Die Assistenz beim Suizid ist in Deutschland erlaubt. Einzige Voraussetzung: Die Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, muss freiverantwortlich getroffen werden. Doch wer definiert nach welchen Kriterien, ob das der Fall ist? Und welche Rolle sollten Ärztinnen und Ärzte dabei übernehmen? Darüber diskutierten Expertinnen und Experten Ende Januar in der Veranstaltungsreihe „Update Ethik“ der Ärztekammer Nordrhein.
von Heike Korzilius
Etwa 1.000 Menschen haben sich im vergangenen Jahr in Deutschland mithilfe einer Sterbehilfeorganisation das Leben genommen. Tendenz steigend. So vermeldete beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben 623 assistierte Suizide gegenüber 418 im Jahr 2023 und 229 im Jahr 2022. Die Vereine können seit 2020 hierzulande wieder legal tätig sein. Damals kippte das Bundesverfassungsgericht das 2015 eingeführte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, das unter anderem auf die Sterbehilfe-Vereine zielte, und bekräftigte das Recht eines jeden auf ein selbstbestimmtes Sterben. Das schließt nach Auffassung der Karlsruher Richter die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen – und zwar unabhängig von Alter oder Krankheit. Einzige Voraussetzung: Die Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, muss freiverantwortlich getroffen werden.
Das Bundesverfassungsgericht habe für die Freiverantwortlichkeit vier Kriterien zugrunde gelegt, erklärte Professor Dr. Dominik Groß, Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen beim Online-Kammersymposium Update Ethik der Ärztekammer Nordrhein am 29. Januar. Danach müssen die Suizidenten in der Lage sein, den eigenen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung zu bilden und nach dieser Einsicht zu handeln. Sie müssen über sämtliche Informationen – insbesondere über Alternativen zum Suizid – verfügen, um das Für und Wider ihrer Entscheidung abwägen zu können. Die Betroffenen dürfen zudem keinen unzulässigen Einflussnahmen oder Druck ausgesetzt sein. Schließlich kann von einem freien Willen nur dann ausgegangen werden, wenn der Entschluss, das eigene Leben zu beenden, von einer gewissen Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit getragen ist.
Ärztliche Expertise erwünscht
Vor diesem Hintergrund gebe es gute Gründe, Ärztinnen und Ärzte in die Suizidassistenz einzubeziehen, erklärte Groß. Sie verfügten über die fachliche Expertise, die freie Willensbildung zu beurteilen, über Alternativen zum Suizid, wie zum Beispiel die Möglichkeiten der palliativen oder psychotherapeutischen Versorgung, aufzuklären oder auch Medikamente zur Ausübung des Suizids zu verordnen. Das könne außerhalb des Medizinsystems kaum geleistet werden. Der Medizinethiker betonte zugleich, dass niemand zur Suizidassistenz gezwungen werden dürfe. Das sei neben der Freiverantwortlichkeit eine weitere Leitplanke, die das Bundesverfassungsgericht eingezogen habe. Auch Ärztinnen und Ärzte seien bei der Entscheidung für oder gegen eine Beihilfe zur Selbsttötung einzig ihrem Gewissen verpflichtet.
Auf die Bedeutung der medizinisch-fachlichen Kompetenz bei der Beurteilung der Freiverantwortlichkeit verwies auch die Vorsitzende des Nationalen Suizidpräventionsprogramms, Professor Dr. Barbara Schneider. So müssten jeweils im Einzelfall die Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Suizidwilligen festgestellt sowie eine geistige Behinderung oder eine psychische Störung, die die Urteilsfähigkeit einschränke, ausgeschlossen werden. Die Psychiaterin verwies darauf, dass eine psychische Erkrankung nicht per se freiverantwortliches Handeln ausschließe. Gestört sei die Einsichts- und Urteilsfähigkeit jedoch in der Regel bei Debilität und Demenz (Nichterkennen von Tatsachen), Wahn (falsche Beziehungssetzungen), Depression (gedankliche Einengungen) und zum Teil auch bei Abhängigkeitserkrankungen. „Was genau ,Freiverantwortlichkeit‘ in der Entscheidung zum Suizid bedeutet und inwieweit Menschen sich im suizidalen Prozess frei, autonom, unabhängig, wohlüberlegt entscheiden können, ist bisher nicht wissenschaftlich geklärt“, bilanzierte Schneider. Sie plädierte deshalb für einen Ausbau der Suizidprävention, damit die Betroffenen die Hilfe finden könnten, die sie benötigten.
Soll der Staat vor diesem Hintergrund Verfahrensregeln für Suizid und Suizidassistenz in einem eigenen Gesetz aufstellen, oder es beim Status quo belassen? Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber Spielräume zum Schutz vor Missbrauch gelassen. Doch die Meinungen darüber gehen auseinander. Sterbehilfevereine wie die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben oder Dignitas sehen keinen weiteren Handlungsbedarf. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei die Sache klar. Medizinethiker Groß sprach sich dagegen beim Kammersymposium für eine gesetzliche Regelung aus, die es den Menschen ermögliche, den eigenen Suizidwunsch umzusetzen, und die zugleich Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte schaffe, die Patienten im Einzelfall beim Suizid unterstützen wollten.
Für ein Gesetz scheinen auch die Fälle von zwei Ärzten zu sprechen, die zurzeit dem Bundesgerichtshof zur Revision vorliegen. Die Ärzte hatten jeweils schwer psychisch kranken Patienten beim Suizid assistiert und waren beide wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Die Gerichte waren in beiden Fällen zu der Ansicht gelangt, dass die Suizidenten aufgrund ihrer psychischen Erkrankung die Entscheidung, ihrem Leben ein Ende zu setzen, nicht mehr freiverantwortlich treffen konnten.
„Aktuell schreibt das Gesetz kein Verfahren für die Beurteilung der Freiverantwortlichkeit vor“, räumte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats und Direktor des Instituts für Rechtsfragen der Medizin an der juristischen Fakultät der Universität Düsseldorf, Professor Dr. iur. Helmut Frister, ein. Allerdings sei die Kategorie der Freiverantwortlichkeit für die Bewertung von Suizid und Suizidbeteiligung im Strafrecht schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 allgemein anerkannt gewesen. Das Strafrecht bewerte seit jeher die Unterstützung eines nicht freiverantwortlichen Suizids als eine Fremdtötung, die als fahrlässige Tötung, als Totschlag oder sogar als Mord strafbar sein könne. „An dieser strafrechtlichen Bewertung würde auch eine mögliche gesetzliche Regelung der Suizidassistenz nichts ändern“, betonte Frister.
Zum Umgang mit Suizidwünschen
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2020 veröffentlichte die Bundesärztekammer „Hinweise zum ärztlichen Umgang mit Suizidalität und Todeswünschen“. Sie beschreibt dort unter anderem, was Ärztinnen und Ärzten im Rahmen der Suizidbeihilfe erlaubt ist, aber auch was verboten bleibt, nämlich die Tötung auf Verlangen. Ebenfalls in Reaktion auf das Urteil hob der 124. Deutsche Ärztetag das berufsrechtiche Verbot des ärztlich assistierten Suizids auf. Er stellte zugleich klar, dass die Mitwirkung von Ärzten bei der Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe ist.
Im Mai 2024 hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin eine Handlungsempfehlung zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidassistenz in hausärztlichen Praxen veröffentlicht.
Gemeinsam mit weiteren medizinischen Fachgesellschaften hat die Akademie für Ethik in der Medizin bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) eine Leitlinie angemeldet, die Ärzte und andere Gesundheitsberufe im Umgang mit Anfragen nach Assistenz bei der Selbsttötung unterstützen soll. Veröffentlicht wird sie voraussichtlich im November 2025. Eine S3-Leitlinie zum Umgang mit Suizidalität, die in erster Linie auf die Suizidprävention zielt, haben mehrere psychiatrische Fachgesellschaften bei der AWMF angemeldet. Sie soll im Januar 2026 erscheinen.
Kein Abhaken von Checklisten
Der Jurist sprach sich beim Kammersymposium für eine gesetzliche Regelung bestimmter Aspekte der Suizidassistenz aus, darunter die Abgabemodalitäten für todbringende Medikamente. Zugleich warnte er vor dem „Abhaken von Checklisten“. Zwar legten die hohen Anforderungen, die man an die Freiverantwortlichkeit einer Suizidentscheidung stelle, zunächst ein stark formalisiertes, Fehler so weit wie möglich ausschließendes Verfahren nahe, sagte Frister. Doch kosteten solche Verfahren Zeit, die man beim assistierten Suizid nicht habe. Zudem laufe man Gefahr, eine ganzheitliche Betrachtung der individuellen Umstände aus den Augen zu verlieren. Eine gesetzliche Regelung werde nie alle Einzelfragen beantworten oder alle Graubereiche auflösen können. „Letztlich wird die Beurteilung der Freiverantwortlichkeit immer eine Einzelfallentscheidung bleiben, die die handelnden Personen zu verantworten haben“, betonte Frister. Er mahnte zugleich an, die gesellschaftlichen Ursachen anzugehen, die zu Suizidgedanken führten. Dazu gehörten beispielsweise neben einem Ausbau der Palliativmedizin auch Strategien gegen Einsamkeit. „Wir müssen ein Angebot schaffen, damit Menschen das Leben dem Tod vorziehen“, forderte er.
Neuer Anlauf nach der Wahl?
Das vorzeitige Aus der Ampel-Koalition hat dazu geführt, dass geplante gesetzliche Regelungen zur Suizidassistenz und zur Suizidprävention erst einmal auf Eis liegen. Ein bereits vom Kabinett gebilligtes Gesetz zur Suizidprävention schaffte es nicht mehr über die parlamentarischen Hürden. Auch die Arbeit an einem neuen parteiübergreifenden Gesetzentwurf zur Suizidbeihilfe konnte nicht mehr abgeschlossen werden, nachdem im Sommer 2023 bereits zwei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Sterbehilfe im Parlament gescheitert waren. Eine Gruppe von Abgeordneten um Lars Castellucci (SPD) beabsichtigte damals, die Arbeit von Sterbehilfe-Vereinen grundsätzlich wieder unter Strafe zu stellen, aber Ausnahmen vorzusehen, um dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu genügen. Eine Gruppe um Katrin Helling-Plahr (FDP) vertrat einen liberaleren Ansatz, stellte klar, dass Hilfe zur Selbsttötung straffrei und erlaubt ist und wollte sichere Zugangsmöglichkeiten zu tödlichen Medikamenten schaffen. Beide Gesetzentwürfe sahen zudem unterschiedliche Beratungspflichten und -fristen für die Sterbewilligen unter anderem durch Ärzte vor.
Den Abgeordneten des Deutschen Bundestags sei es nach wie vor ein Anliegen, zu einer gesetzlichen Regelung zu kommen, sagte Helling-Plahr jetzt beim Kammersymposium. „Wir haben uns auf eine Zusammenführung unserer Gesetzentwürfe verständigt, und ich hoffe, dass wir das in der nächsten Wahlperiode umsetzen können.“ Castellucci sprach sich erneut dafür aus, die Aktivitäten von Sterbehilfevereinen zu stoppen. „Es darf kein Geschäft mit dem Tod, keine Normalisierung dieser Art zu sterben geben,“ forderte er. Zugleich gelte es, Menschen einen Weg zu eröffnen, ihren Sterbewunsch zu realisieren.