Beleidigungen, Drohungen, Beschimpfungen, aber auch Tritte und Schläge – gewalttätige Übergriffe gegen Ärztinnen und Ärzte, Pflege- und Praxispersonal nehmen zu. Erst Ende September machte ein Vorfall in einem Krankenhaus in Essen Schlagzeilen: Sechs Mitarbeiter wurden nach der erfolglosen Reanimation eines Patienten von dessen Angehörigen angegriffen und zum Teil schwer verletzt. Dass es sich dabei nicht um eine gefühlte Zuspitzung der Lage handelt, legen aktuelle Umfragen nahe.
von Heike Korzilius
Ein Patient kommt 90 Minuten zu spät zu einem Termin in die Ambulanz und schreit und pöbelt herum, weil er eine halbe Stunde warten muss, bis er an der Reihe ist. Ein psychisch zwar auffälliger, aber nicht als gewalttätig bekannter Patient würgt eine Pflegekraft so, dass sie ärztlich behandelt werden muss, als sie ihm das Essen bringen will. Ein Patient ist mit dem Ergebnis seiner Operation nicht zufrieden, obwohl es fachlich nicht zu beanstanden ist, und überzieht den Chefarzt der Abteilung mit beleidigenden E-Mails, die in einer Morddrohung münden.
Es sind Vorkommnisse wie diese, die er zum Teil selbst erlebt hat, die Professor Dr. Marc Busche, Chefarzt der Abteilung für Plastische und Ästhetische Chirurgie am Klinikum Leverkusen, dazu bewogen haben, aktiv zu werden. Busche ist gemeinsam mit seiner Kollegin Jessica Odenthal, Leiterin des Betrieblichen Gesundheitsmanagements, seit 2022 Beauftragter der Geschäftsführung für Gewaltprävention am Klinikum. Zugleich sind beide Koordinierungsmitglieder des Präventionsnetzwerks #sicherimDienst, das die Landesregierung NRW in Zusammenarbeit mit der Polizei für sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes ins Leben gerufen hat. Zu den Aufgaben von Busche und Odenthal zählen regelmäßige Deeskalations- und Sicherheitsschulungen für die Mitarbeiter. Als polizeilich geprüfte Trainer für das Berufsspezifische Interventions- und Sicherheitstraining (BIUS) werden sie in Zukunft in erster Linie Kolleginnen und Kollegen zu Trainern ausbilden. Denn das Klinikum Leverkusen hat, auch unter dem Eindruck des Angriffs auf die Pflegekraft, entschieden, künftig allen 2.400 Mitarbeitern ein Deeskalations- und Sicherheitstraining anzubieten.
Die Dimension gewalttätiger Übergriffe gegen das Personal in medizinischen Einrichtungen im Land richtig einzuschätzen, ist schwierig. Die Polizeiliche Kriminalstatistik erfasst zwar medizinische Einrichtungen als Tatorte, nicht aber, wer dort gegen wen Gewalt ausübt. Ärztinnen und Ärzte sowie Pflege- oder Praxispersonal würden nicht separat als „Opfergruppe“ ausgewiesen, teilt das Landeskriminalamt (LKA) dem Rheinischen Ärzteblatt auf Anfrage mit. Laut einer quantitativen Erhebung der Kriminologischen Zentralstelle aus dem Jahr 2022 habe man in den vergangenen Jahren zwar einen stetigen Anstieg der Fallzahlen ausgewählter Delikte zum Nachteil von Rettungskräften verzeichnet, insbesondere im Bereich der Nötigung, so das LKA. Die Entwicklung der Fallzahlen spiegele allerdings nicht immer eine tatsächliche Zunahme der Kriminalität wider, heißt es einschränkend. Sie könne auch einem geänderten Anzeigeverhalten oder einer veränderten Kontrollintensität der Strafverfolgungsbehörden geschuldet sein. „Ob es sich bei den genannten Zahlen um kurzfristige Entwicklungen handelt oder sich ein langfristiger Trend zur Verrohung der Gesellschaft abzeichnet, lässt sich anhand der Datenlage nicht abschließend feststellen“, schreibt das LKA.
Um die Lage besser einschätzen zu können, haben die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) in diesem Jahr jeweils eigene Umfragen unter ihren Mitgliedern aufgelegt. Im April veröffentlichte die DKG die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung zur Gewalt gegen Klinikmitarbeiter, an der bundesweit 250 Allgemeinkrankenhäuser mit mehr als 100 Betten teilnahmen. Danach gaben 73 Prozent der Kliniken an, dass die Zahl der Übergriffe in ihren Häusern in den vergangenen fünf Jahren gestiegen sei. 53 Prozent verzeichneten eine mäßige und 20 Prozent eine deutliche Steigerung. 80 Prozent der Kliniken gaben an, dass weit überwiegend der Pflegedienst von Gewalt betroffen sei; bei der Hälfte der Kliniken stehen die Notaufnahmen im Zentrum der Übergriffe. Zu aggressivem Verhalten kommt es der Umfrage zufolge vor allem, wenn Alkohol oder Schmerzen im Spiel sind, Patienten psychisch auffällig sind oder es zu langen Wartezeiten kommt. Als eine der Hauptursachen von Gewalt nannten allerdings 73 Prozent der Kliniken auch einen allgemeinen Respektverlust gegenüber dem Krankenhauspersonal. Was die Zahl der gewalttätigen Übergriffe betrifft, geht die DKG nach eigenen Worten von einer erheblichen Dunkelziffer aus. Denn gerade kleinere Übergriffe würden vielfach weder intern gemeldet noch bei der Polizei angezeigt.
Beleidigungen gehören zum Alltag
An einer Online-Umfrage der KBV zu Gewalterfahrungen in den Praxen beteiligten sich im August rund 7.600 Ärzte, Psychologische Psychotherapeuten und Medizinische Fachangestellte. Die Ergebnisse ähneln denen aus den Krankenhäusern. Danach gaben 85 Prozent der Befragten an, dass Beschimpfungen, Beleidigungen oder Bedrohungen durch Patienten in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hätten. 48 Prozent erklärten, dass das auch für Fälle körperlicher Gewalt gelte. Fast jeder Zweite wurde in den vergangenen fünf Jahren mindestens einmal von einem Patienten körperlich angegriffen oder bedroht. Die Fälle reichten von Tritten gegen das Schienbein, Schubsen und Spucken bis hin zu schweren Angriffen. Jeder vierte von körperlicher Gewalt Betroffene schaltete die Polizei ein oder erstattete Anzeige. Weit verbreitet ist der KBV-Umfrage zufolge insbesondere verbale Gewalt. 80 Prozent der Befragten erlebten solche Vorfälle allein im vergangenen Jahr.
Die meisten Praxen beklagen in der Umfrage eine zunehmende Aggressivität und Respektlosigkeit von Patienten. Beschimpfungen und Beleidigungen gehörten mittlerweile zum Praxisalltag, berichteten Teilnehmer in Freitextantworten. Einen Grund für die gestiegene Gewaltbereitschaft sehen viele der Befragten in einem gestiegenen Anspruchsdenken der Patienten. Häufig gehe es dabei um zeitnahe Termine, Rezepte oder bestimmte Untersuchungen, die vergeblich eingefordert würden. Zugleich seien viele Patienten von den derzeitigen Rahmenbedingungen frustriert, was sich ebenfalls häufig in Beleidigungen und Beschimpfungen äußere.
Die Umfrageergebnisse beschäftigten Mitte September auch die KBV-Vertreterversammlung (VV). Sie sprach sich in einer Resolution für eine von der Bundesregierung angestrebte Verschärfung des Strafrechts aus, deren Ziel es ist, Angehörige von Polizei und Feuerwehr, Rettungskräfte sowie „dem Gemeinwohl dienende“ Personen besser vor Übergriffen zu schützen. Die KBV hatte ursprünglich darauf gedrängt, das Personal in den Arzt- und Psychotherapeutenpraxen explizit in die Gesetzesänderung einzubeziehen. Das ist zwar bislang nicht geschehen. Bundesjustizminister Marco Buschmann habe jedoch bekräftigt, dass die Praxen für ihn essenzieller Bestandteil der Daseinsvorsorge und damit von der im Gesetz stehenden „Gemeinwohl dienenden Tätigkeit“ umfasst seien, erklärte der KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Andreas Gassen vor der VV. Er habe sich mit dem Minister darauf verständigt, zunächst wissenschaftlich zu untersuchen, wie Praxen mit Gewalterfahrungen umgehen und ob diese strafrechtlich weiterverfolgt werden. Daraus sollten dann weitere Maßnahmen abgeleitet werden. Gassen stellte zugleich klar, dass die überwältigende Mehrheit der Patientinnen und Patienten in den Praxen nicht aggressiv auftrete und sogar Verständnis für die oftmals schwierige Situation der Praxismitarbeiter habe. Dennoch sei das Problem relevant.
Leitfaden zur Gewaltprävention
Im April dieses Jahres hat die Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW) den Leitfaden „Gewalt und Gewaltprävention im Krankenhaus“ veröffentlicht. Er richtet sich mit seinen Handlungsempfehlungen an die Geschäftsführungen und Führungskräfte der Kliniken. Viele Praxistipps können aber auf andere Bereiche im Gesundheitswesen übertragen werden. Grundsätzlich hält es die KGNW für unabdingbar, dass die Kliniken eine Null-Toleranz-Politik für Gewalt in ihrem Leitbild verankern. Handlungsempfehlungen gibt es für folgende Bereiche:
- Organisatorische Maßnahmen: ausreichende Personalstärke; kluge Dienstplangestaltung (keine Alleinarbeit, erfahrene Mitarbeiter unterstützen unerfahrene); internes Warn- und Meldesystem etablieren; Sicherheitsdienst beschäftigen; persönlicher Austausch mit der Polizei, schon bevor etwas passiert ist
- Personenbezogene Maßnahmen: Schulungen und regelmäßige Unterweisungen schaffen Gefahrenbewusstsein und Sicherheit; Deeskalationstraining, das am besten jährlich aufgefrischt wird
- Bauliche und technische Maßnahmen: gute Beschilderung; ausreichende Fluchtwege; überwachte Eingangstüren; Abgrenzung zwischen Empfangs- und Behandlungsbereich (bruchsicheres Glas); Versorgung der Wartenden mit Snacks, Getränken, Zeitschriften oder TV/WLAN
- Deeskalation durch Kommunikation: Wertschätzung und Verständnis gegenüber Patienten und deren Begleitung zeigen; ruhiges, selbstsicheres Auftreten
- Nachsorge: Sofort-Unterstützung für die Opfer von Gewalt durch geschulte Kollegen vorhalten, um akute Traumata abzuwenden; Konzepte für langfristige Nachsorge bereithalten
Nach Einschätzung der KGNW ist das Problem der zunehmenden Gewalt in medizinischen Einrichtungen inzwischen in der Politik angekommen. Das zeige das bundesweit einmalige ressort- und bereichsübergreifende Präventionsnetzwerk #sicherimDienst des Landes NRW zur Verbesserung der Gewaltprävention für den gesamten öffentlichen Dienst. Außerdem habe das NRW-Gesundheitsministerium einen Runden Tisch „Gemeinsam gegen Gewalt und Diskriminierung unseres Gesundheitspersonals“ eingerichtet.
HK