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Armut macht Kinder krank

16.08.2024 Seite 14
RAE Ausgabe 9/2024

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2024

Seite 14

  • Gesundheitliche Chancengleichheit? Überproportional viele Kinder und Jugendliche aus weniger wohlhabenden Elternhäusern sind adipös. Das ist eines der Ergebnisse der aktuellen KIDA-Studie (2022-2023) des Robert Koch Instituts. © Ralf Gosch/stock.adobe.com
  • Demnach lag der Anteil der adipösen Kinder und Jugendlichen bei Familien mit niedrigem Haushaltseinkommen bei fast zehn Prozent. Bei den Kindern aus einem Elternhaus mit hohem Einkommen waren dagegen lediglich zwei Prozent der Kinder adipös. © elenbessonova/stock.adobe.com
Kinder aus sozial schwächeren Verhält-nissen sind häufiger gesundheitlich beeinträchtigt und adipös als Kinder aus wohlhabenderen Elternhäusern. In Nordrhein gibt es zahlreiche Initiativen, Vereine und Projekte, die es sich zum Ziel gesetzt haben, benachteiligte Kinder in ihren Lebenswelten zu stärken und so mehr gesundheitliche Chancengleichheit zu schaffen.

von Marc Strohm  
Hochhaus-Tristesse ist eines der ersten Ergebnisse, wenn man „Chorweiler“ in die Suchmaske bei Google eingibt. In dem Stadtteil im Norden von Köln liegt die Arbeitslosenquote höher als im Kölner Durchschnitt und von den dort lebenden Kindern unter 15 Jahren wuchs nach Angaben des Statistischen Jahrbuches der Stadt Köln aus dem Jahr 2022 fast jedes zweite in einer Familie auf, in der mindestens eine im Haushalt lebende Person Arbeitslosengeld II bezog. Die finanziell prekäre Lage im Elternhaus schlägt sich auch auf die Gesundheit der Kinder nieder: Der Gesundheitsreport der AOK Rheinland/Hamburg aus dem Jahr 2022 zeigte, dass Kinder in den sozial schwächeren Vierteln Kölns eher zu Sprachentwicklungsstörungen, Allergien, motorischen Entwicklungsstörungen oder Süchten neigten als Kinder aus einkommensstärkeren Verhältnissen. Ebenfalls verbreitet ist in den sozial schwachen Gegenden starkes Übergewicht: So waren dem Report zufolge beispielsweise 8,6 Prozent der Chorweiler Kinder adipös – fast doppelt so viele wie in der Kölner Innenstadt. „Die Gründe hierfür sind vielseitig“, sagt die in Köln-Chorweiler arbeitende Sozialpädagogin Birgit Skimutis im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Häufig mangle es bei den Familien schlichtweg an ausreichendem Wissen über gesunde Ernährung, nicht selten würden Süßigkeiten genutzt, um Kinder zu belohnen oder quengelnde Kinder ruhigzustellen. Auf dem Speiseplan stehe häufig fettiges Essen und viel Weißbrot. Bereits kleine Kinder bekämen von ihren Eltern süße Limonaden in ihre Trinkfläschchen gefüllt. Der einfache Grund: Die ungesunden Speisen machten schnell satt und seien obendrein erschwinglich, so Skimutis. 

Die Sozialpädagogin leitet in Chorweiler die Kümmerei, ein Hilfsangebot, das Ratsuchenden, die sich im Gesundheits- und Sozialsystem nur schwer bis gar nicht zurechtfinden, seit 2021 Orientierung bietet. Die Ärztinnen und Ärzte aus dem Viertel verweisen ihre Patienten häufig an die Kümmerei, wenn sie bei der Untersuchung Probleme feststellen, die über das Medizinische hinausgehen. Folglich unterstützt das multi-ethnische und multiprofessionelle Team der dortigen Gesundheitslotsen bei Schimmel in der Wohnung, übersetzt Arztbriefe in andere Sprachen und erarbeitet nun seit Neustem gemeinsam mit den Chorweiler Kindern Ideen, wie sie ein gesünderes Leben führen können. „Die örtlichen Kinderärzte haben uns zurückgemeldet, dass sie zahlreiche kleine Patientinnen und Patienten haben, die unter Adipositas leiden. Doch häufig mangelt es im Praxisalltag schlichtweg an Zeit, um sich detailliert mit den individuellen Lebensumständen der Familien und den daraus resultierenden Ursachen von Adipositas zu beschäftigen“, sagt Skimutis. Häufig zeigten die Eltern auch kein Problembewusstsein. Das starke Übergewicht der Kinder werde im Arztgespräch kleingeredet oder abgetan. Auf Initiative eines engagierten Kinderarztes aus der Nachbarschaft habe die Kümmerei deshalb ein Projekt aufgelegt, um mehr über die Lebenswirklichkeit der Chorweiler Kinder herauszufinden. Mangelt es im Stadtteil Chorweiler an Spielplätzen? Werden diese nicht genutzt, weil sie verdreckt sind? Oder haben sich die Interessen der Kinder – insbesondere seit Corona – in digitale Welten verlagert? Über Fragen wie diese diskutieren die Gesundheitslotsen der Kümmerei regelmäßig mit elf Kindern und Jugendlichen zwischen zwölf und neunzehn Jahren aus dem Viertel. Deren Familien stammen aus der Türkei, aus Afghanistan, dem Iran, aus Bulgarien oder der Ukraine. „Auf lange Sicht wollen wir die von den Kindern erarbeiteten Ideen dann für alle adipösen Kinder in Chorweiler umsetzen“, sagt Skimutis. 

Epidemie Adipositas 

Nicht nur in Köln-Chorweiler ist die Zahl der stark übergewichtigen Kinder hoch. Auch in den sozial schwächeren Kölner Stadtteilen Kalk und Mülheim ist Adipositas bei Kindern verbreitet. Dabei bleiben die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Kindesalter oft ein Leben lang: Aus vielen adipösen Kindern werden adipöse Erwachsene, deren Risiko für Diabetes mellitus und Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich erhöht ist. Von ihren Mitschülern werden stark übergewichtige Kinder nicht selten gehänselt und schikaniert, worunter die seelische Gesundheit leidet, bei manchen Kindern sind Depressionen die Folge. In der Schule haben diese Kinder häufig mehr Fehlzeiten und zeigen schlechtere Leistungen. Die Coronapandemie habe die Situation zusätzlich verschärft, erklärt Professorin Dr. Stephanie Stock im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Die Ärztin und Gesundheitsökonomin leitet kommissarisch das Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie an der Universitätsklinik Köln und ist zugleich Konsortialleiterin des Projekts frühstArt, ein nordrheinweites Versorgungsangebot für übergewichtige Kinder zwischen drei und sechs Jahren. Das aufsuchende Angebot soll Stock zufolge die kinderärztliche Regelversorgung ergänzen und dabei helfen, die gesundheitlichen Ressourcen von betroffenen Familien zu stärken. Kinderärzte können ihre stark übergewichtigen kleinen Patienten in das Projekt einschreiben. Im Interventionsarm der Studie werden Familien ein Jahr lang zu Hause von einem speziell fortgebildeten Coach begleitet, der sich ein Bild von den Lebensumständen der Familien macht und ihnen praxisnahe Tipps für mehr Bewegung, eine bessere Ernährung, geregeltere Zubettgeh-Zeiten sowie einen reduzierten Medienkonsum an die Hand gibt. Die Coaches haben Stock zufolge in der Regel eine Ausbildung als Ernährungs- oder Gesundheitswissenschaftler oder zum Sporttherapeuten absolviert. Zusätzlich erhielten sie eine Schulung zum Adipositas-Trainer. Bestehe bei Familien ein besonderer Unterstützungsbedarf, könnten die Kinder eine ambulante Reha absolvieren, die in der Sporthochschule Köln durchgeführt wird. An zwei Tagen in der Woche würden für die Kinder dann Spiel, Spaß und Bewegung auf dem Programm stehen. „Wir wollen aus den Kindern keine Hochleistungs-sportler machen. Das Angebot ist auch nicht als Physiotherapie zu verstehen. Wir möchten, dass die Kinder Spaß an der Bewegung entwickeln“, sagt Stock. Die in der Reha angebotenen Sportarten seien dabei so gewählt, dass sie auch zuhause mit nur wenigen Hilfsmitteln weitergeführt werden könnten. Unter anderem stünden Ballsport und Ausdauerübungen mit einem Springseil auf dem Plan. 

Ausreichende Bewegung und gesunde Ernährung als Kinderrechte stehen in diesem Jahr anlässlich des Weltkindertags in Köln am 22. September im Rheinauhafen auch im Fokus des gemeinnützigen Vereins Domspitzen. Dazu haben die Domspitzen in Kooperation mit dem Deutschen Sport & Olympia Museum sowie dem Kölner „KinderSportFest“ einen Kinder-Sportparcours organisiert. „Auf mehrere Stationen verteilt können sich die Kinder in verschiedenen Sportarten ausprobieren“, erklärte dazu der Vorsitzende der Domspitzen Dr. Dr. Benjamin Fritz. Auch weit über den Weltkindertag hinaus setzt sich der Verein seit fast 25 Jahren für kranke und hilfsbedürftige Kinder ein: So stellten die Domspitzen im vergangenen Jahr unter anderem Geld für Schwimmkleidung, Schwimmbretter und Tauchmaterialien bereit, um Kinder aus sozial schwachen Familien an der Förderschule „Alter Mühlweg“ beim Erwerb von Schwimmabzeichen zu motivieren und zu unterstützen. Nicht zuletzt bietet die Lebenswelt Schule vielfältige Möglichkeiten, um die Gesundheit von Kindern zu stärken. Dass insbesondere in Kitas und Schulen eine gesunde und vorwiegend pflanzliche Ernährung mit saisonalen und möglichst regionalen Lebensmitteln umgesetzt wird, sieht die von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir Anfang des Jahres vorgestellte Ernährungsstrategie „Gutes Essen für Deutschland“ vor. Dabei sollen die Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung bis 2030 verbindlich etabliert werden. 

Bereits im vergangenen Jahr legte Özdemir einen Gesetzentwurf für ein Werbeverbot für Lebensmittel vor, die zu viel Zucker, Fett und Salz enthalten, insbesondere wenn sich diese Werbung speziell an Kinder richtet. Vorgesehen ist unter anderem ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel im Fernsehen zu bestimmten Uhrzeiten sowie eine Bannmeile für entsprechende Plakatwerbung rund um Schulen und Kitas. Derzeit befinde sich der Gesetzentwurf in der Abstimmung mit den anderen Ressorts, heißt es auf der Homepage des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Ein breites Bündnis aus mehr als 35 Organisationen, Verbänden und Initiativen aus der Medizin, der Gesundheitsförderung, dem Verbraucherschutz und dem Kinder- und Jugendschutz bemängelte Mitte Juni diesen „Stillstand“, darunter der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte, die Deutsche Diabetes Gesellschaft sowie die Bundesärztekammer. In einem an Bundeskanzler Olaf Scholz gerichteten offenen Brief forderte das Bündnis eine rasche Umsetzung des geplanten Gesetzes. „Die Ampel-Koalition hat den klaren Auftrag aus dem Koalitionsvertrag, den Schutz der Kinder vor Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt sicherzustellen. Effektive Regelungen sind überfällig und dürfen nicht scheitern“, heißt es in dem Schreiben. 

Als mögliches Mittel, um die Adipositaszahlen und die damit verbundenen Erkrankungen wie Diabetes zu verringern, empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation eine Sondersteuer auf zuckerhaltige Getränke. Etliche Länder haben eine solche „Zuckersteuer“ bereits eingeführt. Großbritannien erhebt seit 2018 eine entsprechende Steuer. Seither sei nicht nur der Zuckergehalt in den Getränken gesunken, auch die Zahl der fettleibigen Jugendlichen sei rückläufig, zeigte eine Studie der Cambridge University. Insbesondere in den sozial schwächeren Gegenden habe sich bei den zehn- bis elfjährigen Mädchen das relative Risiko für Fettleibigkeit um neun Prozent verringert. 

Auch in Deutschland wird inzwischen über die Einführung einer Zuckersteuer diskutiert. Erst kürzlich sprachen sich neun Verbraucherschutzminister der Länder auf der Verbraucherschutzministerkonferenz für eine solche Steuer aus. Unterstützt wird dieses Anliegen auch von der Ärzteschaft. So befürwortete Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt beispielsweise, neben Alkohol und Tabak auch zuckerhaltige Lebensmittel steuerlich zu belasten. Daraus könnten dann beispielsweise Präventionsprogramme finanziert werden.
 

Mehr Bewegung im Schulalltag

Wie sich mehr Bewegung einfach in den Schulalltag integrieren lässt, zeigt die Bewegungsbox des Präventionsprogramms Gesund macht Schule von Ärztekammer Nordrhein und AOK Rheinland/Hamburg. Auf über einhundert Karteikarten finden Lehrkräfte und Mitarbeitende des Ganz-tages praxistaugliche Bewegungsideen, mit denen Koordinationsfähigkeit und motorische Geschicklichkeit gefördert und die Muskulatur der Schülerinnen und Schüler gestärkt werden kann. Mehr Informationen zur Bewegungsbox unter www.gesundmachtschule.de/programm/bewegung-und-entspannung

Aktiv werden 

Das Projekt frühstArt – gefördert durch den Gemeinsamen Bundesausschuss – ist ein Versorgungsangebot für adipöse Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren. Am Projekt teilnehmen können Kinder- und Jugendärzte, die ihre kleinen Patienten in das Programm einschreiben und den Fortschritt beim Abnehmen verfolgen. Die Pädiater arbeiten eng mit den Coaches zusammen. Teilnehmen können alle Pädiater aus Nordrhein. Interessierte Ärztinnen und Ärzte können sich direkt an das Projektteam wenden unter: E-Mail: fruehstart(at)uk-koeln.de, Tel.: 0221 478 309-19 / -22.  

Der gemeinnützige Verein Domspitzen e.V. hat sich die Hilfe und Unterstützung von kranken und benachteiligten Kindern zur Aufgabe gemacht. Unter dem Motto „Kinderleicht helfen“ sammelt der Verein unter anderem Geld für Hilfsprojekte. Weitere Informationen zu den Domspitzen unter: www.domspitzen.org.