Vor genau 100 Jahren schloss sich im damaligen Deutschen Reich eine Gruppe von Ärztinnen und Zahnärztinnen zusammen, um sich beruflich gegenseitig zu unterstützen und gesundheitspolitische Frauenfragen zu bearbeiten. Am 25. Oktober 1924 gründeten sie den Bund Deutscher Ärztinnen (BDÄ), aus dem nach der nationalsozialistischen Diktatur der Deutsche Ärztinnenbund e.V. (DÄB) hervorging. Dessen amtierende Präsidentin Dr. Christiane Groß, MA, spricht über Veränderungen, Beständigkeiten und die weibliche Perspektive in der Medizin.
RÄ: Frau Dr. Groß, der Deutsche Ärztinnenbund feiert in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag. Wie haben sich im Laufe der Zeit die Themen verändert?
Groß: Wir feiern in diesem Jahr unseren 100. Gründungstag und haben uns ganz bewusst gegen das Wort Jubiläum entscheiden. Denn während der NS-Zeit, im Dezember 1936, wurde der Bund Deutscher Ärztinnen aufgelöst. Vorrangig ging und geht es uns immer um die Unterstützung der Ärztinnen im Beruf. Was sich im Laufe der Zeit verändert hat, ist der leichtere Zugang für Frauen zum ärztlichen Beruf. In den Anfängen haben nur sehr wenige Frauen überhaupt ein Medizinstudium absolviert. Schwierig geblieben ist dagegen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Da gibt es immer noch große Unterschiede zwischen den Geschlechtern, besonders in der Wissenschaft. Denn die wird meist on top zum Beruf gemacht, quasi in der Freizeit. Frauen mit Kindern können da einfach zeitlich nicht mit männlichen Kollegen mithalten.
RÄ: Was hat der DÄB für die Ärztinnen erreicht? Und was haben Sie sich für die Zukunft vorgenommen?
Groß: Schon meine Vorgängerinnen haben sich sehr dafür eingesetzt, dass Ärztinnen in der Weiterbildung vorankommen. In den 20 Jahren, die ich selbst als Delegierte an Deutschen Ärztetagen teilgenommen habe, gab es immer wieder Anträge von Ärztinnen, um in der Weiterbildung den weiblichen Blick einzubringen. Denn es macht etwas aus, ob ein Abschnitt in der Weiterbildung drei oder sechs Monate dauert oder ob die Mindestarbeitszeit pro Woche 50 Prozent betragen muss oder weniger sein darf. Eine weitere wichtige Errungenschaft sind die Regelungen zum Mutterschutz. Insbesondere unserer Ehrenpräsidentin Astrid Bühren war es ein Anliegen, es schwangeren Ärztinnen zu ermöglichen, möglichst lange weiterzuarbeiten. Es gab tatsächlich eine gesetzliche Neuregelung. Die ist aber leider zu einem Bumerang geworden. Unscharfe Formulierungen zur Haftung haben dazu geführt, dass in vielen Kliniken für schwangere Ärztinnen ein pauschales betriebliches Beschäftigungsverbot ausgesprochen wird, statt für jeden Arbeitsplatz eine individuelle Gefährdungsbeurteilung anzufertigen. An dieser Stelle sind wir als Ärztinnenbund gefragt. Wir haben das Thema zusammen mit weiteren Gremien diskutiert, unter anderem auch im Ausschuss Mutterschutz der Ärztekammer Nordrhein. Daraus ist in Kooperation mit anderen ärztlichen Verbänden der Antrag bei der AWMF zu einer Leitlinie entstanden, die Schwangeren eine Weiterbeschäftigung ermöglichen soll. Der Ärztinnenbund selbst vergibt ein Siegel an Abteilungen, die den Mutterschutz so umsetzen, dass Kolleginnen weiterarbeiten können.
RÄ: In den vergangenen Jahren gab es deutliche Fortschritte in der Gendermedizin. Wo sehen Sie noch Lücken?
Groß: Ein zentraler Aspekt unserer Arbeit liegt seit jeher in der Etablierung einer geschlechterspezifischen Medizin. 1981 veranstaltete der DÄB einen ersten Kongress zum Thema „Differenzierung von Mann und Frau aus medizinischer und psychologischer Sicht“. Mit dem Kongress „Schlagen Frauenherzen anders?“ gehörte der DÄB im Jahr 1999 zu den ersten, die das Thema Gendermedizin nach Deutschland brachten. Man sieht, das ist ein Thema, an dem wir seit über 40 Jahre arbeiten. Mich freut es persönlich sehr, dass die geschlechtersensible Medizin inzwischen in der breiten Gesellschaft angekommen ist. Viel zu lange wurde die Gendermedizin als „Frauenkram“ abgetan und nicht ernst genommen. Es ist allerdings auch weiterhin wichtig, dass die Forschung auf diesem Gebiet vorangetrieben wird, indem beispielsweise die Vergabe von Forschungsgeldern daran geknüpft wird, dass geschlechterspezifische Aspekte berücksichtigt werden. Und damit das passiert, benötigen wir auch in der Forschung den weiblichen Blick, benötigen wir mehr Frauen in Führungspositionen und auf den Lehrstühlen der Universitätskliniken, die immer noch meist von Männern besetzt sind.
RÄ: Dabei wird die Medizin immer weiblicher. Zwei Drittel der Studienanfänger im Fach Medizin sind derzeit Frauen. Schaut man sich die Zahl der Habilitationen an, liegt diese deutlich darunter. Es gibt zudem viel weniger Frauen in Spitzenpositionen. Warum ist das noch immer so?
Groß: Nach dem Examen sind die meisten Frauen Ende 20, dann folgt die Facharztweiterbildung, die häufig nicht im ersten Anlauf beendet wird, weil in dieser Zeit die Kinder kommen. In Elternzeit gehen maximal drei Prozent der Ärzte, also treten die Ärztinnen dann erst einmal beruflich kürzer. Im Anschluss an die Elternzeit arbeiten viele Ärztinnen in Teilzeit, verständlicherweise, denn warum muss eine Mutter mit kleinen Kindern 40 Stunden arbeiten, Überstunden leisten und dazu noch Nacht- und Wochenenddienste absolvieren? Ein weiterer Faktor ist die Kinderbetreuung, die sich schwer mit den beruflichen Anforderungen übereinbringen lässt und gerade bei unüblichen Arbeitszeiten in den Kliniken nicht funktioniert. Außerdem liegt die Care-Arbeit auch heute noch meist bei den Frauen.
RÄ: Sie selbst sind seit Ende der 1990er-Jahre berufspolitisch aktiv. Sie starteten damals in der Kreisstelle Wuppertal der Ärztekammer Nordrhein und waren dort eine von nur wenigen Frauen. Auch heute noch, knapp 30 Jahre später, sind Ärztinnen in den Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung weniger vertreten. Warum?
Groß: Ich meine schon, dass sich die Situation ein wenig verbessert hat. Das sieht man am neuen, 16 Mitglieder zählenden Vorstand der Ärztekammer Nordrhein, dem immerhin auch wieder sechs Frauen angehören, und an einem Frauenanteil von 37 Prozent in der Kammerversammlung. Bei den jungen Frauen, die sich berufspolitisch engagieren, muss man allerdings immer davon ausgehen, dass sie ihr Engagement während der Familienphase erst einmal wieder aufgeben. Die Gremienstrukturen sind einfach noch sehr männlich geprägt, Sitzungen dauern bis in den späten Abend, die Betreuung der Kinder ist oftmals nicht gewährleistet. Das muss man erst einmal aus- und durchhalten können. Tatsache ist, dass Spitzenposten für Ärztinnen noch immer schwierig zu erreichen sind. Nur zwei von 17 Landesärztekammern haben zum Beispiel eine Präsidentin. Um hier Wege zu ebnen, hat der DÄB sein vorher auf die wissenschaftliche Karriere ausgerichtetes, seit 2001 existierendes Mentoringprogramm, das sogenannte MentorinnenNetzwerk, unter anderem auch für Fragestellungen zur Gremienarbeit geöffnet.
RÄ: Was raten Sie jungen Ärztinnen?
Groß: Wenn es um die fachärztliche Weiterbildung geht, rate ich jungen Ärztinnen dringend, nicht nur auf solche Fachbereiche zu schauen, die in irgendeiner Form auf den ersten Blick familienfreundlicher zu sein scheinen. Es zahlt sich aus, mit mehr Risikobereitschaft an die Gestaltung der eigenen beruflichen Zukunft heranzugehen. Das machen die meisten Männer auch so. Weniger Selbstkritik und mehr Selbstvertrauen – das wäre mein Rat. Außerdem wünsche ich mir, dass sich mehr junge Ärztinnen in den Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung einsetzen, sonst bleibt der Medizin der weibliche Blick auch in Zukunft verborgen.
Das Interview führte Vassiliki Temme.