Klimakatastrophe, Pandemie, Krieg – Krisen bestimmen die Gegenwart und stellen Grundpfeiler der Gesellschaft wie Frieden oder wirtschaftliche und soziale Stabilität infrage. Das 27. Euskirchener Gespräch der Ärztekammer Nordrhein widmete sich vor diesem Hintergrund der Fähigkeit, die Ungewissheit der Zukunft auszuhalten und sie trotz allem aktiv zu gestalten.
von Ulrike Schaeben
Das „Ende der Gewissheiten“ war bereits im vergangenen Jahr Thema der „Euskirchener Gespräche“. Im November dieses Jahres widmete sich das Forum einer ähnlichen Frage: Wie können oder wollen wir uns angesichts paralysierender Gegenwartskrisen als Gesellschaft und persönlich die Zukunft vorstellen?
Professor Dr. phil. Heinz Bude, emeritierter Professor für Makrosoziologie der Universität Kassel, zeichnete die rasante Veränderung der deutschen Gesellschaft von der Musterschülerin zur „armen Frau Europas“ nach. Deutschland, lange Zeit Gewinner der Großkrisen in der Welt, sei mittlerweile von einer hochkompetitiven und hocheffektiven Dienstleistungsgemeinschaft zum Problemland geworden. Als jüngstes Symbol des Scheiterns sieht Bude den Bruch der Ampel-Koalition.
Wie konnte es soweit kommen? „Sind alle Deutschen faul oder rassistisch geworden? Gibt es keine innere Motivation, keine Talente, keine Energie mehr in der deutschen Gesellschaft?“, fragte der Makrosoziologe und gab sich selbst die Antwort: „Weit gefehlt!“ Vielmehr beobachtet Bude, dass die grundsätzliche Auffassung darüber, wie wir als Gesellschaft zusammenwirken, wie wir neuen Herausforderungen begegnen und Zukunftsperspektiven entwickeln wollen, verloren gegangen ist. Die Gesellschaft empfinde das als Verlust kollektiver Einflussfähigkeit. Auf individueller Ebene identifizierte er einen Verlust des Gefühls der Zugehörigkeit. Viele Menschen hätten das Gefühl, dass ihnen ihr sicher geglaubter Platz in der Gesellschaft streitig gemacht werde – Degradierungsgefühle seien die Folge. Vor allem geht es Bude zufolge aber um die Frage: Wem gehört eigentlich die Zukunft? Wer hat das Recht, ein Bild von unserer Zukunft zu entfalten?
Hegemonie-Konkurrenz mit China
Die deutsche Perspektive treffe dabei auf eine weltgesellschaftliche Situation der Hegemonie-Konkurrenz zwischen den USA und China – mit dem entsprechenden Konflikt über das zukunftsweisende Gesellschaftsmodell. Daneben stehe das europäische Modell des Souveränitätsgewinns durch Souveränitätsabgabe innerhalb der Europäischen Union. Obwohl weltweit mit großer Bewunderung gesehen, scheine die Idee der Europäischen Union, die geprägt sei von ökologischer Sensibilität und ökonomischer Effizienz, gleichzeitig der Kern ihres wirtschaftlichen Ruins zu sein, erklärte Bude.
Idee des Individuums
Hoffnung schöpft der Makrosoziologe aus der europäischen Idee des Individuums: „Die Idee, dass jedes Individuum eine Stimme hat und dass es die Vielstimmigkeit der Gesellschaft gibt, die letztlich auf die Stimmen der jeweils Einzelnen zurückgeht, ist das größte Versprechen Europas für die Weltgesellschaft.“ Dabei sei nicht das hegemoniale Individuum gemeint, das über andere triumphieren will, sondern das Individuum der Unklarheiten, der Fantasien, der Innovationen und der Öffnung von Türen in eine andere Zukunft.
Professor Dr. Dr. phil. Thomas Fuchs, M.A., Karl-Jaspers-Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg, bezeichnete die gegenwärtige Sicht des Menschen auf sich selbst als hoch ambivalent. Einerseits messe er sich die gottgleiche Macht zu, künstliche Intelligenz, künstliches Leben oder sogar Bewusstsein zu erzeugen. Der Mensch beginne, seine eigene biologische Optimierung in die Hand zu nehmen, um sich zum Übermenschen umzuformen und am Ende womöglich Unsterblichkeit zu erlangen. Auf der anderen Seite jedoch stehe ein tiefer Pessimismus, gepaart mit menschlicher Selbstverachtung.
Fuchs führte diese Ambivalenz auf ein Schwanken zwischen Allmachts- und Ohnmachtsgefühlen zurück, dem letztlich ein kollektiver Narzissmus zugrunde liege. Der Mensch versuche, eine innere Leere zu kompensieren, indem er durch die Spiegelung seiner selbst in anthropomorphen Maschinen, in digitaler Intelligenz und in virtuellen Bildern ein ideales Selbstbild erschaffe. Dies führe jedoch zu einem paradoxen Resultat: „Zunehmend glauben wir an die Überlegenheit unserer eigenen künstlichen Geschöpfe, beginnen uns unseres Daseins als Wesen aus Fleisch und Blut zu schämen, und die Selbstüberhohung schlägt am Ende in Selbsterniedrigung um.“ Angesichts dieser Entwicklung plädierte Fuchs für einen neuen Humanismus, der auf der Einbettung des Menschen in eine ökologische Umwelt des Lebendigen basiert. Das Zusammenleben in Beziehungen münde schließlich in der Verantwortung, die es füreinander und für das Leben zu übernehmen gelte.
Medizin trifft Philosophie
Die Fortbildungsreihe der „Euskirchener Gespräche“ will eine Brücke schlagen zwischen Medizin und Philosophie. Idee und Konzept stammen von dem Euskirchener Neurologen und Psychiater Dr. Hubertus Rüber. Veranstaltet wird sie von der Ärztekammer Nordrhein. Deren geschäftsführender Arzt, Dr. Christian Köhne, moderierte das 27. Euskirchener Gespräch.
Dr. phil. Ulrike Schaeben ist Referentin der Ärztekammer Nordrhein.