolgen, um klar definierte medizinische Leistungen zu steuern.
Die von der Regierungskommission für die Krankenhausreform skizzierte Systematik für Leistungsgruppen, die anhand der medizinischen Kodierung von Diagnosen und Prozeduren eine eindeutige Zuordnung zu Gruppen (Diagnose-bezogene Gruppen) definiert, wird abgelehnt. In Verbindung mit der Bezeichnung der Gruppen, analog der Facharzt-Bezeichnungen aus der Weiterbildungsordnung, wird eine tiefgreifende Definition der Fachgebiete durch den Gesetzgeber suggeriert. Die eindeutige Zuordnung von Diagnosen und Prozeduren zu einem Fachgebiet ist in vielen Fällen in einer Zeit von komplexer, teambasierter ärztlicher Versorgung nicht sachgerecht möglich.
Ausgestaltung der Vorhaltekosten im Rahmen der Krankenhausreform
Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein fordert die Bundesregierung auf, im Rahmen der aktuell geplanten Krankenhausreform neben einer fallzahlabhängigen Vergütung auch Elemente einer Vorhaltevergütung einzuführen. Die Vorhaltevergütung sollte insbesondere die Personalkosten für eine ausreichende medizinische Versorgung decken. Mit Blick auf die Bewältigung künftiger außergewöhnlicher Lagen, wie Pandemien, Naturkatastrophen und Extremereignisse, sollte an die Vorhaltevergütung auch die Bereitstellung dafür benötigter Infrastruktur gekoppelt sein. Dies gilt auch für die Einhaltung von Strukturqualitätsvorgaben für die Erbringung stationärer Medizin.
Ärztekammer Nordrhein fordert: NRW-Krankenhausplanung soll als Grundlage für die Krankenhausreform im Bund genutzt werden
Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein fordert Gesundheitsminister Lauterbach auf, die Krankenhausplanung in NRW als Grundlage für eine qualitätsorientierte Fortentwicklung der Krankenhauslandschaft in ganz Deutschland zu nutzen, statt sie in der Öffentlichkeit schlecht zu reden. Ziel der NRW-Krankenhausplanung ist es, eine flächendeckende Grundversorgung zu erhalten und zugleich eine qualitätsorientierte Spezialisierung bei komplexen Leistungen zu fördern. Ferner verfolgt die NRW-Krankenhausplanung das Ziel, die Leistungsgruppen mit den Vorgaben der Ärztlichen Weiterbildungsordnung in Einklang zu bringen, damit auch zukünftig Fachärztinnen und Fachärzte in der ganzen Breite ihres Gebietes weitergebildet werden können.
An DRG und Fallzahlen gekoppelte Vorhaltepauschalen lösen keines der DRG-gemachten Probleme
Die Kammerversammlung fordert den Bundesgesetzgeber auf, im Rahmen der geplanten Krankenhausreform das DRG-Finanzierungs-System konsequent abzuschaffen und nicht nur durch kosmetische Eingriffe aufzuhübschen.