RÄ: Warum haben Sie sich für die Neonatologie entschieden?
Bis: Zu Beginn meiner pädiatrischen Weiterbildung konnte ich mir das tatsächlich nicht vorstellen. Ich wollte eigentlich immer lieber Patienten versorgen, mit denen ich sprechen kann. Während meiner Weiterbildung habe ich dann für sechs Monate einen verpflichtenden Abschnitt in der Neonatologie absolviert. Da sprang der Funke über. Ich habe die Arbeit mit den Frühchen als sehr sinnstiftend erlebt: Viele unserer kleinen Patienten werden an der Grenze zur Lebensfähigkeit geboren und würden ohne unser Zutun nicht überleben. Wir können daher viel bewirken.
RÄ: Ihre kleinen Patienten befinden sich in einer Extremsituation, ebenso wie die Eltern. Ist das nicht emotional sehr belastend?
Bis: Natürlich sind die Sorgen der Eltern groß. Die Kinder kommen hier mit einem Geburtsgewicht ab circa 350 g zur Welt. Und leider ist es so, dass nicht alle Frühgeborenen überleben und einige sehr unreif geborene Kinder wohl ein Leben lang mit Beeinträchtigungen umgehen müssen. Den meisten können wir aber zu einem guten Start ins Leben verhelfen. Wir kümmern uns oft monatelang intensiv um die Frühchen und ihre Familien. Und ich freue mich immer noch jedes Mal aufs Neue, wenn unsere Bemühungen erfolgreich waren und die Eltern am Ende einer oft langwierigen Behandlung ihr „großes“ Kind in der Babyschale mit nach Hause nehmen können.
RÄ: Wie würden Sie Ihren Alltag beschreiben?
Bis: Alltagsroutine gibt es bei uns in der neonatologischen Intensivmedizin fast nicht. Tatsächlich haben Frühgeborene viele unterschiedliche Gesundheitsprobleme: Fast alle Babys brauchen Atemhilfe, Komplikationen bei Frühgeborenen sind beispielsweise nekrotisierende Darmentzündungen, Infektionen, Hirnblutungen, ein Pneumothorax oder auch ein persistierender Ductus arteriosus. Auf diese Komplikationen müssen wir jederzeit reagieren.
RÄ: Da müssen Sie fachlich aber sehr breit aufgestellt sein.
Bis: Das stimmt. Wir arbeiten innerhalb des Hauses interdisziplinär sehr intensiv zusammen, vor allem mit den Kinderchirurgen und den Kinderkardiologen. Zu unseren täglichen Aufgaben, nach denen Sie ja gefragt haben, gehören auch Verlaufskontrollen wie zum Beispiel die regelmäßige Ultraschalluntersuchung des Gehirns durch die Fontanelle, um rechtzeitig mögliche Blutungen zu bemerken, für die Frühchen in den ersten Lebenstagen besonders anfällig sind.
Dass unsere kleinen Patienten sich bei Schmerzen oder gesundheitlichen Beschwerden nicht artikulieren können, stellt eine Herausforderung der Neonatologie dar. Hier bin ich auch auf die Rückmeldung der erfahrenen Pflege angewiesen. Wir können beispielsweise an einer veränderten Atmung oder Hautfarbe erkennen, wenn es einem Baby nicht gut geht. Die Arbeit im Perinatalzentrum ist kein Nine-to-Five-Job, und ich bin mit ganzem Herzen dabei.
RÄ: Wie erleben Sie die Arbeit mit den Eltern?
Bis: Die Betreuung der Eltern ist ein wesentlicher Teil unserer Arbeit. Fast immer verläuft die Zusammenarbeit mit ihnen sehr harmonisch, denn wir beziehen sie von Anfang an in alle Maßnahmen mit ein. Konfrontiert mit einer Frühgeburt sind die meisten Paare natürlich verunsichert und tief besorgt um die Gesundheit ihres Kindes. Nicht wenige Eltern haben Berührungsängste, denn Frühchen wirken oft sehr zerbrechlich. Daran muss man sich erst gewöhnen.
RÄ: Wie können Sie denn eine gute Eltern-Kind-Beziehung fördern?
Bis: Wichtig ist zunächst einmal, die Sorgen der Eltern ernst zu nehmen, sie damit nicht allein zu lassen, und offen und klar über die gesundheitlichen Probleme der Kinder zu kommunizieren.
Mir ist wichtig, dass wir den Eltern schon früh einen engen Kontakt zu ihren Kindern ermöglichen. Sie sollen, wann immer möglich, ihre Kinder schon im Inkubator wickeln und halten. Auch der frühe Körperkontakt ist wichtig für die Entwicklung der Kleinen: beim möglichst täglichen „Känguruhen“ etwa liegt das Kind auf der nackten Haut der Mutter oder des Vaters, um Körperwärme und Geborgenheit zu spüren und den Herzschlag der Eltern zu hören. Diese intensive Art der Versorgung ist natürlich nur möglich, wenn Ärzte und Pflegekräfte im Team Hand in Hand arbeiten.
Das Interview führte Marc Strohm
Dr. Noémie Bis wurde 1989 im luxemburgischen Esch-sur-Alzette geboren und studierte Medizin in Österreich. Ihre pädiatrische Weiterbildung absolvierte sie im Bethanien Krankenhaus in Moers. Im vergangenen Jahr beendete Bis ihre neonatologische Schwerpunktweiterbildung im Evangelischen Krankenhaus Oberhausen und arbeitet dort seitdem als Oberärztin im Perinatalzentrum Level I.