Die Teillegalisierung hat den so nicht vorhergesehenen Effekt, dass Cannabis auf ärztliches Privatrezept mittlerweile im Internet problemlos eingekauft werden kann. Dabei agieren die Anbieter in einer berufsrechtlichen Grauzone.
von Thomas Gerst
Im Grunde kann man diesen Vorgang gesundheitspolitisch nur als Desaster werten. Da wurden im Zuge der Teillegalisierung von Cannabis vielerlei restriktive Vorschriften formuliert, mit denen der Anbau von Cannabis-Pflanzen im privaten Umfeld oder in Anbauvereinigungen erschwert und nur in begrenzten Mengen ermöglicht wird. Genehmigungshürden führen dazu, dass bis Anfang November in Nordrhein-Westfalen erst sieben Vereine von den Bezirksregierungen die Genehmigung für den Anbau und die Abgabe von Cannabis an die Vereinsmitglieder erhielten. Von den Anträgen, die den Bezirksregierungen Düsseldorf und Köln vorliegen, wurde bis zu diesem Zeitpunkt noch keiner positiv beschieden.
Dagegen blieb offenbar unberücksichtigt, dass mit der Teillegalisierung die Verordnung von Cannabis-Arzneimitteln seit dem 1. April 2024 nicht mehr dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt und Cannabis damit von Ärztinnen und Ärzten zu medizinischen Zwecken auf dem „normalen“ Rezept verordnet werden kann. Dies machen sich nun Anbieter im Internet für den Handel mit ärztlich verordnetem Cannabis zunutze. Interessenten können mittlerweile aus einem breiten Angebot im Internet auswählen. In einer aktuellen Stunde im Bundestag am 15. November zur Cannabis-Legalisierung gab es hierzu heftige Kritik aus der CDU/CSU-Fraktion. Der Bundesgesundheitsminister habe das Gesundheitswesen zum Cannabis-Marktplatz gemacht. Dieser sieht sich hier allerdings nicht in der Verantwortung und verweist auf die Berufsordnung für Ärzte, nach der diese einer missbräuchlichen Verwendung ihrer Verschreibung keinen Vorschub leisten dürfen. Es sei also Aufgabe der Heilberufe selbst und der zuständigen Überwachungsbehörden der Länder, Missbrauch zu verhindern.
Zahlen aus dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) über den Import von Cannabis zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken zeigen, dass der Verbrauch rapide in die Höhe schnellt. Im dritten Quartal 2024 wurden 20.119 Kilogramm Cannabis importiert, gegenüber 8.143 Kilogramm im ersten und 11.634 Kilogramm im zweiten Quartal 2024. Setzt sich diese Entwicklung auf dem Niveau des dritten Quartals fort, hätte sich der Import im zweiten Halbjahr 2024 gegenüber dem ersten Halbjahr mehr als verdoppelt.
Interessenten können sich mittlerweile schnell einen Überblick verschaffen über die Internet-Anbieter von Cannabis auf Rezept und deren Preise. „Sicher – Diskret – In Minuten geliefert! Berlin, Hamburg, München in 60–90 Min. Ganz Deutschland in 1–3 Tagen“ wirbt beispielsweise ein Anbieter für sein Cannabisblüten-Angebot. Stellt man sich beim Ausfüllen des Online-Fragebogens nicht allzu dumm an, gelangt man nach Zahlung einer geringen Gebühr rasch ohne direkten Arztkontakt zur Cannabisblüten-Produktauswahl. Nach Rezeptausstellung durch „qualifizierte Ärzte“ wird der Einkauf auf Wunsch direkt nach Hause geliefert. Rechtlich sieht sich der Anbieter auf der sicheren Seite und verweist darauf, dass bei Einhaltung anerkannter fachlicher Standards je nach Krankheitsbild kein persönlicher Kontakt zwischen Arzt und Patient erforderlich sei.
Diese Rechtsauffassung steht im Widerspruch zur Einschätzung der Bundesärztekammer (BÄK), nach der die Einhaltung der erforderlichen ärztlichen Sorgfalt mindestens voraussetze, dass die Indikation einer Verordnung aufgrund des persönlichen Arzt-Patienten-Gesprächs gewissenhaft geprüft wird. Das Ausfüllen eines Fragebogens ohne persönlichen Kontakt zwischen Patienten und Arzt sei nicht ausreichend. Ein erheblicher Verstoß liegt nach BÄK-Einschätzung vor, wenn Verordnungen ausschließlich auf Wunsch von Patienten und ohne Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen ausgestellt würden. Auch die Ärztekammer Nordrhein bezweifelt, dass bei der Verschreibung von Cannabis eine adäquate Fernbehandlung ohne direkten Arztkontakt möglich ist, da es sich hierbei um ein ehemaliges Betäubungsmittel mit erheblichem Missbrauchspotenzial und risikobehafteten Nebenwirkungen handele.
Allerdings stellt sich unweigerlich die Frage, wie sich eine berufsrechtliche Überprüfung durch die Ärztekammer realisieren lässt. Denn in der Tat agieren Online-Anbieter und online verordnende Ärzte von Cannabis in einer berufsrechtlichen Grauzone. Mit der Änderung der (Muster-)Berufsordnung im Jahr 2018 wurde den Ärzten die „ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien“ im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt bei Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt und der Patient über die Besonderheiten der ausschließlichen Fernbehandlung aufgeklärt wird. Grundsätzlich ist also eine Fernbehandlung auch ohne direkten Kontakt mit einem Arzt in medizinisch geeigneten Fällen denkbar.
Noch schwieriger bis unmöglich wird die Umsetzung berufsrechtlicher Maßnahmen, wenn Rezepte von Personen ausgestellt werden, die außerhalb der Zuständigkeit der Kammer agieren oder über die nicht bekannt ist, ob es sich überhaupt um Ärzte handelt. Auch die Apotheken werden beim Einlösen von Cannabis-Verordnungen auf Privatrezept kaum überprüfen können, ob es sich beim Verordner um einen berechtigten Arzt handelt.
Eine Handhabe gegen Internet-Anbieter, die Werbung machen für ärztlich verordnetes Cannabis, sieht die Bundesärztekammer im § 9 des Heilmittelwerbegesetzes. Dieser erlaube eine Werbung für eine Behandlung auf dem Wege der Fernbehandlung nur, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist. Für die Verordnung von Cannabis zu medizinischen Zwecken bestehe aktuell ein solcher Standard nicht.