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Dr. Carolin Stoltidis-Claus, Internistin und Gefängnismedizinerin

„Viele meiner Patienten sind im Leben falsch abgebogen“

11.12.2024 Seite 43
RAE Ausgabe 1/2025

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 1/2025

Seite 43

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Job, Beruf, Berufung? – An dieser Stelle berichten junge Ärztinnen und Ärzte über ihren Weg in den Beruf, darüber, was sie antreibt und warum sie – trotz mancher Widrigkeiten – gerne Ärztinnen und Ärzte sind.

RhÄ: Frau Dr. Stoltidis-Claus, was mögen Sie an der Arbeit im Gefängnis?
Stoltidis-Claus: Am besten an der Gefängnismedizin gefällt mir, dass wir ein sehr breites Spektrum an Erkrankungen versorgen — tatsächlich noch breiter als in der städtischen Hausarztpraxis. Von der Wundbehandlung bis hin zu psychischen Erkrankungen versuchen wir primär, alles innerhalb der Gefängnismauern zu behandeln. Dazu sind wir hier sehr gut aufgestellt. Wir können unter anderem EKGs, Ultraschallund Röntgenuntersuchungen durchführen— schließlich arbeiten wir in der Gefängnismedizin nach dem Äquivalenzprinzip: Den Gefangenen steht eine gleichwertige Versorgung zu wie den Menschen in Freiheit. Für komplizierte Eingriffe überführen wir die Häftlinge in das Justizvollzugskrankenhaus in Fröndenberg im westfälischen Unna. Ich habe außerdem hier in der JVA mehr Zeit für meine Patienten als in der Praxis.

RhÄ: Mit welchen Beschwerden kommen die Patienten zu Ihnen?
Stoltidis-Claus: Die meisten Krankheitsbilder, mit denen die Gefangenen in meine Sprechstunde kommen, kenne ich aus der Hausarztpraxis, zum Beispiel Diabetes, hoher Blutdruck oder Rückenschmerzen. Viele Gefangene arbeiten in Werkstätten, sodass ich gelegentlich auch Arbeitsunfälle behandele. Doch wir versorgen hier auch Erkrankungen, mit denen man im „normalen“ ärztlichen Alltag seltener in Berührung kommt, wie beispielsweise Skabies. Bei Gefangenen, die bereits länger in Haft sind, stellt sich vergleichsweise häufig ein Vitamin-D-Mangel ein. Auch die Substitutionstherapie bei Suchtkranken gehört im Gefängnis zum Alltag, das gehörte in der Hausarztpraxis nicht zum Spektrum. Darüber hinaus leiden überproportional viele Häftlinge unter psychischen Erkrankungen.

RhÄ: Wie erleben Sie den Alltag hinter Gittern?
Stoltidis-Claus: In der JVA steht die Sicherheit an erster Stelle. Der Weg in mein Büro führt durch eine Sicherheitsschleuse, wo mir der diensthabende JVA-Beamte einen Anstaltsschlüssel aushändigt. Insgesamt muss ich zwölf Türen auf- und wieder zuschließen, bis ich in mein Büro komme. Die Patientenvisite mache ich immer in Begleitung einer Pflegefachkraft, die eingreifen könnte, falls ein Patient handgreiflich werden sollte. Wenn Gefangene aggressiv und gewaltbereit auftreten, haben wir die Möglichkeit, unsere Visite durch eine Sprechklappe an der Tür abzuhalten, aber das ist eher selten nötig. Tatsächlich bin ich bisher in keine gefährliche Situation geraten und fühle mich in der JVA sogar sicherer als beispielsweise während so mancher Nachtschicht in der Krankenhaus-Notaufnahme.

RhÄ: Was sind Gefangene für Patienten?
Stoltidis-Claus: Hier in der JVA arbeite ich im Haftbereich für männliche Strafgefangene, die — verglichen mit dem Altersdurchschnitt in der Hausarztpraxis — überwiegend jung sind. Viele Patienten hatten außerhalb der Gefängnismauern kaum oder keinen Zugang zum Gesundheitswesen, sodass sie häufig sehr dankbar sind, dass ich mich jetzt um ihre gesundheitlichen Probleme kümmere. Viele der Gefangenen stammen aus sozial schwachen Verhältnissen, nicht wenige kommen aus zerrütteten Elternhäusern und sind irgendwann im Leben „falsch abgebogen“. Für diese Patienten habe ich großes Mitgefühl. Ich betreue aber auch Patienten, die wegen Kapitalverbrechen verurteilt sind. Das lässt einen je nach Delikt nicht völlig kalt. Aber auch in solchen Fällen bleibe ich sachlich und führe mir stets vor Augen, dass meine Aufgabe rein die medizinische Versorgung ist, die ich in gleichem Maße verantwortungsbewusst durchführe wie bei jedem anderen Patienten auch.

RhÄ: Gibt es etwas, dass Ihnen an Ihrer Arbeit nicht so gut gefällt?
Stoltidis-Claus: Als Gefängnisärztin trägt man die medizinische Verantwortung ganz überwiegend alleine und muss sehr selbstständig und sicher Entscheidungen treffen. In manchen Fällen hätte man gerne die Meinung eines Chefarztes oder einer Chefärztin dazu, von dem oder der man noch etwas lernen kann. Mitunter ist es etwas schade, wenn man über Wochen eine gute Behandlung bei jemandem etabliert hat und der Vollstreckungsplan dann eine Verlegung in eine andere Haftanstalt vorsieht. Aber in dem Wissen, dass in allen Haftanstalten eine ärztliche Versorgung sichergestellt ist, kann man seine Patienten eigentlich immer guten Gewissens übergeben.

RhÄ: Lesen Sie eigentlich noch Krimis?
Stoltidis-Claus: Tatsächlich ja, wenn ich dazu komme lese ich ganz gerne True-Crime-Geschichten.

Das Interview führte Marc Strohm

Dr. Carolin Stoltidis-Claus (39) studierte Medizin in München. Ihre Weiterbildung zur Fachärztin für Innere Medizin absolvierte sie im Kölner Cellitinnen-Krankenhaus St. Franziskus und arbeitete anschließend drei Jahre lang in einer Hausarztpraxis. Seit Januar 2024 ist die gebürtige Dresdnerin in der Justizvollzugsanstalt Köln als Gefängnisärztin angestellt – eine Arbeit, die sie besser mit ihrem Familienleben vereinbaren kann, wie sie betont.